Tradition und Frische

Orchester – Klang – Hammer

Tradition und Frische

The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024

Das Musikfest Berlin entfaltet eine Vielfalt an erstklassigen, internationalen Orchestern von der kontrabassdunklen Tradition bis zur jugendlichen Frische und Offenheit. Die Vielfalt der Orchester wurde gleich in der ersten Woche hörbar mit The Cleveland Orchestra unter Franz Welser-Möst, der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher und der Filarmonica della Scala mit Riccardo Chailly am Pult. Genau darin besteht die Faszination des Musikfestes Berlin der Berliner Festspiele und der Berliner Philharmoniker. Als das jüngste der Big Five blickt das Cleveland Orchestra auf eine Geschichte seit 1918 zurück. 1778 wurde das Teatro alla Scala eröffnet. KC Symphony wurde 1982 gegründet.

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Die amerikanischen Orchester befinden sich vor dem eigentlichen Saisonbeginn auf Europatournee und die Filarmonica della Scala kam als Vorprogramm zu Italien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse 2024 nach Berlin. Mit ihren Konzertprogrammen schärfen die Orchester ihr Profil, so dass The Cleveland aus Ohio mit der Deutschen Erstaufführung der Composer in Residence 2022/2023 Allison Loggins-Hall mit der Frage Can You See? aufwartete. Die folgende Kombination aus John Adams Guide to Strange Places mit Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 2 stellte den Klang des Orchesters unter Beweis. KC Symphony setzte mit Charles Ives Decoration Day und The Fourth of July sowie George Gershwins Rhapsody in Blue bemerkenswerte Akzente, um im zweiten Teil Aaron Coplands Symphony No. 3 folgen zu lassen. Die Filamonica della Scalla akzentuierte ihr Programm mit Luciano Berios Quatre dédicaces und Wolfang Rihms Dis-Kontur buchstäblich mit einem riesigen Holzhammer, um im zweiten Teil in Maurice Ravels Daphnis et Chloé zu schwelgen.

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Die in New York lebende Allison Loggins-Hall gehört aktuell wohl zu den engagiertesten Komponistinnen der USA. Der Titel ihres 2023 für das Cleveland Orchestra abermals umgearbeiteten und erweiterten Ensemblestückes zitiert den Anfang der Nationalhymne The Star Spangled Banner, in der es heißt: „O! say can you see[1]/by the dawn’s early light,/What so proudly we hailed/at the twilight’s last gleaming,/Whose broad stripes and bright stars/through the perilous fight,/O’er the ramparts we watched,/were so gallantly streaming?” Doch die zitierte Eingangsfrage wird nicht zuletzt als Reaktion auf die „Phase rassistischer Polizeigewalt der Nach-Corona-Zeit“[2] vertieft, indem sie die Komponistin nach eigenen Worten weitertreibt: „Sind die Dinge klar? Sind sie konzentriert? Tun wir das, von dem wir sagen, dass wir es tun sollen, das, worum es uns geht? Ist das wahr?“[3] Die melodisch emphatische Hymne als Selbstvergewisserung nationaler Identität, wenn man z.B. nur einmal an ihre Zelebrierung beim jährlichen Super Bowl denkt, wird insofern an ihrem Anspruch gemessen.

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Die Flöte spielt in der melodischen, doch zerklüfteten Komposition schon deshalb eine entscheidende Rolle, weil Allison Loggins-Hall selbst Flötistin ist und sie ihre Komposition von daher denkt. Mit dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst erhält Can you see? durch die Streicher eine besonders wolkige Umgebung, die von der Komponistin als Unschärfe gedacht wird. Diese Unschärfe könnte man auch das mit der Hymne imaginierte Amerika nennen. Loggins-Hall erweitert die Spielpraktiken nicht nur für die Streicher, wenn diese in kreisende Bewegungen auf den Saiten gleichsam als in eine ständige Wiederholung verfallen. Doch es kommt durch unterschiedlichen Druck und Schlagzeug auch zu Verzerrungen. Im Soloinstrument der Flöte lassen sich durch erweiterte Spieltechniken Klänge der amerikanischen indigenen Bevölkerung hören, die sonst in der philharmonischen Musik verdrängt werden. Auf diese Weise geht Allison Loggins-Hall in ihrer mehrfach erweiterten und überarbeiteten Komposition vom Modus der Frage aus, um dadurch an eben jene zu erinnern, die weder gesehen noch gehört werden.

©  Fabian Schellhorn

Die Deutsche Erstaufführung von Can you see? in Anwesenheit der Komponistin fand stürmischen Beifall. Denn gerade die emphatische Frage nach dem Sichtbaren des von Francis Scott Key im September 1814 formulierten, sich reimenden Gedichtes knüpft an das Sichtbarkeitsparadigma an, das sich um 1800 durchsetzt. Im Original hat die Frage eine rhetorische Funktion, von Allison Loggins-Hall wird sie zur entscheidenden Frage in der amerikanischen Demokratie und Gesellschaft zugespitzt. Das Versprechen der Hymne als Sieg nicht zuletzt über die Dämmerung und Dunkelheit entspricht dem Freiheitsnarrativ der Aufklärung. Doch hörbar werden nun jene in der Flöte, die als indigene Bevölkerung und farbige Sklaven unsichtbar bleiben sollten. Der dezidiert europäische Klang nicht nur des Orchesters, vielmehr noch das Visuelle des Klangzauberers Franz Welser-Möst im Frack mit weißer Fliege und Taktstock stand optisch ein wenig im Widerspruch zur Komposition.

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John Adams Guide to Strange Places vermochte mit seinen Anklängen an die Minimal Music, besonders zu faszinieren. Mit dem paradoxen Reiseführer zu seltsamen Orten wird bereits ein geheimnisvoller Modus in der Musik angeschlagen. Adams hat die Entstehungsgeschichte als die Erfahrung, einen Reiseführer in der Provence zu nutzen, formuliert. In derartigen Reiseführern wird jeder Ort genau mit unterschiedlichen Wissensformaten beschrieben. Über die Landschaft legt sich ein Netz des Wissens aus Geologie, Zoologie, Botanik, Archäologie[4] und Geschichte, Vermessungen und Verkartungen: „in this location there was a strange geological formation; in another unusual climactic occurrences; somewhere else a horrific historical event had taken place or perhaps a miracle had been witnessed“.[5] Wie lässt sich das Reiseführerwissen in Musik transformieren bzw. befragen? Denn die Landschafts- und Witterungsbeschreibung hat in der Musik eine lange Tradition beispielsweise in der Pastorale, in der quasi eine idyllische Landschaft klanglich gebaut wird oder in Richard Strauss‘ hoch ironischer Alpensinfonie.[6]

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Das Reiseführerwissen wird von John Adams in Guide to Strange Places befragt und hinterfragt. Die unterschiedlichen Wissensbereiche werden, wie Adams sagt, mit besonderen Symbolen versehen im Reiseführer. Strange Places oder „paysages insolites“ entziehen sich als das Ungewöhnliche oder Seltsame der Einordnung, die sich als schon gewusst auffassen ließe. „In a sense, all of my pieces are travel pieces, often through paysages insolites – it’s the way I experience musical form”[7], sagt der Komponist. Insofern sind es geheimnisvolle, sich im Klandestinen vorantastende Reisen des Komponierens. Es werden weniger die philharmonischen Modi der Landschaftsbeschreibungen erfüllt, als vielmehr mit der minimalistischen Musik entfaltet und eben auch im Seltsamen belassen. Martin Wilkening hat in seiner Einführung mit dem Titel „Geprägt von Krisenangst“ vorgeschlagen, dass John Adams eine „Folge vorbeiziehender Bilder in einer Art Road-Movie-Ästhetik“ komponiert habe.[8] Hörbar wurden für mich rhythmische Phasen wie ein perpetuum mobile oder das Schwungrad einer Dampfmaschine, zugleich kommt der ganz große Orchesterappart des Cleveland Orchestra zum Einsatz. Gar an einen Totentanz oder Dantes Inferno lässt sich hörend denken.

©  Fabian Schellhorn

Die Sinfonie Nr. 2 d-Moll op. 40 von Sergej Prokofjew aus der Zeit von September 1924 bis Mai 1925 ermöglichte dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst, die ganze Klangentfaltung vorzuführen. Mit den Sätzen Allegro ben articolato und Tema con variazioni beschreitet Prokofjew neue Wege der sinfonischen Komposition, indem er an Beethovens Klaviersonate 32 in c-Moll op. 111 anknüpft. Die schöne Artikulation lässt sich als eine starke durch zahlreiche Dissonanzen bedenken. Indem der russische Komponist im Pariser Exil von einem Eisen-und-Stahl-Charakter der Sinfonie sprach, spielt er nicht nur auf einen Mythos der industriellen Moderne an, vielmehr noch schwingen die Mythen der Männlichkeit und des starken Subjekts mit, wie mit der entscheidenden Funktion der Klaviersonate für Thomas Manns späteren Roman Doktor Faustus zu bedenken wäre.[9] Insbesondere Beethovens 5. Variation im 2. Satz kann als ein wichtiger Bruch in der Sonatenkomposition wahrgenommen werden. Franz Welser-Möst lässt das Marschthema fast ins Brutale ausführen, um dann wieder die Violinen versöhnliche Töne anstimmen zu lassen.

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Das Konzert der Kansas City Symphony unter der Leitung von Matthias Pintscher wird ganz gewiss als eines der überraschendsten Orchester nicht nur der Musikfest-Ausgabe 2024 in Erinnerung bleiben. Nicht nur die Kombination von zwei kurzen Kompositionen von Charles Ives, dessen 150. Geburtstag sich am 20. Oktober jährt, George Gershwins Rhapsody in Blue, die vor 100 Jahren uraufgeführt wurde, und Aaron Coplands Symphony No. 3, vielmehr noch die Zugabe von Count Basies Li’l Darling, das 1958 auf dem Album The Atomic Mr. Basie veröffentlicht wurde, sprengte den üblichen Konzertrahmen. Insbesondere an der Interpretation der Rhapsody in Blue, diesem amerikanischen Konzertkracher mit internationalen Folgen[10], durch den jungen Pianisten und Komponisten Conrad Tao ließ an die Widersprüchlichkeit der Großstadthymne denken. Denn in seinem Solo phrasiert Tao und setzt Pausen, die an Einsamkeit im Furor der Großstadt denken lassen. Das hatte der Berichterstatter so noch nicht gehört.

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Die beiden kurzen Stücke Decoration Day und The Fourth of July von Charles Ives verarbeiten die Kindheitserinnerungen an die beiden amerikanischen Feiertage. Es sind insofern biographische Kompositionen in einer für Charles Ives ebenso eigenwilligen wie einzigartigen Weise. Einerseits erinnert den Berichterstatter die Eröffnungssequenz von Decoration Day als Feiertag am letzten Montag im Mai an Central Parc in the Dark[11], andererseits wird ein militärisches Trompetensignal hörbar. Das Heraufsteigen der Erinnerung und die damit verknüpften Gefühle werden von Ives gleichsam als Thema eingeführt. Brian Coffill hat die Komposition von 1912 stärker in den Kontext von Charles Ives‘ Bewunderung für seinen Vater gestellt, der in einer Militärkapelle eher glücklos spielte: „Despite this checkered service history, Charlie seemingly saw George as a hero, not a deserter, a sentiment he carried into adulthood.“[12] Der auch Memorial Day genannte Decoration Day wird auf diese zu einem mehrdeutigen Tag der Auszeichnung.

©  Fabian Schellhorn

The Fourth of July als Erinnerungstag an die Unabhängigkeitserklärung bietet ein musikalisches Panorama des Volksfestes. Mit wiederholten Dissonanzen wird ein Tumult, wenn nicht gar Chaos hörbar. Ein Glöckchen und Schüsse sind zu hören. Eine allgemeine Aufregung und Freude der Massen wird von Dissonanzen durchbrochen, was Ives Kritik eintrug. Doch bereits in einer Notiz des Komponisten an seinen Kopisten bestand er auf die vermeintlich falschen Noten bzw. Töne: „Please don’t try to make things nice! All the wrong notes are right. […] I want it that way.”[13] Der Independence Day als amerikanische Selbstvergewisserung sollte also in ca. 6 Minuten nicht nur schön (nice) klingen. Vielmehr wird die Massenveranstaltung in ihrer Widersprüchlichkeit vorgeführt, was mit Kindheitserinnerungen und einem Erfahrungswissen von 1912 in New York bedacht werden kann. Matthias Pintscher, der selbst in New York lebt, machte die Widersprüchlichkeit mit Genauigkeit und großer Empathie für die überwiegend jungen Orchestermitglieder der KC Symphony akzentuiert wahrnehmbar. Überhaupt konnte man den Eindruck gewinnen, dass der neue Musikdirektor und Chefdirigent sein Orchester oder umgekehrt gefunden hat.

©  Fabian Schellhorn

Die Musiker und der Dirigent haben offenbar ihre Freude am gemeinsamen Musizieren. Dieser Eindruck setzte sich auch bei der Rhapsody in Blue und der Symphony No. 3 von Aaron Copland durch. Wobei Aaron Copland Ives als ein Produkt Amerikas schätzte: „Only America could have produced a Charles Ives.“ Die Symphony No. 3 fällt dann auch 1946 (revidiert 1966) als eine amerikanische Mythologie der Erhabenheit, Größe, des Optimismus und der Euphorie aus. Einem amerikanischen Mythos wie er heute beispielsweise mit Allison Loggins-Halls Can you see? schwerlich denkbar ist und nur noch befragt werden kann. Im Finale baute Copland seine Fanfare for the Common Man ein, die 1942 als Beitrag „to the war effort“ entstanden war. Coplands Symphonie ist mit dem Wissen, auf der richtigen Seite im Weltkrieg gegen den Faschismus zu stehen, komponiert und instrumentiert. – Die USA waren am 11. Dezember 1941 nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour in den 2. Weltkrieg gegen die faschistischen Machthaber in Deutschland, Japan und Italien eingetreten. Die Symphony No. 3 ist insofern dezidiert politisch gerahmt.

©  Fabian Schellhorn

In der Programm-Konstellation von Charles Ives Decoration Day und den „wrong notes“ von The Fourth of July mit der nicht nur krachenden Rhapsody in Blue im systemischen wie ideologischen Wettstreit zwischen den USA unter Richard Nixon und der Volkrepublik China unter Mao Zedong[14] bekam die Third Symphony mit ihrem „grand manner“ etwas Bedenkliches. Die ganz große Orchestermaschine mit 4 Hörnern, 4 Trompeten, 2 Posaunen und Bassposaune, etc. 2 Harfen, Celesta, Glockenspiel und Klavier, aber nicht ganz so zahlreich besetzten, fetten Streichern wie im Cleveland Orchestra lässt sich wohl als eine große Komposition wiederentdecken. Doch sie ist eben auch mit dem Krieg und dem Anspruch einer Dominanz als Weltmacht verknüpft, die nicht mehr ganz so euphorisch rezipiert werden kann. Sie lässt einen durchaus fragwürdigen Amerika-Mythos erklingen, der durch desaströse Politiken gelitten hat. Es gibt kaum einen Mythos, der sich stärker hält als der, dass die Musik unpolitisch sei.

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Der Auftritt der Filarmonia della Scala als Vorspiel zur Ehrengast-Rolle Italiens auf der Frankfurter Buchmesse darf durchaus mit gemischten Gefühlen wahrgenommen werden, weil der parteilose, italienische Kulturminister Gennaro Sangiuliano der Regierung der Postfaschistin Giorgia Meloni angehört. Darüber lässt sich schwerlich hinwegdenken, wenn das Flaggschiff der italienischen Philharmonie-Orchester mit seinem hochdekorierten Chefdirigenten Riccardo Chailly beim Musikfest auftritt. Schließlich lässt sich Giorgia Meloni eher mit Björn Höcke als mit Jörg Meuthen vergleichen. Dennoch oder gerade deshalb fiel das Konzert nicht identitär italienisch aus, worauf man nach der Fraktion der rechtspopulistischen, nationalistischen und rechtsextremen Parteien im Europäischen Parlament unter der neuen Führung von Jordan Bardella des Rassemblement National oder zuvor Marco Zanni der Lega aus Italien gefasst sein müsste. Faschistische Politiker*innen (mit Sternchen und immer mit Sternchen) wollen nicht nur einen irgendwie abstrakten Diskurs verändern, sondern zielen auf die Sprache und die Musik. 

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Mit Luciano Berio, dessen 100. Geburtstag im nächsten Jahr zu feiern sein wird und der sich im 2. Weltkrieg einer antifaschistischen Widerstandsgruppe angeschlossen haben soll[15], Wolfgang Rihm und Maurice Ravel wurde zumindest ein Bogen zwischen Berio und dem kürzlich verstorbenen Rihm geschlagen. Denn 1969 habe dieser bei den Donaueschinger Musiktagen als 17jähriger im Publikum gesessen und die Sinfonia von Luciano Berio gehört. Wolfgang Rihm erinnerte sich später, „etwas Brillantes, im Grunde aber ,Unerlaubtes‘ gehört zu haben“.[16] Es waren nicht zuletzt in der Musik revolutionäre Zeiten, die das Unerlaubte der Grenzüberschreitungen praktizierten. Mit den postum zusammengestellten Quatre dédicaces von Luciano Berio, die zwischen 1978 und 1989 entstanden zwischen 60 und 112 Takten lang sind, kultiviert er einen überaus reichen Orchesterklang, mit dem Orchester zwischen dem Rotterdams Philharmonischen Orkest und dem Dallas Symphony Orchestra durch Kompositionsaufträge brillieren konnten. Die Filarmonica della Scala stellte also mit Fanfara, Entrata, Festum, Encore ihr musikalisches Können unter Beweis.

©  Giovanni Haennin (Unten links der Holzhammer im Einsatz)

Besonderes Furor machte der riesige Holzhammer in Wolfgang Rihms Dis-Kontur. Höchstwahrscheinlich 4 jüngere Italienerinnen zückten im Block E Rechts ihre Smartphones, um den mehrfachen Einsatz des Holzhammers zu Filmen. Der Holzhammer mit einem nicht minder konstruierten Holzblock und einer kreisrunden Öffnung nach vorne bzw. dessen dumpfer Ton kann für vieles stehen. Seit Gustav Mahlers 6. Sinfonie von 1904 wird in den Sinfonieorchestern mit dem Hammer und am Klang des Hammers gearbeitet[17]. Gustav Mahler schwankte in seiner Entscheidung, wie oft der Hammer am Schluss zu hören sein sollte. Wolfgang Rihm lässt in Dis-Kontur die Musik aus dem Hammerschlag entstehen. Heute kann man selbst in der Philharmonie Berlin nicht sicher sein, ob eher der visuelle oder der akustische Effekt des Holzhammers das Publikum fasziniert. Rihm setzt den „große(n) Hammer“ bestimmt 5 bis 6 Mal ein. Der Berichterstatter hat nicht rechtzeitig mitgezählt.

Holzhammer mit Unterbau

Der Titel Dis-Kontur von 1974 mit einer Revision von 1984 ist ein bedenkenswerter Neologismus, der in eine Zeit fällt, in der der Begriff Kontur seine höchste Gebrauchsfrequenz hatte.[18] Für den 22jährigen Wolfgang Rihm dürfte mit der Vorsilbe dis- wie nicht zuletzt in Disharmonie als Verneinung eine Gegenposition zum Modewort Kontur eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig wird mit dem Dis in der Musik an die Halbtonart z.B. im dis-Moll oder dis-Dur erinnert[19], womit Dis-Kontur mehrdeutig wird. Mehrdeutigkeit generiert indessen eine Unschärfe im Unterschied zur Kontur. Rihm knüpft zweifellos an den Hammerschlag in der 6. Sinfonie Mahlers an, wobei eben auch jener permanent diskutiert und interpretiert wird. Der Hammerschlag, so ließe sich mit Rihms Dis-Kontur formulieren, muss keinesfalls ein Ende der Musik bedeuten. Oder reagiert Mahlers Hammerschlag in der 6. Sinfonie nicht schon auf die allzu zuversichtlichen Hammerschläge in Richard Wagners Ring des Nibelungen? Sie bringen vielmehr höchste industrielle Produktion in die Musik, was seit dem sogenannten Jahrhundertring mit Pierre Boulez klar ist.[20]

© Giovanni Haennin

Die schon im 18. Jahrhundert bei Jean-Philippe Rameau in der Suite des vents verwendete Windmaschine als Musikinstrument[21], die maschinell Wind hörbar machen soll, feiert in Maurice Ravels Daphnis et Chloé 1911 im Nocturne ihren großen Auftritt. Mit der Windmaschine und aus der Akustik des Luftstroms entsteht die nicht zuletzt erotische Hitze der Liebenden. Die Sinfonischen Fragmente Suite Nr. 1 (1911) und Nr. 2 (1912) entfalten sich weniger als eine Natur-Maschine als vielmehr eine Lust-Maschine für die Ballets russes von Sergei Diaghilew im Nocturne, Interlude, Danse guerrière und Lever du jour, Pantomine, Danse générale. Die beiden Sinfonischen Fragmente werden eher selten aufgeführt. Riccardo Chailly lässt die Filarmonica della Scalla in den impressionistischen Farben schwelgen, was sich auf das Publikum übertrug und zu einem Beifallssturm führte.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis 18. September 2024


[1] Unterstreichung Torsten Flüh.

[2] Martin Wilkening: Can You see? In: Abendprogramm 26.8.2024: The Cleveland Orchestra. Berlin: Berliner Festspiele 2024, S. 8.

[3] Allison Loggins-Hall zitiert nach ebenda.

[4] Zur auditiven Archäologie siehe auch die “Ortsbestimmungen“ in: Torsten Flüh:  Auditive Kraftfelder. Zu Ann Cleare und Enno Poppe mit dem Ensemble Musikfabrik beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. September 2021.

[5] John Adams: Guide to Strange Places: Notes.

[6] Zur Alpensinfonie siehe: Torsten Flüh: Vom Sonnengesang, der Trauermusik und dem Alpengipfel ironisch. Zur Uraufführung des Cantico delle Creature durch das Ensemble Modern Orchestra, dem Boston Symphony Orchestra und dem Bayrischen Staatsorchester beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. September 2023.

[7] John Adams: Guide … [wie Anm. 5].

[8] Martin Wilkening: Can … [wie Anm. 2] S. 10.

[9] Siehe: Torsten Flüh: Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll op. 111. Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. September 2020.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Zerspringende Identitäten. Ming Wongs Rhapsody in Yellow im Haus der Berliner Festspiele. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2023.

[11] Zu Central Parc in the Dark siehe: Torsten Flüh: Brasiliens Mythen der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. August 2024.

[12] Brian Coffill: Charles Ives’s Decoration Day: A Conductor’s Guide. In: SAGE open March 29, 2019.

[13] Charles Ives zitiert nach Olaf Wilhelmer: Aus vielem eines, aus einem vieles. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 28.8.2024. Berlin 2024, S. 9.

[14] Torsten Flüh: Zerspringende … [wie Anm. 10]

[15] Musik der Jahrhunderte: Luciano Berio.

[16] Zitiert nach: Lotte Thaler: Fest der Farben. In: Berliner Festspiele: Abendprogramm 29.8.2024 Filarmonica della Scala. Berlin, 2024, S. 8.

[17] Siehe zur Frage wie oft der Hammerschlag eingesetzt werden soll: Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.

[18] Siehe Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Kontur.

[19] Ebenda: dis-.

[20] Zur Frage der Industrialisierung bei Richard Wagner siehe auch: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Silvesterstimmung. Das Silvesterkonzert 2012 der Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle mit Cecilia Bartoli. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Januar 2013.

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