Stich für Stich

Bild – Zusammen – Text

Stich für Stich

Zu Kerstin Drechsels Ausstellung Penatenhimmel in der Zwinger Galerie

Penaten, klar. Bei dem Wort steigt ein Duft in die Nase. Eine etwas zähe Masse wird auf die Kinderhand mit dem roten Fleck aufgetragen. Alles wird wieder gut. Das In-den-Arm-genommen-werden schließt sich sogleich an die Kindheitserinnerung an. Eine der Ehefrauen der Erfinder der heilenden Creme soll auf den Namen der römischen Hausgeister als Marke gekommen sein. Das Versprechen der Marke evoziert eine transgenerationelle Sorge um den Haushalt als Ort der Familie. Seit 1986 gehört die Familienheilcreme zum amerikanischen Weltkonzern Johnson & Johnson. Doch, wo sich um Familie, Haushalt und Gesundheit gesorgt wird, drohen Gefahren. Mit der Kombination von Penaten und Himmel steigert Kerstin Drechsel noch das Versprechen häuslicher Sicherheit.

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Der Penatenhimmel, der sogleich mit dem Kreuzstich großformatig auf weißem Hintergrund in der Zwinger Galerie ins Auge springt, täuscht. Das Zuhause wird gerade während der Europameisterschaft im Männerfußball für viele Frauen zuhause wieder gefährlich werden. Stimmungen und der Konsum von Alkohol wie Substanzen, wird sexualisierte Gewalt freisetzen. Daran erinnerte eine Forscherin auf der Veranstaltung EM der Vielfalt? – Wie vielfältig ist der deutsche Fußball 2024? in der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die multimediale Großerzählung Fußball, vor allem Männerfußball, wird stark mit den Feldern Heim, Gemeinschaft und Geschlecht verkoppelt. Kerstin Drechsel erinnert mit dem Kreuzstich in Rot an Stickbilder aus der guten, alten Zeit. Sinnsprüche wurden von Frauen auf Handtücher, Kissen oder Topflappen, gestickt, als könnten sie vor Katastrophen und häuslicher Gewalt schützen.

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Die überdimensionalen Stickbilder von Kerstin Drechsel kombinieren Texte mit der Visualität der weiblichen Tätigkeit des Stickens. Frauen stickten meist überlieferte Bitten oft mit christlichem Hintergrund wie „Herr segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus.“ Oder: „Göttlicher Haussegen. Wo Glaube, da Liebe, Wo Liebe, da Frieden, Wo Friede, da Segen, Wo Segen, da Gott, Wo Gott, keine Noth.“ Die Segensprüche, die seit 1900 eine immer größere Verbreitung fanden und gestickt wurden, konnten zwar gelegentlich abgewandelt werden, aber der Modus der Wiederholung versprach zugleich ihre Wirksamkeit. Die Wirksamkeit der Sprüche wurde gleichsam durch ihre große Verbreitung belegt. Zuerst sehen die Besucher*innen den visuellen Kreuzstich mit seinen Verweisen. Dann beginnen sie, in den Bildern zu lesen.

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Als bildende Künstlerin geht es Drechsel um das Visuelle. Doch das Visuelle lässt sich kaum, von dem Wunsch zu lesen, abkoppeln. Es lässt sich die Frage formulieren, ob das Visuelle immer schon von der Wahrnehmung durchstochen wird. Über das Technische der Entstehung gibt Kerstin Drechsel freimütig Auskunft. Was für Menschen, die den Kreuzstich kennen, das visuelle Wissen vom Sticken sofort aufruft, erweist sich als Siebdruck mit einer digital generierten Kreuzstichschrift. Die Texte wurden in eine Folie gestanzt und mit roter Farbe auf weißen Untergrund einmal oder mehrfach übertragen. Die durch die Druckpraxis eröffnete Serialität und Wiederholbarkeit korrespondiert mit der alten Praxis des Stickens, um sie zugleich zu transformieren. Das visuelle Wissen vom Kleinen, gar Winzigen der Stickpraxis wird plötzlich groß. Riesengroß.

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Obwohl die Kreuzstichschrift das Lesen zugleich erschwert, fällt es doch schwer, nicht zu lesen. Die visuelle Struktur der gestickten Texte, unterscheidet sich von den häufig visuellen Gliederungen und Rahmungen der gestickten Segenssprüche. Sie wurden visuelle geordnet, wie sie zugleich eine Ordnung mit Reimen oder Wiederholungen – „Wo Glaube, da Liebe, Wo Liebe, da …“ – versprachen. Die trügerische Ordnung des Kreuzstichs, der immer auch an das christliche Andreaskreuz in Form des X erinnern konnte, wird in Kerstin Drechsels Stickbildern brüchig. Wo Ordnung auf den ersten Blick versprochen wird, zeigen sich auf den zweiten Brüche und kalkulierte Druckfehler verlaufender Farbe.
„XII

EINTAUCHEN
ICH BIN NUR STIMME
TÖNE KOMMEN
OHNE DASS ICH’S WAHRNEHME
KÖRPERLOS SEIN
UNTEN KITZELT WAS
ODER JEMAND

HI HI“

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Die Nummerierung – „XII“ – der großformatigen Schriftbilder erinnert an Seitenzahlen einer linearen Erzählung, die sich nicht sogleich aus einer gelesenen Passage erschließt. Sollen die Besucher*innen jetzt die „I“ suchen, um mit der Geschichte von vorne zu beginnen? Die Bildhaftigkeit der Tafeln arbeitet eher gegen eine lineares Lesen der Erzählung. Das zurückgenommene, womöglich gar angenehme Kichern des „HI HI“ verwirrt. Verbalisiert bzw. artikuliert werden Körperpartien des Unterleibs und insofern des Geschlechts. Offen bleibt, ob dort „was“ oder „jemand“ „kitzelt“. Penatenhimmel stellt zugleich die Frage eines intimen Zusammenseins und des sexuellen Missbrauchs in Gemeinschaften bis in die Familie. Die Familie/Gemeinschaft ist in den letzten Jahrzehnten stärker als Ort des Missbrauchs debattiert worden. Damit wird zugleich der Bereich der Aufarbeitung: Sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen sexueller Emanzipation angespielt[1], wie ihn die Ausstellung im Schwulen Museum im 2023 thematisiert hat.

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Stich für Stich befragt Drechsel mit der Kreuzstichschrift die Ambiguität von Gemeinschaft und Familie, der Intimität des Lagerfeuers und Herdes wie dem generationellen Übergriff und Kitzel. Familienähnliche Gemeinschaften wie Kirchen- und Glaubensgemeinden, Pfadfindergruppen, Jugendclubs etc. sind durch Erzählungen und Aussagen in den letzten Jahrzehnten in vielen Gesellschaften und Kulturen thematisiert worden. Häufig geschieht die ritualisierte Initiation, die Aufnahme in eine Gemeinschaft durch Formen des sexuellen Missbrauchs, während viele in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollen. Drechsel formuliert in ihren visuellen Arrangements Erzählungen vom Ich:
„XIII

WARUM              QUETSCHT          DACHTE
WEINE                MICH                  ENDLICH
ICH                    NUR                    EIN
WENN                 AUS

ANDERE
SICH

STREITEN

                     ZUHAUSE“

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Die visuell arrangierten Texte auf den Tafeln müssen allererst zusammengelesen werden. Es geht nicht immer linear auf den Tafeln zu. Plötzlich ergibt sich erst aus den senkrechten Spalten eine Formulierung. Drechsel setzt das Arrangement der Buchstaben in grafischer Vielfalt mehrfach als Strategie ein, um das Lesen und Verstehen zu problematisieren. Sie geht allerdings nicht so weit, dass sie die Buchstaben lose auf einer Tafel verstreut. Die dreizehnte und letzte Tafel endet mit „ZUHAUSE“. Doch das Zuhause ist zutiefst ambivalent. Der Berichterstatter fühlt sich an Heinrich von Kleists Text Der Griffel Gottes in den Berliner Abendblättern erinnert. Nach einem Blitzeinschlag müssen die übriggebliebenen Buchstaben einer Grabplatte aus Eisen „zusammen gelesen“ werden.
„Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: s i e i s t g e r i c h t e t ! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.“[2] 

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Lassen sich die grafischen Arrangements der Texte als Literatur betrachten? Die Arrangements erfordern unterschiedliche Lesebewegungen. Sowohl das Zusammenlesen kleinster Einheiten, der Graphen, wie die Verräumlichung der griechisch γραφή graphḗ „Schrift“ als auch die spielerische Drehung auf Tafel „XIV“, wo die Schrift schräg auf und ab aufgetragen worden ist – „G SITZT MIT EINER RIESEN SCHOKOLA DE IM ZIMMER H KOMMT REIN“ –, oszilliert das Grafische zwischen Bild und Schrift. Doch sind die Graphen erst einmal zusammengelesen, brechen präzise Formulierungen hervor, die Gemeinschaft und Missbrauch lesbar werden lassen. Der Putzauftrag kippt mit dem durch Brandflecken ruinierten Teppich. Was ist denn da passiert? Da wurde wohl auf dem Teppich gefeiert?!
„PUTZEN BIS DIE HAUSWIRT SCHAFTS LEITERIN KOMMT NUR DORT PUTZEN WO SIE KONTROLL IERT WIR HÜTE N EIN HAUS WIR RUIN IEREN DEN TEPPICH MIT BRANDFL  ECKEN“

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Die Elastizität und Brüchigkeit der Texte zugleich, aber auch ihre Genauigkeit und Kürze macht die Tafeln literarisch. Erst kontrolliert die Hauswirtschaftsleiterin das Putzen, dann soll ihre Aufsicht umgangen werden und schließlich wurde auf dem Teppich heftig, auch körperlich, gefeiert, könnte eine Leseversion ergeben. Zugleich wird die Brüchigkeit in der Anordnung der Graphen visualisiert. Die Textschnipsel als kleine Form des Literarischen erzählen weniger und zugleich mehr als Kleists Griffel Gottes. Sie rangieren in der Nähe jener Aphorismen, altgriechisch ἀφορίζειν aphorizein als Abgrenzungen, wie sie als Klappentexte auf öffentlichen Toiletten in Schulen und Universitäten etc. zu finden sind. In der Nähe einer Kryptographie sollen sie Informationen übermitteln, die nur bestimmte, ein gemeinschaftliches Wissen Teilende lesen können.

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In der Mitte des Raumes hängt ein Strickobjekt in blauweißem Garn. Das achteckige Objekt hat acht ärmelartige Öffnungen. Die Besucher*innen könnten an dem geradewegs aufgespannten Objekt ihre Hände in den Schlauch stecken. Dann käme es zu einer taktilen Begegnung der Hände im Verborgenen. Das Strickobjekt lädt dazu ein, mit den Händen – „KITZELT WAS“ –, eine Gemeinschaft zu stiften. Das Strickobjekt, ein abstrakter Handwärmer, die kleinformatigen Betonobjekte und Acrylbilder treten in eine Korrespondenz mit den Tafeln und der Kreuzstichschrift. Die Formen der Betonobjekte bleiben amorph. Die Acrylbilder greifen beispielsweise mit einer Putzmaschine Begriffe aus den Texten – „DORT PUTZEN WO“ – auf, um sie auf ganz andere Weise zu visualisieren.

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Die Ausstellung Penatenhimmel wird zu einem Gespinst aus verschiedenen Medien – Schrift, Graph, Strick, Stich, Farben etc. –, um dem Zusammensein und dem Haushalt wie dem Zuhause auf die Schliche zu kommen. Nicht jede Verknüpfungsmöglichkeit erschließt sich auf Anhieb. Aber „PUTZEN“ in Kreuzstichschrift und Großraum-Putzmaschine in Acryl, wie sie in Hallen oder auf dem Bahnhof eingesetzt wird, korrespondieren dann doch plötzlich. Was wie zusammen wirkt, entsteht vielleicht nur aus einem Moment. Doch Kerstin Drechsel hat immer wieder die Thematik des Zusammen[3] und der Ordnungen oder Un- und Umordnung interessiert. Das geschieht nicht zuletzt in Hinblick auf Queerness und queere Praktiken zur Bildung von Communities. Ihre Installation Dritte Haut 2022 in der Zwitschermaschine spielte sich in einem Zwischenbereich von ärztlicher Notversorgung, Urlaub und Missbrauch ab.[4] Ihre Wärmespeichersysteme kreisen 2012 nicht um ein Heizungsgesetz, sondern queere Praktiken des Zusammenseins.[5]     

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Die bunten eher kleinformatigen Gemälde spielen sich zwischen Graphen und Gestalten ab, zwischen Bild und Schrift. Ein einzelner Arm. Ein Körper in einem Schlafsack oder Kokon. Auf einem anderen Bild sind Hosen in der feministischen Farbe Lila verteilt, als tanzten sie oder seien gerade ausgezogen worden. Die Bilder erinnern an Traumbilder. Die Hosen korrespondieren mit dem Text von den „KONFIRMANDENFREIZEITEN“.

„AUF KONFIRMANDENFREIZEITEN
BRINGT GE JUNGS ZUM WEINEN
TRÖSTUNGEN DURCH HAND IN DER HOSE
SEIT WIR ES WISSEN VERSUCHEN WIR
ALLES ZU VERHINDERN

IMMER WIEDER ROTLICHT

STOP“

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Die Text und Bilder entfalten ein soziales Geflecht aus queerem Begehren, dem Ich und dem Wir sowie Formen des Wissens. Paradoxerweise leuchtet nicht gleich polizeiliches Blaulicht auf, sondern „ROTLICHT“ als Alarmsignal. Doch zugleich bleibt das Rotlicht mehrdeutig und könnte auch an ein Rotlichtviertel erinnern. Mit der Kombination christlicher Zitate wie „EIN FESTE BURG“ mit „SAND AUF SAND“ geben die Tafel einen Wink, dass die Gemeinschaft versprechende Burg, wie man sagt, auf Sand gebaut ist. Versprechen, die insbesondere im Horizont des Kreuzstichs wiederholt wurden und werden, erodieren. Es geht darum sich nicht nur in den Penatenhimmel einzulesen, vielmehr noch in seine kaum aufzulösende Ambiguität einzufühlen.

Torsten Flüh

Kerstin Drechsel
Penatenhimmel
bis 15. Juni 2024
ZWINGER Galerie
Mansteinstraße 5
10783 Berlin
Dienstag bis Samstag 12 – 18 Uhr


[1] Siehe Torsten Flüh: Gewalt revolutionärer Emanzipation. Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Oktober 2023.

[2] Heinrich von Kleist: Der Griffel Gottes. In: Berliner Abendblätter. 5. October 1810.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Subversive Bilderzählschränke. Zu Kerstin Drechsels Installation E-Werk in der ZWINGER Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 2, 2018 18:32.

[4] Torsten Flüh: Wissensverarbeitung mit Konjunktiv. Über das Pandemiegeschehen und die Nachträglichkeit des Wissens sowie Kerstin Drechsels visuelle Frauenforschung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Februar 2022.

[5] Torsten Flüh: Gegen und zusammen. Galerie September mischt Mütter und den Kotti auf. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. November 2013.

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