Kraft des Gedenkens

Gedenken – Trauer – Lied

Kraft des Gedenkens

Zum Gedenkkonzert Quand on n’a que l’amour und der Aktion Kinder brauchen Hoffnung

Am 7. April 2022 veranstaltete der dänische Tenor Mads Elung-Jensen mit den Goldvögeln in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein Gedenkkonzert. Geplant war dieses Konzert wohl zunächst zum Gedenken an alle Menschen, die wegen der Pandemie Leid und Trauer erfahren. Doch nun wurde es ebenso den Menschen gewidmet, die wegen des Krieges in der Ukraine Leid und Trauer erleben. Das Gedenken der Menschen in Berlin und fast überall auf der Welt wird auf einmal durchkreuzt vor allem von zwei unterschiedlichen Beweggründen: Pandemie und Krieg. Die ökumenische Karfreitagsprozession von der evangelischen Kirche St. Marien am 15. April kreiste mit ihren Lesungen um das Thema Einsamkeit, weil die Covid-19-Pandemie viele Menschen mit Isolation und Einsamkeit konfrontiert hat.

Eine Aktion kann auch eine Form des Gedenkens sein. Noch bis zum 19. April findet an der Auferstehungskirche in der Friedensstraße von Berlin-Friedrichshain die Aktion „Kinder brauchen Hoffnung“ statt. Sie wurde am 12. April mit einem Friedensgebet und einem Infostand in der Kirche mit Edeltraudt Pohl und Christine Cyrus eröffnet. Am Ostersamstag findet um 20:00 Uhr eine Lesung von Gedichten aus der Anthologie deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina Die verlorene Harfe auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch statt. Vor der Kirche sind Kinderwagen und Kinderspielzeug installiert, die in den ukrainischen Farben eines blauen und eines gelben Streifens angemalt sind. Zu den Toten und vom Tode bedrohten Menschen in der Ukraine gehören Babys, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Schon am 21. März meldete die Ukraine 115 getötete Kinder.

Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm kennt das Gedenken als ein „verstärktes denken“.[1] Ansonsten wird es vielfältig und variabel gebraucht. Es lässt sich schwer festlegen. Das Gedenken überschneidet sich mit dem Denken und wurde häufig auch mit dem Gedächtnis gleichgesetzt. Ohne weiteres gibt es in Deutschland eine Gedenkkultur der Gedenktag und der Gedenkstätten. Insofern die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche schon dem Namen nach der Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. gewidmet wurde, wird an ihr gar ein sich überlagerndes Gedenken praktiziert. Denn der vom Zweiten Weltkrieg ruinierte Turm der alten Kirche wurde zum Gedenken an den Krieg und seiner Opfer stehen gelassen, was sich bautechnisch als äußerst prekär erwiesen hat, weil es wohl kaum etwas Schwierigeres und Aufwendigeres gibt, als Ruinen zum Gedenken zu erhalten. In Europa und insbesondere in Deutschland hat sich seit 1945 eine weltweit einzigartige Gedenk- wie Erinnerungskultur entwickelt. Aber niemals zuvor wurde das Gedenken an Krieg und Pandemie derart überlagert wie jetzt.

Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ist ein besonders prominenter Gedenkort. Nicht nur das dynastische Gedenken an den Gründer des Deutschen Kaiserreichs, Wilhelm I., wurde hier seit dem 1. September 1895 gestaltet. In der Gedenkhalle des alten Turms des heutigen Ensembles wurde in Mosaiken das Gedenken an den verstorbenen Kaiser wie die Reichsgründung in Bildern visualisiert. Oder auch andersherum: Die prunkvollen Bilder sollten das Gedächtnis erzeugen. Die Turmruine wurde nach 1945 zum Mahnmal gegen den Krieg weltweit und insbesondere gegen den Angriffskrieg des Deutschen Reiches auf Polen 1938 und die Sowjetunion 1941. Die Gedenkhalle wurde so umgewidmet mit dem Nagelkreuz von Coventry als Geschenk. Denn dort hatte am 14. November 1940 die deutsche Luftwaffe die Kathedrale bombardiert und zerstört. Doch am 19. Dezember 2016 kam es auf dem Breitscheidplatz zum Anschlag des islamistischen Terroristen Anis Amri mit einem Sattelzug. 13 Personen starben auf dem Weihnachtsmarkt. Seit 2017 gibt es das Mahnmal der Riss auf den Treppen zur Kirche.   

Die Einzigartigkeit des Gedenkens in diesen Tagen und Wochen muss erst einmal realisiert werden. Am 18. April 2021 fast genau vor einem Jahr fand in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und anderen Orten in Berlin das zentrale „Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie“ statt.[2] Obwohl seither ungleich mehr Menschen an Sars-Cov-2 verstorben sind – gestern, Gründonnerstag, wurden 309 Todesfälle gemeldet –, wird ihrer aller Voraussicht nach nicht extra auf höchster politischer Ebene gedacht werden. Das Gedenken geschieht entweder zu früh oder spät. Es ist allerdings wohl niemals zu spät, einem oder mehrerer Menschen zu gedenken. Doch diese Art des unzeitgemäßen Gedenkens ließ sich gar im Gedenkkonzert der Goldvögel spüren. Mads Elung-Jensen hatte mehrere Texte während der Pandemie und des Lockdowns geschrieben, die von Matt Long in eine eindrückliche, nuancenreiche Musiksprache eingebettet wurden.

Die Goldvögel – Rolando Guy, Mads Elung-Jensen, Daniel Wendler, Matt Long – kennen sich mit der musikalischen Gestaltung von Trauer aus. Von Juli bis September 2021 veranstalteten sie fünf Konzerte zu Trost und Trauer in der Kapelle des Friedhofs der Friedrichwerderschen Gemeinde an der Bergmannstraße in Kreuzberg. Trauer hat für Mads Elung-Jensen etwas mit dem Erzählen von Trennung, Verlust und Leere, aber auch mit Liebe zu tun. But Broken Lovely ist mir Matt Longs Komposition zu einer Art Melodram geworden. Gefühle werden um das Wort Liebe und den Verlust durchgespielt. Der Liederzyklus Das rote Haus mit Der innere Saboteur, Das schwarze Loch, Die alte Wunde und Leg Deinen Panzer weg verarbeitet die Gedanken und Emotionen, die durch den ersten Lockdown im März 2020 und den weiteren Verlauf der Pandemie ausgelöst wurden. Sie mögen bei jeder und jedem anders gewesen sein, aber die Überraschung und die Härte des Ereignisses sind bislang selten formuliert worden. Jetzt, quasi zu Beginn des dritten Jahrs der Pandemie kam Das rote Haus zu Uraufführung in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Suizide, die vom Lockdown ausgelöst wurden oder als Corona-Suizide öffentlich verhandelt worden sind. Die Rede von den Corona-Suiziden vom Mai 2020 ist fast völlig vergessen.[3] Wer will sich heute noch daran erinnern, dass Suizide im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie zu einem Argument für Corona-Gegner wurden?! Es gab derartige Zuspitzungen, die allerdings nie in größerer Quantität bestätigt werden konnten, während im dritten Pandemie-Jahr mit Impfstoff und besseren Behandlungsmöglichkeiten über Wochen täglich zwischen 200 und 350 Menschen in einer hochentwickelten Informationsgesellschaft sterben. 2020 ging es um einzelne Suizide. Mads Elung-Jensen formuliert in Der innere Saboteur wie die Ausnahmesituation des Lockdowns einen Menschen mit seinen Abgründen konfrontiert. Das erinnert an den titelgebenden Chansonier Jacques Brel, der eine Art Diskurs der abgründigen Liebe wie in Quand on n’a que l’amour oder Ne me quitte pas entwickelte, die zum Programm gehörten. Das „feine() rote() Haus“, das sich ein Mensch „selbst gebaut“ hat, erweist sich als brüchig. Er muss sich mit seinen Zwängen auseinandersetzen.

Der Liederzyklus Das rote Haus besticht in seiner musikalischen Ausgestaltung durch die Stimmungswechsel in einer fast an Franz Schubert erinnernden Härte. Ein Du wird mit sich und seinen Verhaltensweisen konfrontiert. Das funktioniert nicht nur hinsichtlich der Erfahrungen in einer Pandemie, vielmehr gewinnt Das schwarze Loch eine allgemeinere Bedeutung der Selbstbefragung. Der Lockdown wird eher zum Auslöser der Zweifel an der Lebenspraxis und der Selbstbefragung ebenso wie der Ermutigung zur Verhaltensänderung, als dass er deren Ursache wäre. „Liebes Kind, du schaffst es doch.“ Traumatologisch wird Die alte Wunde angesprochen. Das „verstärkte Denken“ findet als ein rasendes Drehen im Kopf statt. Da erinnert viel an Schubert, den der Liedsänger kennt. Traum- wie Traumabearbeitung mit Schubert, sozusagen:
„Im Kopf da dreht’s
lass es nun raufen,
so wie es will
an diesem Tag.“[4]

Die Erfahrung des Lockdowns als radikale Isolation mehr als die der Pandemie – oder gehören sie traumatologisch doch zusammen? – setzen bei Elung-Jensen einen kathartischen Prozess in Gang. Leg deinen Panzer weg pendelt zwischen Zuversicht, Angst und neuem Leichtsinn. Vielleicht war das im Sommer 2021 nach der ersten Impfung schon das Gefühl, dass die Pandemie beherrschbar werden könnte und frau/man sich nun wieder unter Menschen begeben könnte und sollte. Der zweite Lockdown im Frühjahr 2021, in dem zum zweiten Mal das Osterfest nun wegen besonders hoher Infektionszahlen fast gänzlich ausfallen musste, hatte dazu geführt, dass sich viele Menschen einen emotionalen „Panzer“ zulegten. Das war nicht einfach, sich nach der wiederholten Isolation zu öffnen.
„Du sitzt so still und
schaust hinaus,
du kennst dich gar nicht mehr,
kein Rauschen schrill
kommt in dein Haus,
wüst scheint es grad und leer.“

Die Goldvögel haben eine queere Gedenkkultur mit ihrem Konzert entwickelt. Denn die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche liegt nicht nur unweit der Schöneberger Schwulenszene. Rolando Guy, Daniel Wendler, Mads Elung-Jensen und Matt Long haben während der Pandemie auch für sie sehr untypische Formen der Isolation erlebt. Hinzukommt, dass sie als Schwule wie z.B. Roland Schernikau hinlängliche Erfahrungen mit der AIDS-Pandemie, Isolation und Ausbruchspraktiken gemacht haben. Doch bei vielen Ähnlichkeiten verlief diese gänzlich anders mit weitaus weniger Infektionsfällen. Dennoch führte sie ebenso zur Isolation für die meisten Infizierten, die zunächst von Peter Gauweiler und Horst Seehofer in Bayern in Camps isoliert werden sollten. Zwischen Jacques Brel, Francesco Paolo, vielen anderen und Edith Piaf haben sie eine queere Form des Gedenkens aus der Szene heraus entwickelt. Großartige Performer mit Stimmmaterial und Eigeninitiative. Zum Gedenkkonzert steuerte Erling Viktor minimalistische Kathedralen in schwarzer Tusche bei.

An der Auferstehungskirche nimmt das Gedenken andere Formen an. Hier steht das Entsetzen über die Bedrohung der Kinder während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Mittelpunkt. Kinder brauchen Hoffnung erinnert sowohl an die getöteten Kinder als auch an die besondere Hilfsbedürftigkeit von Kindern, die in einem Krieg traumatisiert werden. Klaus-Dieter Ehmke hatte spontan die Idee, Kinderwagen, Koffer und Kinderspielzeug zu sammeln, mit blauen und gelben Streifen zu versehen und vor der Kirche an mehreren Orten zu platzieren.

Ad hoc ist ein Programm für die Karwoche und Ostern entstanden, das seinesgleichen sucht. Gründonnerstag haben bereits Geflüchtete aus Kiew über ihre Flucht berichtet. Für Ostersamstag ist nachmittags Basteln von Friedenstauben und das Anmalen von Ostereiern mit Kindern geplant. Am Ostersonntag hat die Organistin Martina Kürschner mit der jungen Anne Macauley ein Konzert um ein Kinderlied herum vorbereitet.

Frohe Ostertage

Torsten Flüh

Kinder brauchen Hoffnung
Auferstehungskirche

17.04. Nach dem Ostergottesdienst behängen Kinder die Objekte mit Friedenstauben
            20:00 – 21:00 Uhr Musik in der Kirche:
            Konzert um ein Kinderlied herum
            Anne Macauley und Martina Kürschner
18.04.  20:00 -21:00 Uhr Musik in der Kirche: „Verwandlung“
19.04.  18:00 Uhr Friedensgebet mit Pfarrerin Marlén Reinke
            20:00 – 21:00 Uhr DANKE-Schön-Essen als Finissage für alle.

Die Goldvögel

Künftige Termine des Quartetts unter: Mads Elung-Jensen


[1] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm: GEDENKEN.

[2] Siehe Bundesrat: 18.04.2021: Gedenken für die Opfer in der Corona-Pandemie. (online)

[3] Torsten Flüh: Wissen um den Tod. Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2020.

[4] Matt Long/Mads Elung-Jensen: Das rote Haus. Zitiert nach Programmzettel vom 7. April 2022.

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