Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in c-Moll op. 111

Sonate – Männlichkeit – Roman

Igor Levits intensive Sonate Nr. 32 in C-Moll  op. 111

Eine Nachlese zu Igor Levits Spiel der 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven beim Musikfest Berlin und Thomas Manns Roman Doktor Faustus

Am 20. September setzte sich Igor Levit gegen 21:00 Uhr in der Philharmonie Berlin wieder an den Flügel, um die legendäre, letzte Sonate von Ludwig van Beethoven als Abschluss seiner Konzertreihe zu spielen. Nachdem am Nachmittag des Vortages das 7. Konzert mit einer ebenso hinreißend wie verstörend interpretierten Sonate Nr. 29 geendet war, brachte das Spiel des Opus 111 am Sonntagabend das Publikum fast zum Rasen. Standing Ovations. Bravo-Rufe. Der Pianist und Dirigent Daniel Barenboim beehrte Igor Levit mit seiner Anwesenheit. Er hat die Sonaten Nr. 29 bis 32 ebenfalls interpretiert und 2005 eine Meisterklasse zu den Beethoven Sonaten z.B. mit Lang Lang in der Symphony Hall Chicago unterrichtet, worauf zurückzukommen sein wird.

Opus 111 ist nicht nur eine der meistgespielten Sonaten Beethovens, vielmehr wurde ihre Besprechung und Verarbeitung in Thomas Manns Montageroman Doktor Faustus deswegen legendär, weil sie eine entscheidende Funktion für die deutsche Musikentwicklung nach Theodor W. Adorno einnimmt. Über Musik, über Beethovens Sonaten zu schreiben, stellt seit jeher eine Herausforderung dar. Wie lassen sich Formulierungen finden für eine Sprache ohne Worte? Opus 111 wurde nicht nur mehrfach vom Komponisten selbst umgewidmet, es wurde zugleich zum die Form der Sonate sprengenden wie sie bestätigenden, widersprüchlichen Werk. Thomas Mann schreibt dem Opus 111 mit Adornos Beratung bis zum Plagiat für „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde“ eine paradoxe Funktion betreffs der Musik des 20. Jahrhunderts zu.

Ereignet sich mit der Sonate Nr. 29 B-Dur op. 106 ein provokanter Bruch hinsichtlich der Sonatenform[1], so nimmt die 32 diesen teilweise zurück, um ihn auf eine andere Weise zu wenden, die bis in Färbungen des Jazz oder des Impressionismus bei Igor Levit angespielt wird. Levits Spiel wie Manns Montage sollen einmal genauer besprochen werden, denn vor allem die letztere ist vielfach im musikästhetischen, historischen wie literarischen Kontext international diskutiert worden.[2] Vor allem das fünfzigjährige Jubiläum der Veröffentlichung von Doktor Faustus 1997 hat zu einer internationalen Diskussion geführt, bei der der Bezug zur Musik, zu Beethoven und dem Opus 111 eine wichtige Rolle spielte.[3] Auf der dOCUMENTA (13) hat Enrique Vila-Matas das Verhältnis von Thomas Mann und Theodor W. Adorno in einer Installation, An Exchange / Ein Austausch, mit einer Einführung thematisiert.[4]

Zu den bedenkenswerten Umständen der Genese von Thomas Manns Kultur- und Komponisten- ebenso wie Musikroman gehört, dass der Autor zwar mit Die Entstehung des Doktor Faustus – Roman eines Romans schon zwei Jahre nach dessen Erscheinen 1949 diesen selbst zum Gegenstand einer erläuternden Erzählung macht. Allerdings hat er Opus 111 von keinem anderen Pianisten als Theodor W. Adorno gespielt gehört. Stattdessen hörte er „Opus 132“ mit dem Busch-Quartett und machte Beethovens Streichquartett Nr. 15 in a-Moll zum Begleiter seiner Arbeit am Doktor Faustus. Er referenziert für den Roman auf dieses „höchste() Werk“. Der Roman wird dadurch nicht nur thematisch zu einem Beethoven-Roman, vielmehr legt Mann nah, dass sein Roman zu lesen sei wie das Streichquartett zu hören. Unterdessen wird die ironische Kritik an Beethovens Sonate Nr. 32 auf diese Weise im Nachhinein zurückgenommen.
„Eine herrliche >Matinee< (nachmittags) des Busch-Quartetts in Town Hall sei nicht vergessen, – mit vollendeter Wiedergabe von Beethovens opus 132, diesem höchsten Werk, das ich, wie durch Fügung, in den Jahren des >Faustus< ein übers andere Mal, gewiß fünfmal, zu hören bekommen habe.“[5]   

Ludwig van Beethovens Klaviersonaten geben einen Wink auf den Mythos der Männlichkeit in der Musik. Das wird so eher selten formuliert, wird allerdings von Eleonore Büning im Interview mit Igor Levit en passant angesprochen, ohne dafür eine nähere Expertise auszustellen. Sie bleibt bei einer modischen Anknüpfung stecken. Wie männlich Beethoven selbst war und ob beispielsweise die harten Brüche in den Sonaten bisweilen einem spezifisch männlichen Stimmungswechsel geschuldet sind, mag einmal dahingestellt bleiben. Das Prometheische und Titantische als Form der Männlichkeit tauchen allerdings um 1800 beispielsweise mit der Musik für das Ballett Die Geschöpfe des Prometheus von 1801 auf. Beethoven wird schließlich um 1900 als Komponist des Männlichen imaginiert und dargestellt. Das wird u.a. mit dem Beethoven-Haydn-Mozart-Denkmal von Rudolf und Wolfgang Siemering von 1904 im Berliner Tiergarten am Venus-Bassin deutlich. Mozart und Hadyn sind symbolistische, tanzende Frauengestalten in einer Art Neo-Renaissance als Musen beigegeben, während Beethoven mit einem nackten, jungen, kämpfenden Mann an einem Felsen assoziiert wird.[6] Die zeitgenössische Musikgeschichte mit Mozart und Haydn z. B. hinsichtlich der Sonaten als Lehrer und Vorläufer wird mit dem „männlichen“ Beethoven als Gipfel dargestellt.

Thomas Manns ebenso historischer wie geschlechtlich nahezu misogyner Teufelspakt im Roman stellt die Virilität Adrian Leverkühns aus, indem sie mit der Infektion der um 1900 noch unbehandelbaren Lues oder Syphillis gebrochen wird. Dass der „deutsche“ Komponist Leverkühn sich bei einer Prostituierten mit dem Bakterium Treponema pallidum bzw. der Syphilis von griechisch σῦς sŷs, deutsch ‚Schwein‘, φιλεῖν phileîn, deutsch ‚lieben‘ oder „Franzosenkrankheit“ infiziert, spricht einerseits für seine Manneskraft, andererseits führt diese als Geschlechtskrankheit mit Spätfolgen zur Isolation und Verlust der Sexualität und Zeugungskraft. Insofern wird Leverkühns Virilität von einer gewerblichen Frau bestätigt und zerstört. Doch schon in Wendell Kretzschmars Vortrag darüber „»warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe«“[7] spielt ein männlich geprägtes Verhältnis von „Größe und Tod“, das biographisch konstruiert wird, eine Rolle. Der „herrischste() Subjektivismus“ wird durchaus als ein spezifisch männlicher formuliert:
„Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche, das doch schon die Überhöhung einer zum Gipfel geführten Tradition gewesen sei, sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.“[8]   

Zum Mythos der Männlichkeit in der Musik gehört mit dem herrischen „Subjektivismus“ insofern immer ein Regelverstoß, wie er sich an der mythologischen Figur des Prometheus durchaus seit Johann Wolfgang Goethes gleichnamigem Hymnus mit der Eingangsformulierung „Bedecke Deinen Himmel Zeus“ artikuliert.[9] Überschreitung und Befreiung werden seit den 1770er Jahren zur Signatur von Männlichkeit und Moderne sowie der Männlichkeit in der Moderne. Obwohl wir über Beethoven heute viel wissen, galt Thomas Mann zu Beginn der 1940er „Schindlers Beethoven-Biographie, ein geistig spießbürgerliches, aber anekdotisch anregendes und sachlich lehrreiches Buch“ viel.[10] Bis auf Adornos Expertise übernimmt Mann viel von Anton Schindler, der heute in der Beethoven-Forschung als eher suspekt angesehen wird.[11] Zum Komplex der Männlichkeit gehört bei Beethoven auch der von Schindler aufgefundene, versteckte „Brief“ an die Unsterbliche Geliebte, ohne dass die Beethoven-Forschung den Geliebten des Mannes recht habhaft geworden ist.[12] Ulrich Grothus hat darauf hingewiesen, dass Doktor Faustus insbesondere hinsichtlich der Kompositionen Adrian Leverkühns ein Roman sei, „that makes you believe to hear music that actually has never been composed“.[13]  

Doch die Sonate Nr. 32 opus 111 wurde komponiert und wird vielfach gespielt, während Mann sie mit Adornos Hilfe auf eine außergewöhnliche Weise hörbar machte. Bei Erscheinen des Romans konnte allerdings noch niemand die „drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote“ mit „»Wie-sengrund«“ als „Dankbarkeitsdemonstration“[14] lesen und hören. Offenbar bereitete Manns montierende Verarbeitung der Musikbeschreibungen seiner Nachbarn im kalifornischen Exil, Schönberg und Adorno, derart Probleme, dass er die Komplexität und Dankbarkeit mit der Romanergänzung explizieren und demonstrieren musste. Seither wird für die Leser*innen des Doktor Faustus bei jeder Aufführung des Opus 111 „Wie-sengrund“ hörbar, was einerseits stören und andererseits als Musikwissen begrüßt werden könnte.
„Das Arietta-Thema, zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint, ist ja sogleich auf dem Plan und spricht sich in sechzehn Takten aus, auf ein Motiv reduzierbar, das am Schluß seiner ersten Hälfte, einem kurzen, seelenvollen Rufe gleich, hervortritt, – drei Töne nur, eine Achtel-, eine Sechzehntel- und eine punktierte Viertelnote, nicht anders skandiert als etwa: »Him-melsblau« oder: »Lie-besleid« oder: »Leb‘-mir wohl« oder: »Der-maleinst« oder: »Wie-sengrund«, – und das ist alles.“[15]  

Der Berichterstatter hatte vor der Sonate Nr. 32 op. 111 gespielt von Igor Levit den Roman noch nicht gelesen. Überhaupt erfuhr er erst nach dem Konzert von dem Doktor Faustus als Beethoven-Roman. Dabei hatte er sehr wohl gehört, dass Beethoven in dieser Komposition gleichsam sein Sonatenschaffen reflektiert. Auf paradoxe Weise wird das Kompositionsschema der Sonate bestätigt und zugleich in den Variationen des zweiten Satzes aufgelöst. Thomas Mann macht den zweiten Satz – „Arietta. Adagio molto semplice e cantabile – L’Istesso tempo“ – indessen zu einem dramatischen Ereignis, bei dem man sich nicht ganz sicher sein kann, ob er die Musik hörbar macht oder sie übertönend verschwinden lässt.
„…; und Kretzschmar spielte uns mit arbeitenden Händen all diese ungeheueren Wandlungen, indem er aufs heftigste mitsang: »Dim-dada«, und laut hineinredete: »Die Trillerketten!« schrie er. »Die Fiorituren und Kadenzen! Hören Sie die stehengelassene Konvention? Da – wird – die Sprache – nicht mehr von der Floskel – gereinigt, sondern die Floskel – vom Schein – ihrer subjektiven – Beherrschtheit – der Schein – der Kunst wird abgeworfen – zuletzt – wirft immer die Kunst – den Schein der Kunst ab. Dim – dada! Bitte zu hören, wie hier – die Melodie vom Fugengewicht – der Akkorde überwogen wird! Sie wird statisch, sie wird monoton – zweimal d, dreimal d hintereinander – die Akkorde machen es – Dim – dada! Bitte achtzugeben, was hier passiert –«
Es war außerordentlich schwer, zugleich auf sein Geschrei und auf die hochverwickelte Musik zu hören, in die er es mischte.“[16]

Serenus Zeitbloms ironische Erzählung vom kommentierten Vorspiel Kretzschmars erinnert an die Praxis der Meisterklasse, wie sie Daniel Barenboim im Januar 2007 in Chicago zu den Sonaten abgehalten hat. Barenboim sitzt an einem zweiten Flügel neben den Meisterschülern am Flügel, spielt die betreffenden Takte und gibt lautmalerisch Anweisungen, wie die Stelle, die Takte zu spielen seien. Die Meisterklasse ist vom BBC aufgezeichnet worden und auf YouTube verfügbar. Barenboim insistiert mehrfach darauf, wie genau Beethovens Tempi und Wechsel zu verstehen sind. Allerdings kommentiert er die Passagen weniger, hinsichtlich ihrer musikhistorischen Bedeutung, wie es Adorno zu einem musiktheoretischen Verfahren in Bezug auf die „Zwölftontechnik“ von Arnold Schönberg gemacht hat. Thomas Manns literarische Transformation zieht indessen mit der Figur des stotternden Kretzschmar von vorneherein eine ironische Ebene ein.

Doktor Faustus erzählt Musik als Roman bis an die Grenze ihrer Hörbarkeit. Ob sich der Erzählerfreund Serenus Zeitblom mit dem Autor Thomas Mann identifizieren lässt, ja, wie weit Thomas Mann überhaupt noch die Rolle des Romanautors als „Gott“ einer Welt einzunehmen gelingt, kann einmal offen bleiben. Allerdings gibt Zeitbloms Kommentar zur Szene einer, sagen wir, restlos kommentierten und verstandenen Musik einen Umschlag zu bedenken. Das Verständnis macht es nämlich auch schwer, „die hochverwickelte Musik zu hören“. Gehört wird dann nämlich nur noch das Verstandene. Die Beherrschung der Musik wird auch zu einer „herrischen Subjektivität“. Was bei Mann/Adorno in ihrer Beethoven-Imagination durchschimmert, lässt sich als ein Männlichkeitsphantasma beschreiben. In ihrer ekstatischen Beschreibung verstehen sie mehr oder gar anderes, als Beethoven möglicherweise von seiner Musik verstanden hat. Arnold Schönberg und Theodor W. Adorno beschuldigten jedenfalls Thomas Mann des Plagiats. Im XXII. Kapitel zieht Adrian Leverkühn als Komponist diese Art des Hörens in Zweifel:
„… Wenn du unter >Hören< die genaue Realisierung der Mittel im einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternsystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesestzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man’s nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.“ (S. 257)

Ulrich Grothus‘ Faszination durch den Roman, der eine Musik beim Lesen zu hören glauben macht, die niemals komponiert und gespielt worden ist, gibt einen Wink auf das Verhältnis von Musik, Musikliteratur, Komposition und Musikbesprechung. – Thomas Mann benutzt für seine Erzählerfigur Zeitblom übrigens recht häufig den Begriff besprechen wie z.B. in der Wendung „Ich werde an ihrem Ort die Tatsache besprechen“. (S. 542) – Zeitblom bespricht die Musik. Mit allen der Musikbesprechung zur Verfügung stehenden Ebenen und Praktiken bespricht Zeitblom z.B. das Violinenkonzert für Rudi Schwerdtfeger im achtunddreißigsten Kapitel, das zu einem Publikumserfolg Adrian Leverkühns wird. Die literarischen Praktiken der Musikbesprechung, anders gesagt, der Musikkritik, die Zeitblom nicht üben will, macht in gewisser Weise eine Geistermusik lesbar und hörbar. Es wird hörbar, was nie gehört wurde! Thomas Mann gelingt durch eine Montage eine Musik aus Worten, was durchaus unheimlich ist. Gleichzeitig wird damit die Musikbesprechung ironisiert, weil sie von etwas spricht, was die Musik notwendiger Weise verfehlen muss. Von der Praxis der Widmung über die Tonalitäten bis zum Beethoven-Vergleich werden alle Praktiken quasi umgekehrt eingesetzt. Besprochen wird nicht, was gehört wurde, sondern was gehört werden soll:
„Es ist ein Besonderes mit dem Stück: In drei Sätzen geschrieben, führt es kein Vorzeichen, doch sind, wenn ich mich so ausdrücken darf, drei Tonalitäten darin eingebaut, B-Dur, C-Dur und D-Dur, – von denen, wie der Musiker sieht, das D-Dur eine Art von Dominante zweiten Grades, das B-Dur eine Subdominante bildet, während das C-Dur die genaue Mitte hält. (…) … – eine deutliche Reminiszenz an das Rezitativ der Primgeige im letzten Satz von Beethovens a-Moll-Quartett, – nur daß auf die großartige Phrase dort etwas anderes folgt als eine melodische Festivität, in der die Parodie des Hinreißenden ganz ernst gemeinte und darum irgendwie beschämend wirkende Leidenschaft wird.“ (S. 543-544)

Der Schriftsteller Enrique Villa-Matas hat sich in einer Einführung zu seiner Installation mit Briefen und Manuskripten von Thomas Mann und Theodor W. Adorno mit der Frage des Plagiats in der Literatur beschäftigt. Dabei ist zu bedenken, dass die Praxis der Montage in der Musik wie der Literatur immer schon den Verdacht des Plagiats weckt. Wem gehört welcher Gedanke? Wo setzt beim Zitat und der Montage die Eigenleistung ein? Beethoven hat beispielsweise in seinen Kompositionen Passagen über Genre hinaus neu montiert. Der „modernen“ künstlerischen Praxis der Montage ist immer schon das Problem des Plagiats eingeschrieben. Das gilt für die Musik immer wieder wie für die Literatur. Arnold Schönberg sah vor allem im Kapitel XXII des Doktor Faustus ein Plagiat seiner Theorie der Zwölftontechnik. Doch er verstarb, bevor sein Vorwurf weiter diskutiert werden konnte. Villa-Matas sieht da Problem indessen im Autorphantasma bei Thomas Mann.
„Manchmal denke ich über diese alte Geschichte nach, diese Kontroverse über das zulässige aber zumindest bedenkliche Plagiat, und dann glaube ich zu bemerken, dass Thomas Mann selbst, obwohl er vorhatte, in seinem Roman den Moment aufzuspüren, in dem der Bruch zwischen Kunst und Schönheit aufkeimte (oder besser das Ender der ganz großen Kunst mit dem Einbrechen des populären Geschmacks oder auch, was allerdings das Gleiche wäre, das Ende einer Welt, die zu Gott und nicht zum Menschen schaut), durch die schmerzliche Kampfperiode mit seinem kalifornischen Nachbarn Schönberg in perfekter Weise das Ende jener allmächtigen Romanschriftsteller veranschaulicht – und zwar im wirklichen Leben, was das Erstaunlichste daran ist –, die in einer schon vergangenen Zeit glaubten, dass ihnen alles gehörte, wie Gott, sogar die von ihren Dienern zusammengefassten Partituren des Nachbarn.“[17]

Der „allmächtige Romanschriftsteller“, der über Musik schreibt, als komponiere er seinen Roman nach musikalischen Praktiken, scheitert in dem Maße wie die Montage selbst zum „Roman eines Romans“ wird. Mit dem „Roman eines Romans“ überschreibt Thomas Mann die Montage zum autobiographischen Roman. Zeitblom indessen reflektiert bereits in der Eröffnungssequenz des ersten Kapitels seine Erzählung als „Symphonie“, deren „Thema (Adrian nicht, T.F.) vorzeitig auftreten – hätte es höchstens auf eine fein versteckte und kaum schon greifbare Art von ferne sich anmelden lassen“.[18] Der Musikwissenschaftler Hermann Danuser nennt die „Erzählte Musik“ in Doktor Faustus eine „fiktive musikalische Poetik“, die hinsichtlich Beethovens an eine „Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert“ anknüpft.[19] Er kritisiert damit auch Manns Musikwissen, das dieser im „Roman eines Romans“ z.B. wie bei Anton Schindlers Beethoven-Biographie als Erzählmaterial nutzt.
„Beethoven – im Roman als vereinsamter Kranker gezeichnet, dessen Hang zu exzessiver „Grübelei und Spekulation“ einen Vorschein Leverkühns bildet – wird als Kronzeuge dafür beschworen, daß musikalische Komposition im Akt der Genese auf der ihr scheinbar fremden Ebene des Wortes angesiedelt sein kann. Ein verbal geleiteter musikalischer Schaffensprozeß erlaubt es, zwischen dem Gegenstand – der Musikpoetik – und seiner Fiktion – dem Prosatext des Romans – eine Kompatibilität herzustellen, die ein Gefühl des quid pro quo, davon also, daß die fiktive Poetik ihren eigentlichen Gegenstand verfehlte, gar nicht erst aufkommen läßt. Musikhistorisch wird damit eine Linie zur Ideenkomposition, Programmmusik, Weltanschauungsmusik, einer Literarisierung des Komponierens im 19. Jahrhundert seit Beethoven gezogen“.[20]

Dafür dass Beethoven einer der bekanntesten, wohl auch häufig gespielten und äußerst umtriebigen Komponisten seiner Zeit in Wien war, wo er ein wie auch immer funktionierendes Netzwerk aus Auftraggeber*innen und Adressat*innen mit Widmungen unterhielt – die Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111 ist Erzherzog Rudolph von Österreich gewidmet -, wird ihm eine merkwürdige Vereinsamung zugeschrieben. Die Erzählweisen widersprechen einander von Anfang an. Hört man die 32 Sonaten in der Interpretation von Igor Levit, kann die „Grübelei“ zum Ausprobieren neuer Formen, zu einer Lust am Experiment werden. Verrät „Dim-dada“ diese Lust nicht auf etwas unschöne Weise? Es kommt auf die Intensität an. Igor Levit spielte den zweiten Satz der Sonate Nr. 30 E-Dur am 20. September nicht „Prestissimo“. Natürlich könnte er „Prestissimo“ noch schneller spielen. Wie sehr muss sich ein Klaviervirtuose einer Tempoangabe des Komponisten unterwerfen? Alle 32 Sonaten von „Ludwig van“, wie er im Tweet auftaucht, mit Igor Levit gehört haben zu dürfen, ist ein Geschenk fürs Leben.

Torsten Flüh   

Musikfest Berlin on Demand


[1] Vgl. Torsten Flüh: Igor Levits umjubelter Beethoven-Feier nachdenken. Über die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven gespielt von Igor Levit beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2020.

[2] U.a. Ulrich Grothus: Sixty Years of Thoma Mann’s Doktor Faustus. In: Logos. A journal of modern society & culture, 7,1 winter 2008.

[3] Siehe: Werner Röcke: Thomas Mann Doktor Faustus 1947-1997. Bern: Peter Lang, 2001.

[4] dOCUMENTA (13): 100 Notes – 100 Thoughts No050: Enrique Vila-Matas: Thomas Mann & Theodor W. Adorno: An Exchange / Ein Autausch. Ostfilden: Hatje Cantz, 2012.

[5] Thomas Mann: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt am Main: S. Fischer, 1981 (zuerst 1949) S. 721.

[6] Siehe die Fotos vom 30. September 2020 mit Details des Denkmals von Siemering in dieser Besprechung.

[7] Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von seinem Freunde. [wie Anm, 5] S. 71.

[8] Ebenda S. 74.

[ix] Siehe zur Figur des Prometheus auch Torsten Flüh: Große Mythen anders und witzig durchtanzt. Zu Nick Powers Between Tiny Ciities und Euripides Laskaridis’/Osmosis‘ Titans bei Tanz im August. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 27, 2018 20:56.

[10] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 713.

[11] Vgl. zu Anton Schindlers Beethoven-Biographie: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[12] Ebenda.

[13] Ulrich Grothus: Sixty … [wie Anm. 2].

[14] Thomas Mann: Die … [wie Anm. 5] S. 712.

[15] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 75.

[16] Ebenda S. 75-76.

[17] Enrique Villa-Matas: Thomas … [wie Anm. 4] S. 9.

[18] Thomas Mann: Doktor … [wie Anm. 7] S. 11.

[19] Hermann Danuser: Erzählte Musik. Fiktive musikalische Poetik in Thomas Manns „Doktor Faustus“. In: Werner Röcke: Thomas … [wie Anm. 3] S. 299.

[20] Ebenda.

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