Gefühl – Ambivalenz – Geschichte
Gefühlsechte Geschichte/n
Zur Queer Lecture und Buchvorstellung von ANDERS FÜHLEN im taz TALK mit Jan Feddersen und Benno Gammerl
Am 18. März 2021 um 20:00 Uhr war Benno Gammerl aus dem European University Institute in der Via Bolognese 156 in Florenz für die Queer Lecture als taz Talk mit Jan Feddersen im Livestream zugeschaltet. In ganz Italien herrschte bereits eine Ausgangssperre zwischen 22:00 und 5:00 Uhr, so dass die Onlineveranstaltung zwischen Florenz und Hamburg ziemlich pünktlich um 21:00 Uhr enden sollte. Nach gut 62 Minuten endete der Livestream mit einem Winken der Techniker*innen im taz-Haus in der Berliner Friedrichstraße beinahe wie Eurovision. Fast in der Eile der Glasfaserkabel hatte Benno Gammerl sein gerade bei Hanser erschienenes – ja, ich muss schon an dieser Stelle schreiben – Standardwerk zum schwulen und lesbischen Leben in der Bundesrepublik ANDERS FÜHLEN vorgestellt.
Natürlich reichen 62 Minuten mit An- und Abmoderation für Benno Gammerls exzeptionelle Emotionsgeschichte ganz und gar nicht. Als Sachbuch bei Hanser heißt die ebenso mikrologische wie vielfältige Forschungsarbeit im Titel „Eine Emotionsgeschichte“. Sie liest sich streckenweise wie ein großer, analytischer und spannender Gesellschaftsroman der Bundesrepublik Deutschland. Sie basiert auf 32 biographischen Interviews nach der Methode der Oral History von männerliebenden Männern und frauenliebenden Frauen, die zwischen 1935 und 1970 geboren wurden. Einige, so Gammerl, sind seit den Interviews in den Jahren 2008 und 2009 verstorben. Gammerl fragt die gleichgeschlechtlich liebenden Menschen nach ihren Gefühlen im Laufe ihres Lebens. Die Gefühlslebenserzählungen aus der Nachkriegszeit bis in die Jahrtausendwende werden mikrologisch bis in einzelne Pausen, Wiederholungen und Stockungen in Auszügen anonymisiert zitiert.
Mit der Frage nach dem Fühlen und den Gefühlen ändert sich alles in den Geschichten der „Homosexualitäten“.[1] Die Geschlechterverhältnisse werden von Benno Gammerl auf eine neuartige Weise beschrieben und historisch kontextualisiert. Seine Emotionsgeschichte wird zu einem entscheidenden Beitrag zur Homosexualitäten-Forschung. Die einzelnen Gefühlserzählungen werden in ihren Ambivalenzen zum Medium, um Geschichte und Sexualität in ihrer Vielfalt und temporären Spezifik zu schreiben. Als Sachbuch beschränkt Gammerl seine theoretisch-methodologische Diskussion zugunsten der Lesbarkeit in seiner „Einleitung“ mit dem Titel „Verschlungene Pfade“ auf das Notwendige. Er kritisiert einleitend die „Idee eines natürlichen Fortschritts hin zur Inklusion“ als „historisch unzutreffend und politisch irreführend“.[2]
Benno Gammerls anders fühlen im Format Sachbuch situiert sich an der Schnittstelle von Geschichtsforschung und Geschichtserzählung. Dafür entwickelt und verwendet er ein umfangreiches Vokabular von „Gefühlswelten“, „Gefühlsgeschichte“, „Gefühls- und Alltagsleben“ sowie einen „gefühlsgeschichtlichen Blick“, was unter vielen eher konservativen Historikern gewiss nach wie vor als ein äußerst unsicheres Terrain der Wissenschaft verworfen wird. Gefühle werden eher der Belletristik, der eben schönen und traurigen Literatur, zugeschlagen als einem zeitlich bestimmbaren Wissen. Historiker argumentieren landläufig mit Fakten und Daten, aber nicht mit den oft vagen Gefühlen. Für sie zählt das Datum einer Vertragsunterzeichnung mehr als die Gefühle, die der oder die Unterzeichnende dabei hatte. Erst Ute Frevert nahm die Gefühle als Feld der Geschichts- und Geschlechterforschung beispielsweise für die Zeit um 1800 ernst.[3]
„Gefühle um 1800: Dazu gehört einerseits das Reden über sie, der Disput, ob man sie haben solle oder nicht, welche Gefühle gut und welche schlecht seien, wozu sie nützen und wem sie schaden, welches Maß zu beachten sei, wie man die guten erregen könne und die schlechten verbessern, welche Rolle dabei das Theater, die Literatur und die Musik – also die Künste überhaupt – spielen sollten.“[4]
Gefühle brauchen Benennungen, müssen erst einmal mit Worten begriffen werden. Im Gebrauch und im Maße ihrer Namen werden sie gedreht und gewendet, ausprobiert und verworfen. Wenn es kein festumrissenes Schema, keinen hegemonialen Diskurs für ein oder mehrere Gefühle gibt, dann müssen dafür erst einmal Beschreibungen durch Erzählungen gefunden und geprägt werden. So kennt zwar das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) keinen „Gefühlshaushalt“, listet aber immerhin in seinem „Kernkorpus“ dessen Verwendung im Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz aus dem Jahr 1999 auf.[5] 2011 veröffentlichte Ute Frevert u.a. mit Benno Gammerl Gefühlswissen als „(e)ine lexikalische Spurensuche in der Moderne“.[6] Im Wintersemester 2020/21 machten die Mosse-Lectures den Zorn als „politischen Affekt“ zum Thema und Ute Frevert erkundete ihn als „mächtiges Gefühl“ in der Politik.[7] In dem nun erschienen Sachbuch von Benno Gammerl spielt das Wissen um Gefühle die entscheidende Rolle, weil „das Gefühlsleben (…) Raum für ein (…) Besonders-Sein“ bietet, „das sich nicht abgrenzen und abheben will“.[8]
Mit Gefühlen wird Politik gemacht. Deshalb spielen sie sich immer an der Schnittstelle von Privatem und Öffentlichem ab. Dies galt und gilt umso mehr, wenn es um ein Fühlen geht, das vom Staat nicht nur beaufsichtigt, sondern kriminalisiert wird. In der Moderne wird der Staat zum großen Observator und Regulator der Gefühle. So schreibt Fichte in seinem Naturrecht 1797 im Unterschied zum „Wissen“ des Mannes dem „Weib“ ein „natürliches Unterscheidungsgefühl für das wahre, schickliche und gute“ zu.[9] Die Regulierung der Gefühle durch ein vielfältiges Wissen wird somit im 19. und 20. Jahrhundert zur Aufgabe des Staates bis in die Gesetzgebung und das Strafrecht der Bundesrepublik, mit der Benno Gammerls erster Teil als „Nachkriegsdekaden“ mit den Praktiken des „Ausweichen(s)“ einsetzt.
„In den Nachkriegsdekaden galt der § 175 StGB nach wie vor in seiner 1935 vom nationalsozialistischen Regime verschärften Form. Männerliebende Männer wurden verfolgt und zu Haftstrafen verurteilt. Homophile Zeitschriften unterlagen der Zensur und homophile Lokale waren von der Schließung bedroht, beispielsweise wenn die Polizei bei einer Razzia tanzende Männerpaare antraf.“[10]
Doch der Historiker legt mit seinen Oral-History-Interviews eben auch die Erzählungen vom „Ausweichen“ frei. Dadurch gelingt ihm die Darstellung einer Vielfältigkeit und Ambivalenz der Gefühlslebensbeschreibungen, die in „der westdeutschen Homosexualitätengeschichte“[11] nicht oder zu wenig berücksichtigt worden sind. Das Sprechen von den Gefühlen wurde in der Geschichtswissenschaft unterschlagen. Gesetze und Gesetzesänderungen zwischen dem Strafrechtsparagraphen 175, Lebenspartnerschaftsgesetz und der „Ehe für alle“ nach dem § 1353 Abs. 1 S. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches – „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“ – entwerfen zwar einen Fortschritt in der Rechtsprechung[12], doch zugleich regulieren sie weiterhin das Gefühlsleben der Einzelnen.
„Gerade die Gefühle zeigen, wie viel komplexer Selbst und Gesellschaft aufeinander wirken. Diese Interaktion lässt sich nicht auf Unterwerfung, Anpassung oder Widerstand reduzieren. Der für das Gefühlsleben so wichtige Körper ist weder ein bloßes Objekt soziokultureller Prägungen noch ein Garant unbändigen Eigensinns.“[13]
Das individuelle Erzählen in seiner Vielschichtigkeit wird für Benno Gammerl zum nicht nur historischen Forschungsfeld. Er druckt zu Beginn seiner drei Teile und Phasen jeweils zwei längere Passagen als „O-Ton“ z. B. von „Herr(n) Meyer & Frau Schmidt“ ab, um später kürzere zu analysieren. Denn beispielsweise Praktiken zur Kontaktaufnahme unter Männern in „homophilen Lokale(n)“ mussten durchaus erlernt werden. Derartige Praktiken sind zwar darüber hinaus allgemein notwendig zu erlernen, aber die „homophilen Lokale“ erforderten spezielle und gefühlt anstrengende.
„Herr Harrer lernte im Verlauf mehrerer Besuche in Schwulenkneipen, wie man dort anderen Männern näherkam. Man könnte auch sagen, er übte zu flirten. Schritt für Schritt verfeinerte er sein Können durch »Testen« und »Probier[en]«: Versuch, Scheitern und erneuter Versuch. Auf die Körperlichkeit dieses Trainings, dieses Einübens bestimmter Gesten und Verhaltensweisen verweist das Stöhnen, das ihm entfährt, während er davon berichtet.“[14]
Die Körper der „Erzählpersonen“ erfahren von Benno Gammerl eine genaue Berücksichtigung als „(i)ntelligente Körper“[15] und „körperliche Intelligenz“[16]. Sie werden nicht nur als Schauplatz der Gefühle in den Erzählungen, sondern ebenso als ihr Aktionsraum analysiert. Das „Stöhnen“ von Herrn Harrer beim Erzählen bringt seinen Körper auf ambivalente Weise zum Ausdruck. Einerseits verweist es auf die Anstrengung des Lernprozesses, andererseits spielt es hinüber zur Lust eines erfolgreichen Flirtens in homophilen Lokalen. Der Raum der spezifischen Lokale formt den Körper als Schauplatz der Gefühle zumindest mit, könnte man sagen. Für Herrn Kuhn geht es um ein anderes Körpergefühl, das alarmiert, schützt und Intimität ermöglicht:
„Der Ekel vor Männerküssen lässt sich also auch als ein intuitiver Selbstschutz begreifen, als eine körperliche Intelligenz, die es Herrn Kuhn erlaubte, bestimmte Gefahren zu meiden, ohne sich ihrer gänzlich bewusst zu sein. So gesehen hat ihn seine Abscheu nicht davon abgehalten, sondern sie hat es ihm ermöglicht, bestimmte Formen zwischenmännlicher Intimität zu erleben.“[17]
Nicht nur das Straf- und Eherecht, sondern ein ganzes Ensemble von Gesetzen wie das Grundgesetz und die Erklärung der Menschenrechte von 1948 durch die Vereinten Nationen spielten in das Gefühlsleben von frauenliebenden Frauen und männerliebenden Männern hinein. Aktuell werden die Grundrechte, die im Grundgesetz durch den Staat, die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich garantiert werden, auf tagespolitisch spektakuläre Weise bemüht. In der Covid-19-Pandemie wird vor allem in den bundesrepublikanischen Medien von den Grundrechten gesprochen. Freiheits- und Gleichheitsrechte wurden selten in der über 70jährigen Geschichte des Grundgesetzes so heftig debattiert wie seit März 2020. Dabei geht es natürlich um Gefühle, Ängste und Hass, Liebe und Empathie. Der Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach spricht beispielsweise in der ZEIT vom 30. März 2021 von zwei Handys, die sich für ein paar Stunden in einer Wohnung treffen. Anders gesagt: Es geht um Kontakte in Räumen, Körperkontakt und Gefühl.
Eine Gefühlsgeschichte der Pandemie zu schreiben, könnte aufdecken, dass unabhängig von sexuellen Präferenzen Gefühle eine prominente Rolle besonders in der sogenannten 2. und 3. Welle der Epidemie spielten. Umso befremdlicher erscheint es deshalb, dass der „Menschenrechtsdiskurs“[18] in der Debatte um die Rechte frauenliebender Frauen und männerliebender Männer in den Nachkriegsdekaden eher marginal und den Nischen homophiler Zeitschriften und „humanitäre(r)“ Vereine geführt wurde.
„Insbesondere säkulare und kosmopolitisch orientierte Kreise betonten, dass Homosexuelle so wie alle anderen Menschen auch das Recht hätten, sich frei zu bewegen und zu äußern, Vereinigungen zu gründen und vor Diskriminierung geschützt zu werden. Dieses Argument bestimmte die sogenannte Pfingst-Eingabe, die der »humanitäre« Verein Club Elysium 1961 an den ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss von der FDP, den Generalbundesanwalt und CDU-Rechtsexperten Max Güde sowie an Fritz Bauer als SPD-Mitglied und hessischen Generalstaatsanwalt richtete.“[19]
Benno Gammerl führt in seinem Buch als zeit- und gefühlsgeschichtliche Rahmungen der Interviews und ihrer Entfaltung Spielfilme als Darstellung von „gleichgeschlechtlich begehrende(n)“ Frauen und Männer an.[20] Diese wurden seit 1957 mit Veit Harlans Film Anders als du und ich (§ 175) und 1958 Mädchen in Uniform mit Romy Schneider und Lilli Palmer meist kontrovers, wenn nicht offen ablehnend debattiert. Sie stellten unterdessen allererst eine Sichtbarkeit von einem gleichgeschlechtlichen Begehren her und ermöglichten damit nicht zuletzt eine identifikatorische, wenn nicht gar selbstermächtigende Sichtweise. Vor allem durch den – nachträglichen – Schnitt wurde die „in der Bundesrepublik gezeigte Fassung von Veit Harlans Film“ auf entwürdigende Weise zensiert.[21] Die Rezeptionen beider Filme waren außerordentlich ambivalent. Bis heute lässt sich nicht klären, ob Veit Harlan mit seinem Film an die „humanitäre“ Tradition von Magnus Hirschfelds und Richard Oswalds Film Anders als die Andern (1919) anknüpfen oder den 1935 verschärften Homosexuellenparagraphen bestätigen wollte. Immerhin stand seit 23. Mai 1949 als Artikel 1 Abs. 1 im Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Als eine entscheidende Fragestellung für das Gefühlsleben der „Gesprächspartner*innen“[22] fragte Benno Gammerl nach der Unterscheidung zwischen Stadt- und Landleben. – „Welche Bilder und Narrative bestimmten die Wahrnehmung von Ruralität und Urbanität in der Phase des Ausweichens?“[23] – In der Novelle Bernardino von André Gide aus dem Jahr 1960 wird nach Gammerl für den männerliebenden Mann ein „Kontrast zwischen Landparadies und Stadthölle“ entworfen. Andererseits lockte die Stadt, allemal die inselartige Großstadt Berlin mit einem Freiheitsversprechen für Frauen und Männer.[24] Doch für Frau Jäger setzt der geschlechtsspezifische Zwang zum Kleid erst in der Stadt ein.
„Sie wuchs auf einem Bauernhof auf, und wegen ihrer Maskulinität – »ich bin auch mehr so der gestandene Typ« – genoss sie es, Hosen zu tragen. »Jeder hatte», sagt sie, männliche Pronomina verwendend, »sein Blauzeug an und Gummistiefel, und dann ging das los.« Erst als die 15-Jährige ab 1970 die Schule in E., einer nahe gelegenen größeren Stadt, besuchte, musste sie »‘n Kleid anziehen«, was ihr »sehr fremd« war.“[25]
Benno Gammerl erreicht mit seiner Methode eine Darstellung der Komplexität und Ambivalenz der Gefühle schwuler Männer und lesbischer Frauen, wie sie in der Geschichtsforschung bislang nicht berücksichtigt worden ist. Das liegt u.a. an den Gefühlen selbst. Denn Gefühle sind nie eindeutig oder rein. Immer wieder mischen sich Gefühle ineinander und lassen sich in ihrer Ambivalenz kaum voneinander trennen. Allenfalls zeichnen sich die Gefühle in der Moderne dadurch aus, dass sie wie bei Fichte geschlechtet werden. Deshalb werden sie allererst zum Spielfeld und Schauplatz von Geschlechterkonstruktionen und Identitäten. Die Frage nach der Stadt und dem Land reißt insofern ein komplexes und widersprüchliches Verhältnis auf, weil es dabei um einen Wunsch kategorischer Unterscheidung geht.
„Der simple Gegensatz zwischen liberaler Stadt und konservativem Land verzerrt also die tatsächliche Komplexität der Lebenswelten frauenliebender Frauen und männerliebender Männer in der Phase des Ausweichens. Gleiches gilt für die kategorische Trennung zwischen öffentlichen Situationen, die zum Verstecken des inneren Fühlens zwangen, und privaten Rückzugsorten, die dessen Ausdruck erlaubten.“[26]
In der „Phase des Ankommens“ seit den 1980er Jahren sind vor allem die Gefühle und der Umgang mit ihnen nicht einfacher geworden. Ängste und Wut vermischen sich mit der Liebe zum gleichen Geschlecht und werden vielmehr seither anders artikuliert und bearbeitet. Im Abschnitt „Schüchternheit und die Optimierung des Angstmanagements“[27] kommt Benno Gammerl mit seinen Interviews an den Punkt, dass das Gefühlsleben weiterhin komplex und ambivalent bleibt. Vielleicht nicht nur für gleichgeschlechtlich liebende Menschen, aber für diese doch auf andere, womöglich gar zugespitzte Weise:
„Frau Otte lernte von ihrer Partnerin, mit der sie seit 1992 zusammen ist, Emotionen wie Wut und Angst zu zeigen und darüber zu sprechen. Einmal fuhr die Freundin mit ihr an einen menschenleeren Ort außerhalb der Stadt und ermutigte sie, ihre Gefühle herauszuschreien. Das kostete sie eine »wahnsinnige Überwindung«, aber dadurch habe sie gelernt, dass sie nichts zu befürchten hat, wenn sie ihre schwierigen Emotionen zeigt. Seither kann sie besser mit ihrem Zorn und ihrer Furcht umgehen.“[28]
Benno Gammerl kommt mit seiner fulminanten Gefühlsforschung, echten wie erlernten Gefühlen und den Erzählpersonen zum Schluss, dass die „Homosexualitätengeschichte der Gegenwart (…) in den 1980er-Jahren“[29] begonnen habe. Ängste gibt es weiterhin, die sich auf das Geschlechtsleben beziehen und dort eine Rolle spielen. Das Ankommen bleibt ein fortwährender Prozess, der permanent neu überdacht und ausgehandelt werden muss. Die Kritik an Cis-Männern, an Maskulinität[30] und Hegemonie hat nicht zuletzt heftige und brutale Reaktionen aus dem politischen Spektrum von Rechts hervorgerufen, um seinerseits Ängste zu schüren.
„Die Ängste verschwanden nicht. Das Ankommen blieb fraglich. Letztlich gilt es auch die Liberalisierungsthese als zentrales Paradigma der bundesrepublikanischen Geschichte insgesamt zu überdenken.“[31]
Benno Gammerls Sachbuch anders fühlen gibt einen Anstoß zu einer Debatte nicht nur der „Liberalisierungsthese“ in Bezug auf eine Homosexualitätengeschichte, vielmehr ließe sich gerade in der Covid-19-Pandemie die Macht der Gefühle in einer neuartigen Weise beschreiben. Wiederholte Gefühlsausbrüche von sogenannten „Coronaleugnern“ legen nah, dass liberale Modelle des Zusammenlebens gerade dann in eine Kritik geraten und sich in faschistische Praktiken verkehren, wenn ein diffuses Freiheitsgefühl als bedroht empfunden wird.
Torsten Flüh
Benno Gammerl
anders fühlen
Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik
Eine Emotionsgeschichte
Carl Hanser Verlag, 2021
25 €
[1] Benno Gammerl: anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte. München: Hanser, 2021, S. 9.
[2] Ebenda S. 19-20.
[3] Siehe z.B. Ute Frevert: Gefühle um 1800. Begriffe und Signaturen. In: Günter Blamberger, Ingo Breuer, Sabine Doering und Klaus-Müller Salget (Hrsg.): Kleist-Jahrbuch 2008/09. Stuttgart: Metzler, 2009, S. 47-62.
[4] Ebenda S. 47.
[5] Siehe Korpusbelege DWDS-Kernkorpus (1900–1999): Gefühlshaushalt.
[6] Ute Frevert. Mit Monique Scheer, Anne Schmidt, Pascal Eitler, Bettina Hitzer, Nina Verheyen, Benno Gammerl, Christian Bailey und Margrit Pernau. Gefühlswissen. Eine lexikalische Spurensuche in der Moderne. Frankfurt: Campus, 2011.
[7] Siehe dazu: Torsten Flüh: Zorn zwischen Gefühlsausbruch und Lebenspraxis. Zwischenlese zur digitalen Reihe der Mosse-Lectures zum Thema Zorn – Geschichte und Gegenwart eines politischen Affekts. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Dezember 2020.
[8] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 7.
[9] Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Jena und Leipzig: Christian Ernst Gabler, 1796-1797, S. 224.
[10] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 31.
[11] Ebenda.
[12] Siehe z.B. Anna Katharina Mangold: Stationen der Ehe für alle in Deutschland. In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 9.8.2018.
[13] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 55.
[14] Ebenda S. 89.
[15] Ebenda S. 55.
[16] Ebenda S. 57.
[17] Ebenda.
[18] Ebenda S. 65.
[19] Ebenda.
[20] Ebenda S. 52.
[21] Ebenda.
[22] Ebenda S. 101.
[23] Ebenda S. 98.
[24] Siehe dazu auch die Autobiographie von Nora Eckert: Nora liest. Zu Nora Eckerts luzider Trans*-Autobiographie Wie alle, nur anders – Ein transsexuelles Leben in Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. April 2021.
[25] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 101-102.
[26] Ebenda S. 105.
[27] Ebenda S. 322-329.
[28] Ebenda S. 327.
[29] Ebenda S. 345.
[30] Siehe zur Maskulinität: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte*. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019. Herausgegeben im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen: Wallstein, 2019, S. 43-70.
[31] Benno Gammerl: anders … [wie Anm. 1] S. 345.
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