Furiose Gedankenmusik

Lied – Leben – Nichts

Furiose Gedankenmusik

Zum Concertgebouw Orchestra mit Iván Fischer und London Symphony Orchestra mit Sir Simon Rattle beim Musikfest Berlin

Das Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin fast schon traditionell mit dem Concertgebouw Orchestra aus Amsterdam unter der Leitung von Iván Fischer – 2022 hatte Klaus Mäkelä das Orchester durch die 6. Symphonie von Gustav Mahler geleitet – fiel in diesem Jahr mit dessen 7. Sinfonie weniger spektakulär aus. Stattdessen überraschte das ziemlich junge London Symphony Orchestra am Montag unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit der 9. Sinfonie von Mahler in einer selten, vielleicht sogar noch nie gehörten Intensität und Zerrissenheit. Das Musikfest Berlin ermöglicht genau diese Hörvergleiche auf höchstem musikalischem Niveau. Die äußerste Konzentration wird nicht nur vom Orchester, sondern ebenso vom Publikum gefordert und mit Glück zum geteilten, unvergesslichen Ereignis.

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Ganz zu Anfang hatten Iván Fischer und das Concertgebouw die Reihe der Musikfest-Konzerte mit Jörg Widmanns Orchesterliedmontage Das heiße Herz eröffnet. Die Komposition nimmt unterschiedliche Lied- und Kompositionsschemata auf, um mit Gedichten von Klabund[1] bis Clemens von Brentano eine Art Welttheater des Liebens für Orchester und Bariton (Michael Nagy) zu entfalten. Das heiße Herz lässt sich in seiner eigensinnigen Form in mancherlei Beziehung zu den Kompositionsweisen von Gustav Mahler setzen. Die Texte aus der Zeit zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert kombinieren verschiedene Sprechweisen über die Liebe – Sprachen der Liebe. In der Orchesterversion des Concertgebouw wird die Montage waghalsig gegenüber dem Liedzyklus auf 5 statt 8 Lieder ausgedünnt.[2] Text und Ton treten in eine andere Konstellation.

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Die Form Liedzyklus wird von Jörg Widmann mit der Auswahl der Texte in Gedichtform neuartig montiert und komponiert. Die Fallhöhe des ersten Liedes Der arme Kaspar von Klabund mit der Tempobeschreibung „Zögernd, instabil“ gibt einen Wink auf das Kompositionsverfahren wie den Kaspar. Alfred Henschke, der sich den Künstlernamen Klabund zugelegt hatte, veröffentlichte 1922 den Gedichtband Das heiße Herz mit Balladen, Mythen und Gedichten bei Erich Reiss in Berlin. Die „Ballade“ Der arme Kaspar eröffnet in knapper Form den Gedichtband. Während die Ballade als tänzerische Gedicht- wie Liedform i.d.R. eine längere Erzählung umfasst, fällt Klabunds Ballade in diesem Band äußerst knapp aus. Auf Seite 7 passt unter Der arme Kaspar gar noch die erste Strophe der Ballade Laotse.[3] Wobei die Abfolge von Kaspar und großer Namen wie Laotse, Hiob, Mohammed, Montezuma etc. als weitere Balladentitel zumindest eine eigenwillige Auswahl ankündigt. 

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Die Ballade von lateinisch ballare für tanzen wird von Klabund insbesondere durch die kurze Reimform mit den wiederholten Fragen nach woher, wohin, wo, wann zu einer tänzerischen Bewegung. Auf äußerst knappem Raum wird das sich bewegende Ich in einen Strudel der Fragen hineingezogen, die mit der Wiederholung der Fragen nach dem Wohin und Woher endet: „Ich geh – wohin? Ich kam – woher?“ Die Fragen des ebenso instabilen wie armen Kaspar reichen in ihrer Knappheit bis ins „All“, indem Klabund die Begriffe anders verwendet und mit „Viel schwer.“ auf „Viel leicht.“ durch die Schreibweise das Sein des Ich in einen Taumel versetzt. Was durch die Schreib-Lese-Operationen zugleich ins Komische und Satirische kippt, erweist sich in seiner typographischen Mikrologie der Getrenntschreibung als großes Welttheater.

© Fabian Schellhorn

Jörg Widmann zeigt sich mit seiner Titelwahl wie Montage von Gedichten als ein ebenso genauer wie kluger Leser und Komponist. Wird doch die Figur des Kaspar in der Literaturgeschichte als eher komische und lachhafte verortet. Alfred Henschke bzw. Klabund als Künstlername aus Klabautermann und Vagabund verriet ebenfalls eher scherzhafte Züge. Und inwieweit das lyrische Ich der Ballade Der arme Kaspar mit einer Selbstwahrnehmung des Dichters korrespondiert, der sich nicht zuletzt durch seine Liebe lächerlich macht – „Ich steh und fall,/Ich werde sein.“ –, lässt sich nicht festlegen. Schließlich gehört Klabund zu jener Generation deutschsprachiger Dichter, deren Tuberkuloseinfektion nicht nur ihr Leben und Lieben – Das heiße Herz – vorzeitig beendete, sondern im Denken früh beeinflusste.[4]

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Was heißt Romantik für den Liedzyklus von Jörg Widmann, wenn er damit zitiert wird, dass seine „Liebe zur Romantik, die in zahlreichen Anspielungen auf Robert Schumann und Gustav Mahler greifbar“ werde?[5] Romantik wird leicht mit einem Sonnenuntergang am Meeresstrand, roten, lockenden Lippen und roten Rosen verknüpft. Damit räumt Jörg Widmann durch die Montage von Heinrich Heines Das Fräulein stand am Meer pointiert auf. Denn Heine kontert dem Programm der Romantik in ihrer Gefühls- und Liebesprogrammatik mit der naturwissenschaftlichen Vorhersehbarkeit von Sonnenunter- und Sonnenaufgang. – „Hier vorne geht sie unter/Und kehrt von hinten zurück.“ – In der orchestralen Komposition wechselt ein (romantischer) Walzer als Versprechen von Zweisamkeit in eine Art chaotische Jahrmarktsmusik. Musikalisch wird gerade nicht die Regelhaftigkeit komponiert, vielmehr der Effekt einer Zertrümmerung des Romantischen.

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Jörg Widmann verschiebt mit seiner Komposition das landläufige Wissen um die Romantik und Liebe. Das vermeintliche Epochenwissen von der Romantik mit ihrer Liebesthematik wird von Anfang an mit Klabund auf die Probe gestellt. Es geht vielmehr in die Richtung eines systemischen Selbstzweifels. Denn das (romantische) Ich ringt darum, sich durch die Liebe bestätigt zu finden. Diese Bestätigung wird ihm oft verwehrt. Ob in Des Knaben Wunderhorn oder Clemens Brentanos Litanei Einsam will ich untergehn steht das Ich radikal in Frage zwischen Gottverlassenheit und Untergang als „Herz in deinem Herzen“. Dass das Bariton-Ich in der Orchesterversion oft vom Orchester übertönt wird und in ihm untergeht, lässt sich auch als ein weiterer Wink auf die Brüchigkeit des Subjekt in der Romantik hören und bedenken. Widmann schichtet in seiner Komposition mehr die Ebenen von Text, Stimme und Orchester, als dass er sie instrumentiert.

© Fabian Schellhorn

Der Liedzyklus, der auf eine, wie es im Programm heißt, Auswahl gekürzt worden war, bleibt offen. Jörg Widmann war jedenfalls anwesend und wurde wie der Solist und der Dirigent vom Publikum gefeiert. Die Textverständlichkeit und ihre Schwächung durch das Orchester schienen zu Widmanns Kalkül zu gehören. Das Genre des Orchesterliedes wurde insofern Gegenstand der Befragung durch die Komposition und Instrumentation. Das hört sich bei Widmann und der Interpretation durch Iván Fischer und dem Concertgebouw Orchestra facettenreich und transparent an. Die Nähe und die Differenz zu Gustav Mahler wurde indessen mit der 7. Sinfonie spürbar. Diente die Kürzung nur, um die Überlänge von ca. 80 Minuter der Siebenten nicht auf den ganzen Orchesterabend auszudehnen? Von Romantik wird man selbst beim Andante amoroso als Tempo des 4. Satzes schwerlich sprechen können. Was könnte an diesen Brüchen amourös und landläufig romantisch  sein? Oder soll die „Nachtmusik“ des 2. und 4. Satzes eher an „Nachtstücke“ eines E.T.A. Hoffmann oder eines Robert Schumann erinnern?

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Der 1. Satz Langsam (Adagio) – Allegro risoluto, ma non troppo lässt an eine wilde Filmmusik mit Reitern denken. Es bäumt sich in der 7. Sinfonie von Mahler wiederholt eine Art Ritt oder ein Getriebenwerden auf. Dadaa Dadadadaa. Geht es um angriffslustige Männlichkeit mit den fanfarenartigen Motivfetzen? Sind die verfolgungsartigen Nachtmusiken mit den für den Liedgesang verwendeten Instrumenten Gitarre und Mandoline ebenso wie als solistisch behandelte Erinnerungen an Liebeslieder? Die 7. Sinfonie führt eine Art Schattendasein im Repertoire wie das „Schattenhaft“ des 3. Satzes. Und dann gibt es da die Herdenglocken im Scherzo, die anders als Apotheose im 5. Satz wiederkehren. Wie lässt sich die 7. Sinfonie dirigieren, interpretieren und hören?

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Der Berichterstatter rang mit den Motivfetzen als Gedankenfetzen des 1. Satzes. Sir Georg Solti soll geschrieben haben, dass ihm die Siebente „wie das Werk eines Verrückten“ vorgekommen sei.[6] Die Fanfarenmotive stehen zumindest im äußersten Wiederspruch zum wiederholten Abbruch der Ankündigung eines Aufbruchs. Die anklingenden Fanfaren zeitigen den Filmmusikeffekt, der nicht ein- oder aufgelöst wird. Vielleicht gibt es keinen Aufbruch eines Mannes mehr als einer Frau einzulösen. Es ist lediglich und womöglich gar eine kasparhafte Geste des Aufbruchs, die zu nichts führt. Die Siebente führt zu nichts – und das ließe sich pointiert herausarbeiten. Das Rondo-Finale des 5. Satzes erreicht mit den scheppernden Herdenglocken keine Apotheose, vielmehr bleibt das Glockengeläut hohl und leer. – Übrigens erklingt in der 9. Sinfonie noch einmal ein Glockengeläut, aber nicht mit Herden- oder Kuhlocken, sondern mit Glockenspiel und 3 tiefen Glocken an, eher schatten- oder schemenhaft.

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Was passiert also, wenn der Berichterstatter während der Aufführung der Frage nachgeht, was er hört? Er schreibt sich mit dem Musikfest-Bleistift Worte mit Fragezeichen ins Programmheft. „Schlaflosigkeit“ „Glockengeläut am Schluss Chaos?“ „Frage der Männlichkeit“ Wie deutlich sollen die Liedbegleitungsinstrumente Mandoline und Gitarre zu hören sein? Gesungen wird nicht. Ließe sich das stärker hörbar machen? Ist die Serenade nur noch eine Erinnerung an erotische Abenteuer eines Mannes? „Alles wieder gut?“ Oder gerade nicht. „Gedankenmusik“ – Iván Fischer dirigiert das Concertgebouw Orchestra vom Blatt. Die Frage von Chaos, vielleicht Verzweiflung, oder abschließender Konklusion durch ein „Es ist alles wieder gut, nach all der Verwirrung und Hektik“ wird von Fischer mit seinem Dirigat nicht entschieden. Laut ist keine Lösung, aber das Publikum applaudiert. So gab es beim Eröffnungskonzert zwei Schwachpunkte: die mutwillige Kürzung von Jörg Widmanns Das heiße Herz und eine gute, aber uninspirierte 7. Sinfonie.

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Möglicherweise lassen sich die Interpretationen der Sinfonien von Gustav Mahler, vor allem die 5., 6., 7., 8., Das Lied von der Erde [7], 9. darin einteilen, wie stark der dumpfe Hammerschlag in der Sechsten beachtet wird oder nicht. Claudio Abbados Aufführung von Das Lied von der Erde als Requiem für einen Atheisten zum 100. Todestag des Komponisten 2011 bleibt ein Referenzerlebnis. Dann wird es entweder weiter seicht oder radikal. Hört, ja, liest man Gustav Mahler von der 9. Sinfonie, also vom Ende her, lässt sich die Radikalität in seiner Gedankenmusik nicht überhören. Denken die Gedanken mich oder denke ich mich? Bin ich Subjekt oder Objekt? Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden lässt sich ein instabiler Text von Heinrich von Kleist mit ungewisser Herkunft und fragwürdigem Adressaten nennen. Mit einer Anekdote aus der Französischen Revolution konterkariert Kleist in dem Text den Verstand des Subjekts und macht es abhängig vom „Zucken einer Oberlippe“:
„Vielleicht, daß es – auf diese Art – zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.“[8]

© Fabian Schellhorn

Mahler befragt mit seiner 9. Sinfonie nicht zuletzt im 2. Satz mit Etwas täppisch und sehr derb die Geschäftigkeit des Lebens im Angesicht des Todes voller Ironie. Im Adagio gibt es nur noch Gedankenfetzen, die sich unvermittelt und in gewisser Weise belanglos vor dem Nichts oder auch aus dem Nichts einstellen. Weder Motive noch Gedanken werden kontextualisiert oder ausgeführt. Um die Sinfonie, die keine mehr ist, nicht zerfasern zu lassen, braucht es Intensität, äußerste Konzentration. An diesem Punkt setzt Sir Simon Rattle mit dem, man kann es gar nicht oft genug sagen, sehr jungen London Symphony Orchestra einen neuen Standard. Die Orchestermusiker*innen sind dem Dirigenten für die Erfahrung dieser Intensität offenbar dankbar. Vielleicht bleibt nichts als diese Intensität, die im Gegensatz zur Geschäftigkeit sich hetzender Gedanken steht.

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Sir Simon Rattle dirigiert nicht vom Blatt, sondern aus seinem Körper. Die großen Symphonieorchester wie die Berliner Philharmoniker[9] oder das Concertgebouw haben ein eigenes, gewissermaßen instutionalisiertes Musik- und Praxiswissen generiert, das in ihnen zirkuliert und auch einschränken kann. In Klangkörpern, wie man sagt, bildet sich Wissen heraus und kursiert in ihnen. Beim London Symphony Orchestra ließ sich mit der 9. Sinfonie von Gustav Mahler hören und beobachten, wie ein solches Klangkörperwissen insbesondere durch die Praxis entsteht, indem der Dirigent sein Mahler-Wissen an es heranträgt. Intensität und Konzentration sind alles und können zu einer Entdeckungsreise werden. Umso mehr störte den Berichterstatter sein gewiss freundlicher, aber mit seinem linken Bein zuckender Sitznachbar, dessen Gegenrhythmus auf die Rücklehne übertragen wurde. – Dennoch konnte das LSO unter Sir Simon Rattle so sehr überzeugen, dass das Publikum nach einem längeren Moment der Stille in Ovationen ausbrach.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2023
bis 18. September 2023 


[1] Zu Klabund siehe: Torsten Flüh: Vom literarischen Kosmopoliten. Zu Alfred Henschke genannt Klabund – Ick baumle mit de Beene im Theater im Palais und seinem Roman Pjotr – Roman eines Zaren. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Januar 2023.

[2] Siehe: Jörg Widmann: Das heiße Herz. Mainz: Schott Music, 2018. (Website)

[3] Klabund: Das heiße Herz. Berlin: Erich Reiss, 1922, S. 7. (Internet Archive)

[4] Siehe: Torsten Flüh: Von … [wie Anm. 1].

[5] Olaf Wilhelmer: Liebesfreud, Liebesleid, Liebeslied. In: Berliner Festspiele: Musikfest Berlin Eröffnungskonzert: Royal Concertgebouw Orchestra/Iván Fischer 26.08.2023.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Zum Lied von der Erde siehe: Torsten Flüh: Requiem für einen Atheisten. Claudio Abbado dirigiert Das Lied von der Erde und spricht über Politik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Mai 2011. (PDF unter Publikationen)

[8] Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. (zuerst veröffentlicht postum 1878 Wikisource)

[9] Zur 8. Symphonie von Gustav Mahler siehe auch: Torsten Flüh: Das Versprechen der Klangwolke.
Berliner Philharmoniker spielen unter Sir Simon Rattle die 8. Symphonie von Gustav Mahler. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. September 2011. (PDF unter Publikationen

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