Europa – Großausstellung – Unzeitgemäßheit
Faszination und Versäumnis der künstlerischen Vielfalt Europas
Zur Großausstellung Diversity United in Hangar 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens
Die Stiftung für Kunst und Kultur hat unter der Leitung ihres Vorsitzenden Walter Smerling eine Großausstellung in der Ausstellungsarchitektur von Christian Axt in den historischen Hangars 2 und 3 des Tempelhofer Flughafens eingerichtet. Hier wird alles spektakulär, Spektakularität bis zum Anschlag. Das macht immer noch die einzigartige Größe eines der größten Gebäude weltweit. Um die 2 Hangars annährend mit Kunst zu füllen, braucht es 90 Künstler*innen aus 34 Ländern von 1 Kontinent, die in 9 Themenbereichen zwischen Krise & Widerstand und Erkenntnisse & Perspektiven ihre Arbeiten zu Europa präsentieren. 2/90/34/1/9 lautet in etwa die Kennzahl, die sich in 2 Stunden kaum annährend erschließen lässt.
Diversity United möchte in den beiden Hangars diese als Kunsthallen oder zumindest Hallen für zeitgenössische Kunst ins Gespräch bringen. Die Ausstellung wurde von einem zehnköpfigen Kuratorium aus internationalen Kurator*innen kuratiert. Beim Presserundgang fragt eine Journalistin gleich zu Anfang neben Kunstwerk und einem Originalkleinbunker Walter Smerling wie zufällig, ob der Berliner Senat sich schon für eine Widmung der Hangars zu langfristigen Ausstellungen von Kunst geäußert habe. Walter Smerling antwortet ausweichend. Die Einladung und die Vorschläge seien der Senatskanzlei übermittelt worden. Neben den marmorierten Quadern, Würfeln und Bögen von Andreas Angelidakis Arbeit Demos Pink eröffnet Smerling den Rundgang. Die geometrischen Körper neben und vor dem historischen, grauen Hangarbunker sollen benutzt werden und zur Reflektion über Demokratie einladen. Am Vormittag des 8. Juni hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Ausstellung zum Gesicht Europas in den bildenden Künsten offiziell eröffnet.
Der Flughafen Tempelhof ist ein Mythos. Er wurde bereits mehrfach als Filmkulisse mit weiteren Mythen verknüpft. Gleichzeitig wurde er bis zu den Lockdowns der Covid-19-Pandemie als Event Location vermarktet. Wirklich sinnvoll wurde er wohl in den letzten Jahrzehnten als Unterkunft für Geflüchtete genutzt. Hangar 4 wird seit den letzten Monaten zum Impfzentrum umgewidmet. Zweifelsohne möchte die Ausstellungsarchitektur an den Mythos von Größe, Internationalität und Multifunktionalität anknüpfen. Er bietet mehr als nur den Rahmen für die Ausstellung über Diversität in Europa. Der Berliner Architekt Christian Axt hat es in Abstimmung mit Walter Smerling auf eine mannigfaltige Wechselwirkung zwischen der historischen Hangar-Architektur und den Kunstwerken angelegt. Dafür wird denn auch Demos Pink aufgeteilt, um an zwei Orten im 3.600 m² großen Hangar 2 aufgebaut zu werden. Ebenso werden Behind the Scenes 1 und Liberty von Šelja Kamerić an zwei ganz unterschiedlichen Orten ausgestellt.[1]
Die Ausstellungsarchitektur von Christian Axt setzt die Kunstwerke in den Hangars quasi in Bewegung. Während der Katalog zur Ausstellung die Arbeiten der Künstler*innen stärker nach Themen sequenziert und z.B. Fernando Sánchez Castillos interaktives Memorial (2020) in der Sequenz Demokratie & Vision platziert[2], wird diese nun in Hangar 3 neben Tristan Schulzes interaktiver Medieninstallation SKIN aus dem Themenbereich Erkenntnisse & Perspektiven gezeigt.[3] Die Großausstellung erweist sich als ein Großprojekt, an dem viele Kurator*innen und Mitarbeit*innen auf verschiedene Weise beteiligt sind. Deshalb bietet der Katalog zum visuell-architektonischen Konzept der Ausstellung nur einen bedingten Leitfaden. Alicja Kwade, die in Katowicz, Polen, geboren wurde, um mittlerweile in Berlin zu arbeiten und zu leben, hat ihre Installation Konstellation (2020) um eine Art Pendel aus einer Bahnhofsuhr und einem Findling, die an dicken Ketten von der Deckenkonstruktion des Hangars kreisend hängen, erweitert. Denn die „Deckenhöhe von 18 m, eine fahrbare Kranbahnschiene sowie eine tonnenschwere Tragfähigkeit der Hallendachkonstruktion erlauben aufwendige Hängeinstallationen“.[4]
Die Hangar-Architektur und ihre Materialien wie Stahl und Beton drängen sich immer wieder in die Ausstellung der zeitgenössischen Kunst, ohne dass die meisten Künstler*innen damit arbeiteten oder Bezug darauf nähmen. Ganz abgesehen von den konservatorischen Fragen – Wie heiß wird es am Donnerstag und Freitag bei um die 36° C Außentemperatur unter den Flachdächern der Hangars geworden sein? – sind die Hangars eben doch keine Kunsthallen. Anselm Kiefers ebenso komplexe wie durchkomponierte Installation Winterreise, 2015-2020, im Bereich Erinnerung & Konflikt wirkt in der riesigen Halle fast ein wenig verloren. Das Spektakuläre mit einer Hallenhöhe von 18 Meter weckt nicht unbedingt die Sensibilität für die Feinheiten der Installation nach der Romantik in Franz Schuberts Liedzyklus Winterreise. Kiefers Installation von Schrift und Bild, von Namen und Fliegenpilzen z.B. lädt zum Lesen und Sehen ein. Aus der Totalen erschließt sich die Komplexität der Installation, in der auf einem Bett auf Rädern der Name „Ulrike Meinhoff“ steht, keinesfalls.
Die Flughafen-Architektur, mit dem hegemonialen Anspruch „Weltflughafen“ zu sein[5], setzt mit ihrer Fassade zur Stadt aus Tengener Muschelkalk insbesondere mit den Treppentürmen und den Hangarfassaden auf massive Monumentalität. Millionen Kubikmeter Tengener Muschelkalk aus dem südwestlichen Baden-Württemberg müssen dafür per Eisenbahn nach Berlin transportiert worden sein. Obwohl die Hangars in der Architektur Ernst Sagebiels mit ihren Stahlträgern innen einen geradezu luftig-schwerelosen Eindruck machen, werden visuell zur Stadt hin durch die Muschelkalkfassade Massivität und Schwere erzeugt. Lediglich die Fensterreihen oberhalb des dritten Stockwerks durchbrechen wieder die Muschelkalkmassen, um darüber mit einer flächigen Steinkante abzuschließen. Dieses visuelle Spiel aus wehrhafter Masse und vermeintlicher Transparenz heben die Bauten aus „einer damals hochmodernen Stahlbetonskelett-Konstruktion“ aus der zeitgenössischen Architektur hervor.[6]
Die moderne Bautechnik setzt Sagebiel für eine Ästehtik der Macht ein. Die Massivität der Muschelkalkfassade wird durch Quader, sondern Platten erzeugt. Die „Muschelkalkplatten“ wirken letztlich schwerer und massiger als sie sind.[7] Sie täuschen also auch. Bereits im Bau des Reichsluftfahrtministeriums in der Wilhelmstraße hatte Sagebiel eine visuelle Moderne entworfen, die den Machtanspruch der militärischen Luftwaffe mit der zivilen Luftfahrt als Welt- und Freiheitsmythos kombinierte. Stahlskelettbau und Muschelkalkplatten wurden auch dort die stilbildenden Materialien.[8] Die Erdwälle zur Stadt und Bücken zur Anfahrt spielen auf mittelalterliche Burgen und Städte an, während eine Art Theaterkulisse für das Schauspiel von Luftwaffe und Luftfahrt gestaltet wird. Das nach der Machtergreifung im April 1933 gegründete und Reichsluftfahrtministerium und sein Bau an der Wilhelmstraße überschneiden sich ab 1935 mit dem Tempelhofer Flughafen bei der Bauausführung zur Verwirklichung eines Rüstungsprogramms.
Hangar 2 und 3 sind alles andere als geschichtslose, rein funktionale Ausstellungshallen, stattdessen werden sie in ihrer Architektur von einer Ambivalenz der Moderne durchbrochen. Die Materialien und Konstruktionen wurden von Ernst Sagebiel durchaus ideo-logisch kombiniert. Visuell wird mehr Größe und Masse erzeugt, als konstruktionstechnisch notwendig gewesen wäre. Überhaupt ermöglichen die Stahlkonstruktionen allererst die Größe. Es sind in beiden Hangars nicht nur die Kleinbunker, die sich übersehen ließen. Vielmehr werden Größe und Masse an der Schnittstelle von Kriegstechnik und Tourismus bzw. Reisen im Dienste einer Ideologie der Macht über die Welt durch den „Weltflughafen“ inszeniert. Eine Ausstellung zur zeitgenössischen Kunst in ihrer Diversität in Europa hätte die Aufgabe gehabt, die Machtästhetik des Flughafens Tempelhof transparent zu machen. Stattdessen heißt es in schönstem Event-Deutsch:
„Vom Flughafen zur Kunsthalle.
Diversity United zeigt das künstlerische Gesicht Europas und verwandelt den geschichtsträchtigen Flughafen Tempelhof in Berlin in eine Kunsthalle auf Zeit…
Art at the airport
The exhibition Diversity United presents the artistic face of Europe and transforms the iconic halls of Tempelhof Airport in Berlin into a temporary exhibition space…“[9]
Diversity United an dem eben nicht nur „geschichtsträchtigen“ oder gar „iconic“ Schauplatz Tempelhofer Flughafen ohne explizite künstlerische Intervention zu präsentieren, halte ich für einen Kardinalfehler. Dieses konzeptuelle Versäumnis steht im Widerspruch zum Anspruch der Ausstellung „das künstlerische Gesicht Europas“ zu zeigen. Selbstverständlich stehen die meisten künstlerischen Arbeiten im Widerspruch zur Hangar-Architektur. Doch wenn dieser Widerspruch nicht kuratorisch thematisiert wird, dann wurde er von den Ausstellungsmachern um Walter Smerling offenbar auch nicht wahrgenommen oder gar geleugnet. Das Gesicht spielt nicht zuletzt für Šelja Kamerić, 1976 in Sarajewo geboren, und ihre Kunst eine wichtige Rolle. Als Model ließ sie sich während des Bosnienkrieges (1992-1995) im Teenageralter fotografieren. Sie steht in einem halbtransparenten Top gegen eine Wand gelehnt mit dem rechten Fuß auf einem Maschinengewehr. Das Foto ist in einer straken Untersicht aufgenommen, so dass die zierliche, junge Frau dominant auf die Betrachter blickt. Das Modefoto hat sie 2019 für ihre Arbeit Behind the Scenes verarbeitet, indem sie daneben ein weiteres, kleineres Foto arrangiert, auf dem sie mit einem Soldaten in Modepose zu sehen ist. Im Katalog schreiben die Autorinnen Anne Schwanz und Johanna Neuschäfer: „Das Maschinengewehr, das als Modeaccessoire entfremdet auf dem Boden liegt, hat sie spontan von einem Soldaten ausgeliehen.“ (S. 122)
Es hat anscheinend mehr als 25 Jahre gedauert, dass Šelja Kamerić sich mit ihrer Rolle in einem der ersten Kriege in Europa nach dem Ende der Sowjetunion und der friedlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten befassen konnte. Das postsowjetische Europa ist nicht zuletzt durch das Trauma der Kriege auf dem Territorium der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien kontaminiert. Die Freiheit der europäischen Staaten und das Versprechen der Freiheit in ihnen war nach 1989 nicht einfach zu haben. Insofern gehört das Modefoto mit dem hübschen, jungen Gesicht von Šelja Kamerić und dem Freiheitsversprechen einer jungen, unangepassten Mode zu den Gründungsmythen Europas. Bereits 2015 hatte die Künstler*in mit der „Bodenskulptur“ Liberty ein ambivalentes Portrait der Freiheit in Europa geschaffen. Die Oberseiten der Neonlicht-Buchstaben sind mit Taubenstacheln versehen, damit sich niemand auf ihnen z.B. niedersetzen oder ausruhen kann. Die Freiheit gehört zu den zentralen wie ebenso ambivalenten Versprechen der Europäischen Union. Die Taubenstacheln erinnern nicht zuletzt an NATO-Draht zur Grenzziehung. „So zeigt sich einerseits die Zerbrechlichkeit von Freiheit und andererseits, wie wichtig es ist, Freiheit als allgemeines Gut zu schützen.“ (S. 122)
Das „künstlerische Gesicht Europas“ zeigen zu wollen, ist ein Unterfangen von höchster Ambivalenz. Was als vermeintlich einfaches visuelles Programm angekündigt wird, verfehlt letztlich die Frage des Gesichts. Šelja Kamerić als Model wäre so etwas, wie das künstlerische Gesicht Europas. Denn als Model mit Kurzhaarschnitt und halbtransparentem Top verkörperte sie so etwas wie den Ausbruch aus der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien zu Freiheit und Autonomie in der Europäischen Union. Behind the Scenes bringt die Obszönität als künstlerisches Verfahren ins Spiel. Denn die Obszönität im Sinne einer Unanständigkeit lässt sich etymologisch nicht sicher herleiten. Beim lateinischen obscēnitās lässt sich allerdings daran denken, dass sich etwas schlechthin hinter der Szene, hinter dem Sichtbaren abspielt. Obszön wird es in der Ausstellung dann den Künstler, wenn nicht gar Meister der Lücke und Erinnerung[10] unter den europäischen Künstler*innen, Christian Boltanski, mit Être à nouveau Diversity United in der Sequenz Dialog & Monolog[11] bzw. am Eingang zum Hangar 3 zu positionieren. Die Welt und das Europa des „Weltflughafen(s)“ waren euro- bzw. germanozentrisch, hierarchisch, antisemitisch und rassistisch strukturiert. Christian Boltanskis Arbeiten haben sich immer dagegen positioniert:
„Das Denken in nationalen Grenzen ist ihm fremd: „Mein Heimatland ist die Kunst. Und alle Künstler:innen gehören zu meiner Familie.“ Boltanskis Werk ist zugleich ein Appell: Europa ist so vital wie die Menschen, die es gestalten, in all ihrer Vielfalt.“[12]
Wir wissen wenig von dem Gesicht der Europa. In der Mythologie wird es nicht beschrieben. Antike Terrakottafiguren inszenieren das Bild einer Frau auf dem Rücken des in einen Stier verwandelten Zeus. Individuelle Züge des Gesichts spielten zunächst keine Rolle. Christian Boltanski teilt in seiner Installation die Fotografien der Gesichter von unbekannten Kindern in drei Abschnitte auf: Kopfpartie, Augen-und-Nase-Partie sowie Mund-Kinn-Halspartie. Mit derartigen Verfahren arbeitet die Kriminalistik seit Alphonse Bertillon, der um 1900 die Bertillonage zur Erstellung von Phantombildern erfand. Die schnell wechselnden Portraitfototeile generieren also immer wieder neue Gesichter, die es in der einmaligen Kombination wahrscheinlich nie gegeben hat. In der Installation können die Besucher*innen durch einen Sensor den Wechsel der Bildteile verlangsamen. Es sind Kombinationen von Kinderportraits aus „Russland, Deutschland und Frankreich“.[13] Während Bertillon das Verfahren zur Ermittlung und Identifizierung von Straftätern erfand, stellt Boltanski auf seine Weise ein Gesicht von Europa her, das sich zugleich seiner Erfassung entzieht.
Gibt es Europa als kulturellen Ort noch? Oder worauf gibt die Erscheinung einen Wink, dass so viele Künstler*innen nicht nur aus Europa, sondern der ganzen Welt in Berlin leben und arbeiten? Diversity United versteht sich nicht zuletzt als Reaktion auf die „Pandemie“. Und da konnte und kann man ganz aktuell beobachten, wie seit März 2020 gerade in Europa die Grenzen ständig wieder dicht gemacht wurden. Nicht nur das „kulturelle() Leben“ wird wegen der Pandemie begrenzt. Grenzziehungen, Grenzschließungen und Grenzwerte haben die Pandemie zu einem Ereignis werden lassen, das die Grenze als ultima ratio der Pandemie-Bekämpfung feiert. Doch so radikal will es Walter Smerling als Sprecher des Kuratoriums mit u.a. Simon Baker, Faina Balakchowskaya und Peter Weibel dann wieder nicht formulieren. Das liegt entweder daran, dass die Ausstellung im November 2020 vor dem siebenmonatigen Dauerlockdown hätte eröffnet werden sollen und sich das Kuratorium derartiges nicht vorstellen wollte oder ein Unzeitgemäßheit wurde übersehen.
„Weltweit ist die Gesellschaft betroffen – Kontaktbeschränkungen, Ausgangsverbote, Reiserestriktionen, unverschuldete Notlagen und nicht zuletzt auch sehr begrenztes kulturelles Leben, geschlossene Theater, Konzerthäuser und Museen. Einschränkungen in diesem Ausmaß hat es noch nicht gegeben. Über die Auswirkungen wird spekuliert, wissenschaftlich wie emotional, und wir wissen nicht, wie ein Leben nach Corona – und das wird es geben – aussehen wird.“[14]
Wieviel Improvisation wäre notwendig gewesen, um das Thema Pandemie stärker mit dem der Vielfalt in Europa zu verknüpfen? Die Pandemie hat ganz gewiss Europa in einer Weise verändert, die wir noch nicht abschätzen können. Über ein Jahr Covid-19-Pandemie haben für Diversity United letztlich dazu geführt, dass diese so gut wie gar nicht in den Arbeiten der zeitgenössischen Kunst vorkommt. Stattdessen führt Henrike Naumann fulminant in ihre Installation Ostalgie (2019) damit ein, dass sie sagt, sie habe einen „Systemwechsel“ darstellen wollen. Deshalb ist eine ganzes Ostwohnzimmer von ihr eingerichtet und um 90° gedreht worden, sozusagen das Habitat des Ostmenschen als dreidimensionales Bild an der Wand. Das Habitat ist begehbar. Die Besucher*innen gehen dann sozusagen an der Wand auf dem Boden. Die Einrichtungsgegenstände vom Flokati bis zum Horn als Hörer des Telefons sind kreative Archäologie und „Psychogramme“.[15] So wichtig Naumanns Archäologie auch sein mag, bekommt ihre Installation als zeitgenössische Kunst doch etwas Unzeitgemäßes durch die Gewalt, mit der die Covid-19-Pandemie immer noch über die Welt fegt.
Worauf könnte das Gefühl der Unzeitgemäßheit von Diversity United einen Wink geben? Walter Smerling schreibt, das „(d)ie Fragen, die wir uns zu Beginn der Vorbereitungen vor über zwei Jahren gestellt haben, (…) geblieben“ seien und sich „ihre Dringlichkeit (…) sogar noch verstärkt“ habe.[16] Die Demokratie ist in Europa während der Pandemie auf die Probe gestellt worden. Um die Konkurrenz von Demos wie Volk und Herrschaft als von der Pandemie stark beeinträchtigt wahrzunehmen, muss man kein Querdenker sein. Statt Demokratie wurde die Rechtsstaatlichkeit gestärkt, zumindest in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hat während der Pandemie eine entscheidende Rolle gespielt. Deshalb rückt Andreas Angelidakis Demos Pink noch einmal ins Blickfeld. Er stellt an der Schnittstelle von Kunst und Architektur ein Verhältnis zur Regierungsform her. Die „Module“ sollen gar aktiv benutzt werden.
„Wie die griechische Architektur einst in die Baukunst Europas Einzug fand, so sind es hier die Fragmente der Moderne, eines Europas in der Krise, die uns aus Athen, der Wiege der Demokratie, erreichen. (…) Jedes Modul besteht aus einer einzelnen, weichen Betonstufe, auf der man stehen kann, um zu sprechen, oder sitzen kann, um zuzuhören.“[17]
Doch – wie so oft – muss ein derartiges Kunstwerk auch bespielt und nicht nur angeschaut werden. Es bedarf daher einer Art Institutionalisierung des Sprechens und Zuhörens. Ohne eine derartige Inszenierung bleibt Angelidakis‘ Arbeit unbelebt. Das Sprechen und das Zuhören in einer Demokratie bedürfen gewisser Organisationsformen. Selbst beim Presserundgang kommt es zu keinem demokratischen Austausch, vielmehr erzählt Walter Smerling nur davon, dass das Kunstwerk dafür gedacht sei. – Diversity United versammelt nicht nur die hier erwähnten 8 Künstler*innen – Andreas Agelidakis, Šelja Kamerić, Alicia Kwade, Fernando Sánchez Castillo, Tristan Schulz, Christian Boltanski, Anselm Kiefer, Henrike Naumann -, sondern 90. Darunter finden sich weitere Große Namen wie Georg Baselitz, Gerhard Richter, Olafur Eliasson, Gilbert & George, Katharina Sieverding, Wolfgang Tillmans etc. mit wirklich beeindruckenden Kunstwerken. Deshalb endet diese Besprechung mit einer interaktiven Selbstperformance mit SKIN von Tristan Schulz und wird fortgesetzt.
Torsten Flüh
Diversity United
Hangar 2 + 3 Tempelhofer Flughafen
bis 19. September 2021
Tickets regulär 10,00 €
Katalog: 19 €
Audioguide: 3 € Leihgebühr (an der Information in der Ausstellung erhältlich)
App: freier Download, Apple + Google Stores
[1] Siehe Šelja Kamerić in: Walter Smerling (Hg.): Diversity United. Zeitgenössische Kunst aus Europa. Köln: Wienand 2021, S. 122-125.
[2] Fernando Sánchez Castillo in: ebenda S. 87.
[3] Tristan Schulz in: ebenda S. 290-293.
[4] eventcrew flughafen tempelhof: Hangar 2.
[5] Siehe: Flughafen Tempelhof und Platz der Luftbrücke in Denkmaldatenbank.
[6] St. Endlich, M. Geyler-von Bernus, B. Rossié: Architektur des Flughafens. (Link)
[7] Flughafen … [wie Anm. 5].
[8] Reichsluftfahrtministerium in Denkmaldatenbank.
[9] Siehe Titelseite der Ausstellungszeitung und Homepage Diversity United.
[10] Vgl. zu Christian Boltanski auch Torsten Flüh: Die Wette mit dem tasmanischen Teufel. Christian Boltanskis Berliner Lektion im Renaissance-Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN Dezember 12, 2010 22:28.
[11] WS/TR: Christian Boltanski. In: Walter Smerling (Hg.): Diversity … [wie Anm. 1] S. 196-199.
[12] Ebenda S. 196.
[13] Ebenda.
[14] Walter Smerling: Diversity United. In: der.: Diversity … [wie Anm. 1] S.43.
[15] HW: Henrike Naumann. In: ebenda S. 174.
[16] Walter Smerling. Diversity … [wie Anm. 14].
[17] HW: Andreas Angelidakis. In: Ebenda S. 70.
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