Exakte Explosionen

Farben – Abgrund – Material

Exakte Explosionen

Zur Deutschen Erstaufführung von Rebecca Saunders to an utterance beim Musikfest Berlin 2021

Das Musikfest Berlin klingt weiter nach, weil eine Musikbesprechung für mich mehr ist als eine Kritik nach welchen Standards auch immer. In die Kompositionen von Rebecca Saunders hatte der Berichterstatter bereits mehrfach Gelegenheit, sich hineinzudenken. Rebecca Saunders knüpft mit ihren Kompositionen an literarische wie philosophische Schriften an, reflektiert Sprachen und spricht von Farben in der Musik. Nun kam es am 9. September zur Deutschen Erstaufführung von to an utterance mit dem sie an die Ambiguität von utterance und eine Formulierung von Italo Calvino aus Exactitude dem dritten Teil von Six Memos for the Next Millennium anknüpft. – Rebekka Saunders wurde mit dem jung und international besetzten Orchester, Enno Poppe als Dirigenten und Nicolas Hodges stürmisch gefeiert.

Rebecca Saunders hat sich nicht zuletzt in Berlin während der letzten Jahre zu einer der vielbeachtesten Komponist*innen ihrer Generation entwickelt. Die Uraufführung von to an utterance hatte am 4. September 2021 in Luzern mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra und Nicolas Hodges als Solisten am Klavier unter der Leitung von Enno Poppe stattgefunden, der kurzfristig für Ilan Volkov eingesprungen war.[1] So hörte das Berliner Publikum am 9. September nicht nur eine Deutsche Erstaufführung, sondern in der Uraufführungsbesetzung die zweite Aufführung überhaupt. Die Uraufführung fand im Rahmen der Lucerne Festival Academy statt, die von Wolfgang Rihm geleitet wird. Luzern in Berlin …

© Adam Janisch

Das Konzertprogramm beim Musikfest war im Vergleich mit dem Lucerne Festival lediglich hinsichtlich der Variationen für Orchester op. 30 von Anton Webern gegenüber den Movements von Igor Strawinsky abgewandelt worden war, weil diese mit George Benjamin und dem Mahler Chamber Orchestra sowie Tamara Stefanovich als Solistin beim Musikfest zu hören gewesen waren.[2] Das Format Konzert spielt nicht zuletzt für to an utterance eine strukturierende Rolle, worauf später detailliert einzugehen wäre. Mit void von Rebecca Saunders als Eröffnungsstück sowie der ca. zehnminütigen Symphonie op. 21 (1927/28) und den Variationen für Orchester op. 30 (1940) mit einer Dauer über ca. 8 Minuten von Anton Webern bereiteten zwei kürzere Kompositionen die Aufführung des Konzerts „for piano and orchestra“ von 29 Minuten vor.[3] Die Komponistin knüpft mit ihrem Komponieren an Webern wie Strawinsky an, wenn man die Programme vergleicht.

© Adam Janisch

Farben als Klangfarben, die mit instrumentalen und räumlichen Forschungen zum Format Konzert einhergehen, hat der Berichterstatter bereits zuvor bedenken können. Bei der Aufführung von void beim Festival ultraschall 2018 mit dem Rundfunk Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Enno Poppe im Pierre Boulez Saal[4], bestach vor allem die Farbigkeit der Schlagwerke, die Rebecca Saunders mit Christian Dierstein und Dirk Rothbrust erarbeitet hat. Bei der Uraufführung von Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin in der Akademie der Künste 2016[5] wurden die Musiker*innen in der Foyer- und Treppenarchitektur des Akademiebaus am Pariser Platz verteilt. Für Yes beim Musikfest 2017[6] komponierte Saunders den Monolog der Molly Bloom aus James Joyes Ulysses, um nicht zuletzt den Klang in seiner Vielschichtigkeit zu erforschen. Die Klangforschung geht bei ihr ebenso in den Bereich der Texte und ihren Klangräumen. So zitiert sie von Italo Calvino folgende Passage für das Programmheft:
„The word connects the visible trace with the invisible thing,
the absent thing, the thing that is desired or feared,
like a frail emergency bridge flung over an abyss.”[7]
(Das Wort verbindet die sichtbare Spur mit dem unsichtbaren Ding, das Abwesende, das Gewünschte oder Gefürchtete, wie eine zerbrechliche Notbrücke, die über einen Abgrund geschleudert wird.)

Der Abgrund (abyss) lässt sich nur notdürftig mit Worten überbrücken, was Italo Calvino bereits 1985 für seine literarischen Charles Eliot Norton Lectures über „poetry in the broadest sense“ an der Harvard University vorbereitet hatte, als er am 19. September 1985 verstarb. Übrigens hatte Igor Strawinsky 1939/40 das Charles Eliot Norton Professorship of Poetry inne. Und auf Italo Calvino folgten 1988/89 John Cage und 1993/94 Luciano Berio als weitere Komponisten unter Schriftsteller*innen, Architekt*innen sowie für 2021/2022 Laurie Anderson[8], die in ihrem Lied Tightrope (1993) ein Drahtseil über den Abgrund spannte, ohne dass sie den Begriff abyss gebrauchte. Rebecca Saunders knüpft insofern mit ihrer Komposition an eine fast schon verzweifelte Geste in den Poetik-Vorträgen von Italo Calvino an. Das Verhältnis von Klavier und Orchester wird von ihr ebenfalls als ein schwieriges komponiert.

Das Klavier bzw. der solistische Pianist, Nicolas Hodges, kommuniziert nicht mit dem Orchester, was nach der Musiktradition z.B. in einem Klavierkonzert mit Orchester das Programm wäre. Es monologisiert vielmehr auf eine fast schmerzhafte Weise, wie Rebecca Saunders im September 2020 notiert hat. Wir wissen nicht, ob sie zu jener Zeit damit auch einen radikalen Kommentar als Komponistin zur Pandemie und des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 und Formen des Wissens geben wollte. In der Konstellation mit dem früheren Text von Italo Calvino folgt Saunders indessen einer musik-philosophischen Haltung, die sie mit dem Konzert auskomponieren möchte.
„The solo piano in this concerto was conceived as an disembodied voice, which seeks its own story in endless variations, wavering, almost painful, and inevitably unsustainable,
on an uncertain quest…”[9]
(Das Soloklavier in diesem Konzert ist als körperlose Stimme konzipiert, die in endlosen Variationen ihre eigene Geschichte sucht, schwankend, fast schmerzhaft und unweigerlich unhaltbar,
auf einer ungewissen Suche…)

© Adam Janisch

In der Konstellation mit Movements von Igor Strawinsky, Symphonie und Variationen von Anton Webern befragt Rebecca Saunders das Format Konzert auf radikale Weise. Denn Anton Webern bricht nach den Sätzen „Ruhig schreitend“ und „Variationen“ die Komposition seiner Symphonie ab, um 1940 wieder mit dem Modus der Variationen einzusetzen. Er fragt damit gleichfalls nach den Formaten von Musik und Konzert, wenn Martina Seeber Symphonie als eine „Suche nach Balance“ wie „Stille“ beschreibt und davon spricht, sie sei ein „Wunderwerk der Reduktion, der man weder die Nüchternheit der zwölftontechnischen Konstruktion anhört, noch (…) die Begrenzung der Mittel den Eindruck von Zeitknappheit entstehen (lässt)“.[10] Die Suche nach Stille wird von Saunders mit dem Soloklavier komponiert, wenn sie diese als ein Paradox formuliert: Das Soloklavier suche nach seiner „finalen Stille durch den eigenen Exzess des Sprechens“[11]. Das Verhältnis von Soloinstrument und Orchester wird von Saunders anders komponiert:
„The piano monologue is caught in limbo among the shadowy prensence of the orchestra. It traces and seeks, blurs and defies. A musical protagonist being, on the precipice of non-being.”[12]
(Der Klaviermonolog ist in der schattenhaften Präsenz des Orchesters in der Schwebe gefangen. Es verfolgt und sucht, verwischt und trotzt. Ein musikalisches Protagonist-Sein am Abgrund des Nicht-Seins. T.F.)

© Adam Janisch

Die Komponistin formuliert genau ihre eigensinnige Art der Instrumentierung. Das monologisierende Klavier bleibt in einer Schwebe von Präsenz und Absenz. Es lässt sich nicht fassen und bleibt im Schatten des Orchesters. Damit wird das Solistische hinsichtlich seiner Präsentation und Performanz befragt. Denn die Virtuosität der Pianistin, des Pianisten wird nie vordergründig gewesen sein. Sunders kehrt damit Klangräume um. Denn das Soloinstrument wird in einem Konzert mit den Solost*innen zu einem bewussten Klangraum. Soloinstrument und Orchester bedingen einander seit Zeiten in der Weise, dass der Solist hervorgehoben und präsent, geradewegs präsentiert werden soll. Doch bei Saunders bleibt er im Schatten des Orchesters und gelangt nie zu einer dominierenden Präsenz. Das ließ sich in der Philharmonie deutlich hören und irritierte auch, weil es den Hörgewohnheiten widerspricht. Anders gesagt, von einem Konzert „für Klavier und Orchester“ können wir wissen, dass das Klavier eine hervorstechende, wenn nicht hervorragende Rolle wird.

Der Titel ihres Konzerts benennt deshalb sehr präzise den Modus des Klangs. Einerseits benennt das Nomen utterance als Äußerung, Ausdruck, Sprechen und Sprechweise die Praxis des Musikmachens selbst. Andererseits zitiert Saunders ebenso den archaischen und literarischen Bedeutungsrahmen von to an utterance mit „the bitter end, the utmost, or last, extremity – to the brink of, at the precipice”/ das bittere Ende, das Äußerste oder letzte Extrem – am Rande, am Abgrund. Das Konzert wird zu einer existentiellen Grenzerfahrung. Es geht um ein performatives Nachdenken/Nachhören von Abgründigem. Abyss und precipice als Synonyme geben einen Wink auf die musikphilosophische Dimension der Komposition. Der Wechsel von Äußerung und Stille sowie die Suche der Stille in einer permanenten Äußerung machen das Stück nicht nur zu einer Fingerübung, sondern zu einem radikalen Nachdenken über Musikvorträge.

Rebecca Saunders nimmt Weberns Musik auf, um sie als Material für die abgründige Äußerung zu verarbeiten. Die Äußerungen kommen als Explosionen oder als Monologisierung. Auf diese Weise wird deutlich, wie sehr das Konzertprogramm auf eine Rahmung der Deutschen Erstaufführung/Uraufführung bezogen ist. Sinn und Sinnlichkeit entstehen aus Klangfarben und Explosionen.
„Weberns Musik ist keine cerebrale Musik, sondern hat eine besondere Sinnlichkeit. Diese ist so delikat, so undurchsichtig. Mich hat vor allem diese unglaubliche klangfarbliche Präzision (…) fasziniert: Dass ein Klang so perfekt gestaltet wird, dass alles Überflüssige ausradiert ist und dass beispielweise eine skelettartige Gestalt wie eine Explosion oder wie ein Faden aus der Stille gezogen ist. Man hat das Gefühl, dass die Musik nur in diesem Moment wahrgenommen werden kann…“[13]  

© Adam Janisch

Enno Poppe dirigierte das Lucerne Festival Contemporary Orchestra mit großer Exaktheit. Die Genauigkeit geht nach einer Formulierung von Italo Calvino mit dem Geheimnis einher, wenn er schreibt: “I’ll end my talk by leaving you with that image [of an antediluvian sea monster imagined by Leonardo da Vinci], so that you might preserve it for as long as possible in your memory in all its clarity and mystery.” Rebecca Saunders’ Kompositionen verlangen wie Weberns nach äußerster Genauigkeit. Die überwiegend jungen Musiker*innen folgten Enno Poppes Dirigat hoch engagiert, so dass to an utterance mit stürmischem Applaus gefeiert wurde. Rebecca Saunders entwickelt Kompositionen über Jahre hinweg. So war to an utterance – study mit Joonas Ahonen am Klavier bereits beim Musikfest Berlin 2020 zu hören, um doch ganz anders zu klingen. Im Kontext der Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven hatte das Stück noch einen ganz anderen Klang.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Lucerne Festival Academy 4: Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) | Enno Poppe | Nicolas Hodges u.a. Luzern 04.09.2021.

[2] Vgl. Torsten Flüh: Händels gefeierte Hass-Kantate. Zum Problem der Kantate Dixit Dominus von Georg Friedrich Händel, Sir John Eliot Gardiner und Sir George Benjamin beim Musikfest Berlin 2021. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2021.

[3] Rebecca Saunders: To An Utterance (2020).

[4] Siehe Torsten Flüh: Neuer Rock und Klangzauber. ultraschall 2018: Ensemble Nikel rockt und das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin dreht an der Klangspirale. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 6, 2018 22:04.

[5] Siehe Torsten Flüh: Klangraumerkundung. Zur Uraufführung von Rebecca Saunders Stasis-Kollektiv mit dem Ensemblekollektiv Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 3, 2016 17:12.

[6] Siehe Torsten Flüh: Gefeierte Mythen der Musik. Das Ensemble Musikfabrik führt Rebecca Saunders` Yes sowie Harrison Birtwistles Cortege und 26 Orpheus Elegies auf. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 14, 2017 17:11.

[7] Zitiert nach Musikfest Berlin: 9.9.2021 Lucerne Festival Contemporary Orchestra | Ilan Volkov: Webern | Saunders. Berlin 2021, S. 13.

[8] Siehe: Charles Eliot Norton Lectures Norton Lectures.

[9] Musikfest: 9.9.2021 … [wie Anm. 7].

[10] Martina Seeber: Mit der Stille als Leinwand. Zur Musik von Rebecca Saunders und Anton Weber. Ebenda S. 12.

[11] Übersetzung T.F. Ebenda S. 13.

[12] Ebenda.

[13] Zitiert nach ebenda S. 11.

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