Welle – Buddha – Elektronik
Das Schicksal der Wellen
Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022
Als sollten die Electronic Works von Éliane Radigue schon vor dem Zeiss-Großplanetarium an der Prenzlauer Allee auf dem Prenzlberg in ein fernöstliches Licht getaucht werden, blühen gerade die Zierkirschen auf dem Vorplatz. Das passt zum musikalischen Schaffen von Éliane Radigue, die mit dem Konzertzyklus nicht etwa wieder-, sondern recht eigentlich erst als Pionierin der Elektronischen Musik entdeckt wird. Sie feierte am 24. Januar 2022 ihren 90igsten Geburtstag in Frankreich. Die Entdeckung ist dem Forscher*innengeist des Festivals MaerzMusik und seines Künstlerischen Leiters Berno Odo Polzer sowie Kamila Metwaly als leitender Kuratorin zu verdanken. In der Männerwelt der Elektronik wurde Éliane Radigue seit den 60er Jahren wegen ihrer Kompositionspraktiken an die Seite gedrängt. Allein in den USA wurde sie von Musikschaffenden in der Elektronik wahrgenommen. In Frankreich, nicht einmal in Paris wurde sie beachtet.
Das Denken der Welle findet sich sowohl in der Elektronik als fließender Strom wie in der Akustik des 20. Jahrhunderts als Amplitude und Frequenz als auch in der Epidemiologie. Wie präsent der Modus der Welle von kontinuierlichen Anstiegen, Abflachungen und Abfällen auch sein mag, beherrscht er die Einteilung der Zeit in unterschiedliche Bewegungen und Verläufe. Die Welle generiert in der Statistik graphisch ein Wissen über Gefahren oder Zuversicht. Als im Frühjahr 2020 das Hashtag #FlattenTheCurve auf dem Verkehrsleitsystem von Berlin angezeigt wurde, ging es darum, den Anstieg der ersten Welle der Covid-19-Pandemie abzuflachen. Als Naturerfahrung spielt die Welle eine ebenso große Rolle wie in der Musik oder in der energetischen Lebenspraxis des Buddhismus. In der elektronischen Musik von Élaine Radigue überschneiden sich früh verschiedene Bereiche der Welle.
Die Welle eröffnet im Unterschied zum Digitalen eine Reihe von Analogien. Éliane Radigue hat wiederholt und ganz besonders in dem von MaerzMusik – Festival für Zeitfragen produzierten Film Éliane Radigue – Échoes von Éleonore Huisse und François Bonnet von der Welle und dem Ozean gesprochen.[1] Die Welle ist für sie eine Art Lebensthema. Die Wortverlaufskurve für Welle im Deutschen zeigt einen kontinuierlichen Anstieg bis zu Beginn der 1970er Jahre. Sie wird nicht nur besonders häufig gebraucht, vielmehr wird mit dem Begriff z.B. 1979 ein weibliches Wissen von Kraft und Stärke verknüpft: „Solange du dagegen ankämpfst, bist du dem Spiel der Wellen ausgeliefert.“[2] Es soll nicht versucht werden, die Wellen zu beherrschen. Frauen sollten sich nach Gerlinde Wilberg vielmehr auf die Wellen einlassen. Eine Welle reißt das Subjekt mit, um oder hinweg. Éliane Radigue hat sich auf verschiedene Wellen eingelassen und sie klanglich erforscht.
Wellen können optisch und akustisch unterschiedliche Wissensarten generieren. Kopula mit -welle setzten sich in den 60er Jahren durch, bis sie in den 1970er Jahren wieder abnahmen und seit Beginn der 2000er Jahre immer weniger Bedeutung haben wie bei der Radiowelle. Die Rede von elektromagnetischen bzw. „electrische(n) Wellen“ kam erst mit dem Artikel des heute unbekannten Physikers A. Elsas 1890 in den Annalen der Physik auf.[3] Heinrich Hertz hatte zuvor immer von „electrischen Schwingung(en)“ geschrieben.[4] Das Wellenmodell ist ein wenig aus dem Gebrauch gekommen. Aber in der Wortverlaufskurve des DWDS wird sich für 2020 und die folgenden Jahre eine neue Welle ausbilden. Es ist davon auszugehen, dass der Wissensmodus der Welle für die Jahre der Covid-19-Pandemie einen kräftigen Ausschlag in der Wortverlaufskurve verzeichnen wird. OWID führt bereits die Abgabewelle, Alphawelle, Ansteckungswelle, Betawelle, Coronawelle, Covid-19-Welle, Dauerwelle, Doppelwelle über Wildtypwelle, Winterwelle bis zweite Welle alphabetisch auf.[5] Eine Dauerwelle gab es früher nur beim Friseur für meine Mutter.
Éliane Radigue erforschte zunächst mit einem Tonbandgerät neue elektronische Klangräume. Im Pariser Apsome Studio von Pierre Henry entstehen zwischen 1967 und 1970 die Stücke Jouet Electronique (1967) und Elemental I (1968). Danach baut sie sich zu Hause ein eigenes kleines Studio mit Tonbandgeräten, Mixer, Lautsprechern und Mikrophonen, wo sie ihre Kompositionspraktiken erweitert. Zumindest im Deutschen spielen die Wellen als Stahlwelle, Tonwelle, Capstanwelle oder Motorwelle in der Konstruktion des Tonbandgerätes eine entscheidende Rolle, um elektronische Klänge zu erzeugen. Die mechanischen Wellen der Tonbandgeräte sind der Bandantrieb, der eine konstante Bandgeschwindigkeit zum Aufnehmen und Abtasten der Tonbänder gewährleistet. Verändern die Wellen ihre Geschwindigkeit, kommt es zu akustischen Effekten, die als Fehler oder Innovation wahrgenommen werden können.
Nach François Bonnet arbeitet Radigue in jener Phase mit dem Larsen-Effekt und der Rückkopplung.[6] Die akustische Rückkopplung wurde zuerst von Søren Absalon Larsen um 1911 entdeckt. Der Larsen-Effekt ist eine besondere Art positiver Schleifenverstärkung, die auftritt, wenn eine Tonschleife zwischen einem Audioeingang z. B. einem Mikrofon-Tonabnehmer und einem Audioausgang z. B. einem leistungsverstärkten Lautsprecher besteht. Beispielsweise wird ein vom Mikrofon empfangenes Signal verstärkt und aus dem Lautsprecher geleitet. Der Ton aus dem Lautsprecher kann dann wieder vom Mikrofon empfangen, weiter verstärkt und dann wieder über den Lautsprecher ausgegeben werden. Radiques Titel Jouet Electronique gibt einen Wink auf ihr spielerisches Verfahren.
Die elektronischen Spiele am Tonbandgerät lenken das Interesse am Klang in jene Bereiche, die als Fehler im üblichen Gebrauch des Geräts und seines Zubehörs gelten. Radigue komponiert ihre ersten Werke wie Jouet Electronique und Elemental I kleinteilig und komplex. Durch eine geringe Lautstärke, die ansteigt und wieder abfällt, ebenso wie durch Tonhöhen entstehen ruhige akustische Wellenbewegungen. Es gibt keine Klänge, die einen Gegenstand imaginieren ließen, vielmehr geht es Radigue um zeitlich strukturierte Klangereignisse im Obertonbereich. Wurden Tonbandgeräte zur Aufnahme und zum Abspielen von Musik, Klangereignissen, ethnologischen Sprachforschungen oder ganzen Hörspielen benutzt, bei denen es um eine Präzision ging, so macht Éliane Radigue die Technik selbst zum Produzenten elektronischer Musik. Ihre Kompositionen erhalten Titel, wie Usral (1969), In memoriam ostinato (1969), Stress Osaka (1969), Opus 17 (1970), Omnhtq“ (1970) und Vice-Versa (1970).
Im Buddhismus und seinen religiösen Praktiken ist der Begriff der Leere entscheidend. Radigue begann zu jener Zeit, quasi in einer Welle der Entdeckung des Buddhismus, insbesondere des tibetischen Buddhismus wie des Zen in Europa und der europäischen Wissenschaft wie mit der Semiologie von Roland Barthes und seinem Buch L’empire des signes 1970 Meditation zu praktizieren. Die Praxis der Meditation als eine singulare Erfahrung zum 悟り Satori im Zen-Buddhismus geht aus einer langen Sitzhaltung und Ausrichtung des Denkens hervor. Sie wird von Roland Barthes mit dem pflanzenlosen Zen-Garten in Verbindung gebracht:
«Nulle fleur, nul pas :
où est l’homme?
dans le transport des rochers,
dans la trace du râteau,
dans le travail de l’écriture.»
(Keine Blumen, kein Fußabdruck: Wo ist der Mensch? Im Transport der Felsen, in der Spur des Rechens, in der Arbeit des Schreibens.)[7]
Éleonore Huisse und François Bonnet finden mit einer Felsformation im Meer ein Bild, das an einen Zen-Garten erinnern kann. Es stellt sich anders als im Zen-Garten nicht die Frage nach dem Menschen. Vielmehr wird durch die Filmsequenz ein meditativer Blick auf das reine Geschehen in Wiederholungen mit minimalen Abweichungen gelenkt. Des Meeres Wellen brechen sich an der Felsformation, die vulkanischen Ursprungs sein könnte. Durch ein Menu-Fenster auf der Website eliane radigue entdecken lassen sich 7 Stücke von Raidque auf Souncloud anwählen. Kyema, Kailasha und Koume als elektronische Musikstücke entlehnen Begriffe aus dem Tibetanischen Buddhismus und werden ab 1975 mit einem Synthesizer des Modells ARP 2500 ausgeführt. Die elektronischen Klänge erinnern dabei an gebetsmühlenartige Wiederholungen oder auch tibetische Blasinstrumente. Vor allem Kailasha (1991) und Koume (1993) mit einer Dauer von 56:08 und 51:17 erinnern an die Meditationspraxis der Trance als einem Hinübergleiten in andere Bewusstseinsformen. Wie Viviane Waschbüsch am Institut für Musikologie der Sorbonne 2015 gezeigt hat, arbeitete Éliane Radigue bei diesen Kompositionen mit Texten des tibetanischen Buddhismus.[8]
Die Kombinatorik von buddhistischen Texten und Artikulationsformen mit der Elektronik des monophonen, analogen, modularen Synthesizers ARP 2500 generiert Kompositionen, die von Éliane Radigue in Zeiträumen von bis zu einem Jahr geschrieben werden. Die Komposition wird selbst zur meditativen Praxis in mathematischen Mustern. François Bonnet schreibt, dass es der Komponistin immer darum ging, „Variablen zu finden“, um auf „bestimmte Parameter ihres Synthesizers“ einzuwirken.[9] Anders als im Modus des Digitalen erfordert der analoge Synthesizer einen konkreten, haptischen Eingriff, um die Klänge zu verändern und zu erzeugen. Radigue musste sich insofern auch bei der Ausführung der Komposition auf ein meditatives Spiel am ARP 2500, den sie mit dem Namen Jules personifizierte, einlassen. Jules wird zu einem Begleiter, mit dem sie kommuniziert. Die Transformation des elektrotechnischen Synthesizers mit seinen Drehknöpfen, Schiebern und Schaltern in „Jules“ gibt einen Wink auf die Komplexität der Klangproduktion.[10] Jules lebt für Éliane Radigue.
Im Planetariumssaal des Zeiss-Großplanetariums wurden am 22. März zwischen 20:00 Uhr und 0:00 Uhr Adnos I – III von 1974 bis 1982 aufgeführt. Mit den Konzerten im Planetarium wird der Bezug zum tibetischen Buddhismus aufgelöst, obwohl er durchaus prägend für die Kompositionen mit Jules ist. Es soll bei der Konzertreihe im Rahmen von MaerzMusik die elektronische Musik im Vordergrund stehen. Doch das Komponieren Éliane Radigues entsteht aus persönlichen Umständen. Die Konzerte sind bis 27. März sind nur vor Ort oder im Livestream zu erleben und zu hören. Die elektronische Musik von Éliane Radigue wurde u.a. auch deshalb marginalisiert, weil sie den Buddhismus und buddhistische Praktiken mit der Elektronik kombinierte. Musikologisch wird weiterhin eher vom Minimalismus ihrer Kompositionen mit dem ARP 2500 geschrieben als danach gefragt, was buddhistische Praktiken am Musikmachen verschieben.
Minimalismus oder Meditation? Das wäre eine Frage an das Komponieren von Radigue. Am 24. März 2022 wurde neben Transamorem – Transmortem (1973) das ebenso kryptische wie einmalige Ψ 847 (1973)im Großplanetarium mit François Bonnet als Klangregisseur aufgeführt. Es sind in diesem Stück vor allem die Anschläge, die die Zeit minimalistische oder meditativ einteilen. Ψ 847 will nichts darstellen, nichts erzählen. Denn der dreiundzwanzigste Buchstabe des griechischen Alphabets in Kombination mit der Zahl 847 bringt nicht mehr als die Einmaligkeit hervor. Die Pianoanschläge werden von wellenförmigen Frequenzen überlagert und untermalt. Die erste Synthesizer-Komposition erforscht buchstäblich die technischen Möglichkeiten des Gerätes, das noch an ein Klavier erinnern kann.
Man muss sich in Élaine Radigues Musik hineinhören, ohne im europäischen Sinne verstehen zu wollen. Nach der elektronischen Phase wendet sich die Komponistin seit 2001 einem Komponieren aus der Begegnung mit Musiker*innen zu, die ihre Musikinstrumente mit ihr erforschen. Die Reihe der Occam Océan Konzerte wendet sich der Einmaligkeit der Musik als Klangforschung zu. Nun hätte der Berichterstatter überaus gern von den Livemusikereignissen des Festivals bereitet, wenn ihn nicht die 5. Welle der Covid-19-Pandemie und die nach wie vor geltenden Quarantäneregeln erfasst hätten. Dennoch lässt sich über MaerzMusik – Festival für Zeitfragen viel zu Éliane Radigue und die aktuelle Musik erfahren und von ihr hören.
Torsten Flüh
Livestreaming
Freitag 25.03. 23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 11
Les Chants de Milarepa I–IV (1983)
Samstag 26.03. 00:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 12
Les Chants de Milarepa V (1983)
23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 13
Triptych (1978)
Sonntag 27.03. 00:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 14
Jetsun Mila (1986)
20:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 15
L’Île re-sonante (2000)
21:30 Éliane Radigue: The Electronic Works 16
7th Birth (1971)
23:00 Éliane Radigue: The Electronic Works 17
Chry-ptus (1971)
Siehe Mediathek MaerzMusik 2022.
[1] MaerzMusik: Der Kosmos von Éliane Radigue: Éliane Radigue – Échos. Ein Film von Eléonore Huisse und François Bonnet. Berlin: MaerzMusik 2022. (Digital-Guide)
[2] DWDS Zitat: Gerlinde M. Wilberg: Zeit für uns – Ein Buch über Schwangerschaft, Geburt und Kind München: Frauenbuchverl. 1979, S. 56 (1992 als Taschenbuch).
[3] A. Elsas: Ueber electrische Wellen in offenen Strombahnen. Annalen der Physik, 1890, S. 53 ff.
[4] Heinrich Hertz: Ueber die Einwirkung einer geradlinigen electrischen Schwingung auf eine benachbarte Strombahn. In: Annalen der Physik, 1888, S. 155 ff.
[5] OWID: Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie. (corona)
[6] MaerzMusik: Der … [wie Anm. 1] Musikalische Untersuchung 2.
[7] Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1981, ohne Seitenzahl (S. 106).
[8] Viviane Waschbüsch: The influence of Tibetan Buddhism in the work of Eliane Radigue. ems 2015-06-03.
[9] MaerzMusik: Der … [wie Anm. 1] Musikalische Untersuchung 4.
[10] Siehe: Eliane Radigue – IMA Fiction Portrait #04 (2006). YouTube 18.02.2012.
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