Brasiliens Mythen der Moderne

Musik – Brasilien – Mythos

Brasiliens Mythen der Moderne

Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin mit dem São Paulo Symphony Orchestra und der São Paulo Big Band

Die Temperaturen in Berlin am 24. August waren den Gästen aus São Paulo würdig. Noch spät am Abend herrschten 27° C wie sonst im Februar in São Paulo. Mit ca. 12 bis 13 Millionen Einwohnern ist die Stadt im subtropischen Klima am Rio Tietê, der fast dreimal so lang ist wie die Spree, natürlich viel größer. Das São Paulo Symphony Orchestra wurde vor 70 Jahren gegründet und befindet sich derzeit als eines der besten Orchester Südamerikas auf Europatournee. Thierry Fischer ist seit 2020 sein Musikdirektor und Chefdirigent. Er ist nicht in Südamerika geboren, sondern als Sohn schweizerischer Eltern in der südafrikanischen Föderation von Rhodesien und Njassaland. Über Hamburg und Zürich begann er seine internationale Musikerlaufbahn, um nun in São Paulo mit seinem Orchester Erfolge zu feiern. Beifallssturm in der Philharmonie nach Amériques.

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Als zweiter Teil des Eröffnungsabends trat die São Paulo Big Band unter der Leitung von Daniel D’Alcântara mit einem Programm der Música Popular Brasileira auf. Das Konzert begann um 21:30 Uhr und forderte nach einem Nachmittag auf der Landzunge zwischen Heiliger See und Jungfernsee im Neuen Garten in Potsdam den Berichterstatter in seinen Kapazitäten heraus. Bereits die Bildunterschrift im Programm des Musikfestes zu einem Foto des einst höchsten Gebäudes Südamerikas dem Martinelli-Hochhaus in São Paulo, spielt auf Claude Levi-Strauss mit einer Verneinung an: „Keine traurige Tropen“. Doch der Begründer des ethnologischen Strukturalismus prägte nach seinen Aufenthalten in São Paulo und dem Amazonasgebiet auch einen neuen Mythenbegriff für Kulturen. Während Levi-Strauss das mondäne Martinelli-Hochhaus mit Palast in den obersten Stockwerken bekannt gewesen sein dürfte, erforschte er mit Tristes Tropique das Menschliche und Ursprüngliche.

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Nicht zuletzt das Konzertprogramm mit Charles Ives, Alberto Ginastera, Heitor Villa-Lobos und Edgar Varèses Amériques (1918-1922, rev. 1927), wohlgemerkt im Plural, stellte die Frage nach dem Mythos Brasilien bzw. den Mythen Brasiliens. Claude Levi-Strauss war in São Paulo und im Amazonasgebiet in der Zeit von 1934 bis 1939 mit Unterbrechungen auf das engste mit der Suche Brasiliens nach sich selbst verknüpft. Heitor Villa-Lobos komponierte 1917 nicht nur seine Symphonische Dichtung Amazonas, sondern auch die Dichtung von einem glückbringenden Urwaldvogel Uirapurú, die der Komponist auf 1934 nachdatierte, damit sie am 25. Mai 1935 in Buenos Aires vom Komponisten selbst als ursprünglich brasilianisch uraufgeführt werden konnte. Der imaginäre Mythos vom Primitiven und Ursprünglichen, der von Heitor Villa-Lobos mit seinen artifiziellen Symphonischen Dichtungen vor dem Hintergrund nationalistischer Politik äußerst erfolgreich gesetzt wurde, lässt sich mit Tristes Tropique bedenken.

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Claude Levi-Strauss ging es in seiner ethnologischen Studie zu den lange fast sprichwörtlichen Nambikwara im Amazonasgebiet, die von der Ausrottung durch Europäer und internationale Wirtschaftsinteressen bedroht waren, nicht nur um ein primitives Naturvolk, sondern um die Frage nach dem Menschen. Die Funktion der Sprache für das Menschliche spielte eine wichtige Rolle. Nach der menschenverachtenden Katastrophe der Shoa fand Claude Levi-Strauss um 1955 „den“ Menschen am Amazonas, der sich ihm zugleich „entzog“:
„Was mich betrifft, so war ich auf der Suche nach dem, was Rousseau ‚die kaum merklichen Fortschritte der Anfänge‘ nennt, bis ans Ende der Welt gegangen. Hinter dem Schleier der allzu weisen Gesetze der Caduveo und der Bororo hatte ich meine Suche […] fortgesetzt … [dann] glaubte ich, diesen Zustand bei einer im Sterben liegenden Gesellschaft entdeckt zu haben […] Doch sie war es, die sich mir entzog. Ich hatte eine auf ihren einfachsten Ausdruck reduzierte Gesellschaft gesucht. Die der Nambikwara war so einfach, daß ich in ihr nur den Menschen fand.“[1]

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Die einfachsten Menschen, die Nambikwara, die Claude Levi-Strauss in Brasilien fand, sollten nicht nur primitive Menschen nach dem rassistischen Konzept des Primitivismus sein, der in den Kompositionen von Heitor Villa-Lobos anklingt. Vielmehr ringt Levi-Strauss nach 1945 überhaupt, um eine Definition des Menschen, nicht im Imaginären aufgeht, sondern sich der Bestimmung „entzog“, nachdem nicht nur in Deutschland faschistische Regime den Juden und anderen Menschen ihre Menschenwürde abgesprochen hatten. Die Moderne, auch die brasilianische Moderne in der Musik mit Heitor Villa-Lobos ist zutiefst in die nationalistische Politik des „diktatorisch agierenden brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas“ verstrickt.[2] Denn er begleitete Vargas im Mai 1935 in der Funktion eines „Staatskomponisten“[3] nach Buenos Aires, wo Uirapurú gleichsam als Staatskomposition Brasiliens erklang. Vargas pendelte so lange als möglich zwischen einer Allianz mit Hitler-Deutschland und den USA hin und her. Brasilianische Juden wurden als unbrasilianisch markiert.

©  Fabian Schellhorn

Doch das Konzertprogramm begann gerade nicht im Amazonas, sondern in New York und dem Central Park in the Dark (1906-09, rev. Ca. 1936) von Charles Ives. Anders gesagt: für die brasilianische Moderne gaben Spuren der Musik in New York, Paris und Berlin den Takt an. Denn Edgar Varèse hielt sich ab 1907 wenigstens zeitweilig in Berlin auf, um Kontakte zu Busoni, Richard Strauss, Arnold Schönberg herzustellen und zu pflegen, während Villa-Lobos und Varèse ab 1928 einen persönlichen Kontakt pflegten. Das Konzertprogramm, das sich ab 30. August in der Mediathek des Musikfestes Berlin nachhören lassen wird, schlägt insofern keine chronologischen, sondern motivische Spuren vor. Denn Central Park in the Dark des Autodidakten und zu Reichtum gekommenen Versicherungsunternehmers Charles Ives passt in keine akademische Schule der Komposition. Was und wie er komponiert hatte, schimmert in der umständlichen und mehrdeutigen Titelgebung zwischen „A Contemplation of Nothing Serious or Central Park in the Dark in The Good Old Summer Time““ durch.

©  Fabian Schellhorn

Die kurze, ca. 6minütige Komposition als ein Nachdenken über nichts Ernstes oder den Central Park im Dunkeln etc. gibt zumindest mit dem „Nothing Serious“ einen Wink auf eine, sagen wir, amouröse Begegnung. In Liebesdingen wird zu jener Zeit zwischen Ernstem und Nicht-Ernstem unterschieden. Ebenso dürfte der New Yorker Central Park im Dunkeln als ein Ort für ein Rendezvous denkbar werden. Die Kürze der Komposition deutet wenigstens etwas Erinnerns wertes, aber schwer zu formulierendes an. Überhaupt wurde die Komposition zwar noch zu Lebzeiten von Charles Ives, aber doch erst am 11. Mai 1946 in der Juilliard Graduate School aufgeführt. In Kenntnis der europäischen Kompositionspraktiken emanzipiert er sich indessen auch von diesen, um nicht nur ein städtisches Naturidyll klingen zu lassen. Immerhin dürfte Ives die Künstlichkeit der großstädtischen Parklandschaft bewusst gewesen sein. Thierry Fischer und das São Paulo Symphony Orchestra ließen mit den Klangfarben des Stücks aufhören.

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Das Konzert für Violine und Orchester op. 30 von Alberto Ginastera von 1963 mit Roman Simovic als Solisten setzte mit seinen eröffnenden Kadenzen sogleich auf die Virtuosität, um im dritten Satz Niccolò Paganinis berühmtes 24. Caprice a-Moll zu zitieren. Ginastera knüpft in seiner Komposition an einen durchaus unzeitgemäßen Expressionismus starker Gefühlsausbrüche an. Zugleich wird die Expressivität als südamerikanisch bzw. argentinisch kultiviert. Wolfgang Rathert weist daraufhin, dass Ginastera im Violinkonzert an „Sergej Prokofjews 2. Klavierkonzert mit einer zerklüfteten mehrminütigen Solo-Kadenz“ musikhistorisch anknüpft.[4] Zugleich wird der zweite Teil mit dem Orchester in sechs „Studi“ höchst virtuos ausgearbeitet, so dass die Komposition nicht nur dem Solisten, vielmehr noch den Solisten im Orchester erlaubt ihr virtuoses Können unter Beweis zu stellen. So konnten der Roman Simovic und das Orchester unter der Leitung von Thierry Fischer derart brillieren, dass der Solist als Encore Eugène Ysayes Sonata No.3 in D minor „Ballade“ spielte.

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Nach der Pause folgten Uirapurú und Amériques, die in ihrer motivischen Kompositionspraktik gegenübergestellt wurden. Uirapurú wird von Heitor Villa-Lobos als eigenständig nationale Musik des „Brasilianismo“[5] konzipiert, indem er Strawinskys L’oiseau de feu ins Brasilianische transformiert. Der Wechsel von Melodischem und Rhythmischen, der in eine Emphase mündet, als Ballettmusik und bei Villa-Lobos als Symphonische Dichtung mit brasilianischem Klangmaterial orientiert sich an der akustischen Konstruktion des vermeintlich Russischen bei Strawinsky.[6] Man kann Villa-Lobos-Kompositionspraktik und nationale Rahmung kritisieren oder gar verwerfen. Strawinsky durchbrach mit seinen Kompositionen nicht zuletzt ein klassisches Musikwissen. Dass sich die Musik im „Brasilianismo“ verfangen konnte und bereitwillig als musikalische Identität aufgenommen wurde, ist nicht allein dem Komponisten anzukreiden. Vielmehr lebt davon eine Musikrezeption, die die Arbitrarität der Klänge festlegen will. Vom Publikum in der Philharmonie wurde nicht unbedingt nur die musikalische Exzellenz bejubelt, vielmehr wollte es das Brasilianische hören.

©  Fabian Schellhorn

Mit fast noch größerem Jubel wurde Edgar Varèses Amériques belohnt, während doch manche akustische Nuance der Moderne wie das Hupen, ja, Krach, den es in der Komposition gibt, zurückgenommen wurde. Insbesondere der Einsatz der Sirene, der Bootspfeife und der Windmaschine steht im krassen Gegensatz zu Charles Ives‘ Central Park in the Dark. Gleichwohl dockt auch Varèse an Strawinsky an. Die wiederholte Praxis des Crescendos reißt die Hörerinnen mit. Wie die anschwellende Größe der amerikanischen Kontinente und nicht zuletzt ihrer Großstadtarchitektur baut sich die Komposition zu einem überwältigenden Klangerlebnis aus. Insofern das Stück als Abschluss und Höhepunkt des Programms gut gesetzt. Doch in welche Richtung soll man die Amerikas akzentuieren? In den Tumult der Großstadt New York und das 1922 für São Paulo geplante und 1929 fertiggestellt Martinelli-Hochhaus, das sich mit New York messen will? Oder in den überwältigenden Urwald des Amazonas? Seit den 1920 wuchs die Stadt São Paulo zur führenden Industrieregion Brasiliens. Vielleicht ließe sich der Programmablauf auch so hören, dass ähnliche Kompositionspraktiken unterschiedlich gerahmt worden waren.

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Die São Paulo Big Band trug bis hin zur Tropicana die Música Popular Brasileira mit reichen Improvisationen so sehr zum Erfolg, dass nahezu jede Improvisation vom Publikum beklatscht wurde. Die Improvisation im Jazz knüpft an das Virtuosentum des 19. Jahrhunderts an. In der südamerikanischen Musik erinnert durch die unzeitgemäße Überschneidung von Expression als Virtuosität ausgerechnet Alberto Ginasteras Violinkonzert an die Kunst der Improvisation. Die Unterscheidung von ernster und unterhaltender Musik, die in der Música Popular Brasilieira mitschwingt, war immer eine trügerische, die Traditionskonzepte heraufbeschwört. Es war übrigens die in Paris geborene Deutsch-Italinierin Caterina Valente, die in Brasilien und International mit der Música Popular Brasileira Welterfolge feierte. Doch beide Musik- und Konzertformen geben vielmehr einen Wink auf Kombinationspraktiken, die immer etwas Neues hervorgebracht haben, das nachträglich als nationale oder subjektive Identität verortet wurde.

© Fabian Schellhorn

Im globalen Konzertbetrieb funktionieren Identitäten als Alleinstellungsmerkmal noch immer, obwohl die Orchester höchst internationalisiert sind. In den Spitzenorchestern spielen Musiker*innen aus vielen bis sehr vielen Nationen und von unterschiedlichen Herkünften, um einen Klangkörper zu erzeugen. Das gilt auch für das São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer, vielleicht allein schon wegen der Größe weniger in der Big Band. Auch die Música Popular Brasileira hat sich aus dem Showbusiness, Caterina Valente, und Mythen herausgebildet. In der Berliner Philharmonie bleibt das Publikum auf seinen Sitzen, während man sich ebenso gut hätte vorstellen können, in den Sitzreihen zu tanzen. Doch im Konzert als Gemeinschaftspraxis herrschen nun einmal bestimmte kulturelle Regime, die das Tanzen verhinderten.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2024
bis18. September 2024

Mediathek
Eröffnungskonzert
São Paulo Symphony Orchestra mit Thierry Fischer
Verfügbar ab 30. August 2024, 16:00 bis 29. September 2024

São Paulo Big Band
Verfügbar bis 25. September 2024


[1] Claude Levi-Strauss: Traurige Tropen.  (dt. v. Eva Moldenhauer) Frankfurt am Main: Suhrkamp wissenschaft, 1978, S. 314.

[2] Wolfgang Rathert: Klingende Brücke über den Atlantik. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 24.8.2024, São Paulo Symphony Orchestra … Berlin 2024, S. 12.

[3] Ebenda.

[4] Ebenda S. 11.

[5] Ebenda S. 12.

[6] Vgl. zu Strawinsky Torsten Flüh: Visuelle Musik. Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2021.
Siehe zur Konstruktion nationaler Musik insbesondere an der verspäteten Russlands auch: Torsten Flüh: Sehnsucht nach einem Ich und Du. Zu Lieder und Dichter*innen: Nur wer die Sehnsucht kennt mit Yoko Tawada im Foyer der Deutschen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. März 2024.

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