Besserwisser und Neunmalkluge

Impfung – Verschwörungstheorie – Wissen

Besserwisser und Neunmalkluge

Zur Mosse-Lecture Die Besserwisser. Wissenschaftsskepsis, Verschwörungsdenken und die Erosion der Wirklichkeit von Eva Horn

Mit der, wie neuerdings gesagt wird, pandemiebedingten Verzögerung von ziemlich genau einem Jahr eröffnete am Donnerstagabend Stefan Willer die Mosse-Lectures zum Semesterthema Verschwörungstheorien im Livestream auf YouTube. Er führte in das Thema ein, indem er u.a. die Studie Verschwörungstheorien und Denkverzerrungen in der Covid-19-Pandemie aus der Fakultät Psychologie der Universität Basel erwähnte. „Typische Coronaleugner sind „gestresster und jünger““ titelte die Badische Zeitung sogleich.[1] Sind Verschwörungstheoretiker ein Fall für die Psychologie oder gar Psychiatrie? Die in Wien lehrende Professorin für Neuere Deutsche Literatur Eva Horn sieht das anders. Während sie 2020 einen Vortrag zu Verschwörungstheorien in der Literatur halten sollte und wollte, hielt sie nun einen komplett neuen, auf die Covid-19-Pandemie und ihre Narrative fokussierten Vortrag.

Eva Horn rückt mit der „Wissenschaftsskepsis“ die Denkfigur der Skepsis oder Kritik für die Debatte um die Verschwörungstheorien in die Aufmerksamkeit. Der abwertend gebrauchte Begriff Besserwisser wird von ihr zunächst als eine Form der Skepsis aufgewertet. Das unberechtigte Besserwissen soll nicht sogleich verworfen, sondern ernst genommen werden. Denn Eva Horn möchte eine Spaltung der Gesellschaft vermeiden und führt dafür Hannah Arendts Diktum von einer „geteilten, faktischen Welt“ als Grundlage der Gesellschaft an. Verschwörungstheorien ließen sich zunächst einmal als eine Form der Wissenschaftsskepsis verstehen, die nicht per se auszugrenzen seien. Der Bewegung der Querdenker und QAnon schenkt sie in ihrem Vortrag besondere Beachtung, weil diese vermeintlich über politische Lager hinweg eine Vergemeinschaftung und ein Gemeinschaftsgefühl anböten. Worin unterscheiden sie sich? Und wie lässt sich eine „Erosion der Wirklichkeit“ verhindern?

Eva Horn eröffnet ihren Vortrag mit der verstörenden Erfahrung, dass ein us-amerikanischer Freund „aus (ihrem) persönlichen Umfeld“ einen Brief an sie adressiert hatte, der das Verschwörungsdenken auf „unpersönlich(e) und feindselig(e)“ Weise reproduzierte und von dem sie sich „persönlich getroffen“ fühlte. Sie las den Brief als „Gegenwartsdiagnose“ vor. Er verwendet Ende 2020 weniger argumentativ als vielmehr „assoziativ“ Textbausteine des Verschwörungsdenkens von den „Linke(n) gegen Trump“, „Klimawandel“ über die Behauptung, die Linke sei „marxistisch“ bis zur „Agenda 21“ mit persönlicher Adressierung. Während der Covid-19-Pandemie hat das Verschwörungsdenken eine neue Qualität und Quantität erreicht.[2] Fast jede/r kennt nicht nur an Sars-Cov-2 erkrankte oder gar verstorbene Menschen, sondern auch Freund*innen, die erst schleichend, dann plötzlich ein Verschwörungsnarrativ übernehmen. Das führt zu Verunsicherungen und sozialen Verwerfungen. Unser Erfahrungswissen ist seit der einschneidenden, wie ich es nenne, Wissenserschütterung[3] im März/April 2020 im persönlichen Umfeld um eine Variante erweitert worden, auf die wir gern verzichtet hätten.

Wie funktioniert Besserwisserei, fragt Eva Horn in ihrem Vortrag. Indem sie mehrere aktuelle Beispiele anführt, kann Horn einige Funktionsweisen beschreiben. Meistens handelt es sich um „Halblaien“, die mit einem wissenschaftlichen Hintergrund oder gar akademischen Titel über einen anderen fachfremden Wissenschaftszweig schreiben. Sie sind an „keiner wissenschaftlichen Debatte“ interessiert, sondern beziehen sich „parasitär auf vorhandenes Wissen“. Besserwisserei formuliert Skepsis gegenüber der Wissenschaft, ohne dass sie an einer „Verbesserung“ interessiert wäre, weil sie das Wissen nur „politisieren“ will. „Diese Wissenschaftsskepsis gibt es“, nach Eva Horn, „schon lange“. Als Beispiele führte sie die Tabaklüge, die Klimawandelskeptiker und die Impfgegner an. Sie zitierte dafür das Buch wie den Begriff „Merchants of Doubt“ (2010) der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Naomi Orekes. Der Vortrag von Eva Horn lässt sich nun auf dem YouTube-Kanal der Mosse-Lectures verfolgen. Ich möchte mit meiner Besprechung des Vortrags an diesen anknüpfen, Eva Horns Beschreibung des QAnon-Narrativs als ein äußerst mächtiges berücksichtigen und mikrologisch analysieren, wie Neunmalkluge in der aktuellen Impf-Debatte vorgehen und insbesondere mRNA-Impfstoffe verleugnen.   

Im dritten Teil ihres Vortrags untersucht Eva Horn den „kritische(n) Geist“ als einen, der mit dem Versuch einer Alternative Spielraum gegenüber einer „expertokratischen Politik“ zurückgewinnen will. Sie fragt: „Was heißt Alternative?“ und knüpft dafür an Bruno Latours „matters of concern“ an.[4] Prototypisch für „alternative Fakten“ führt sie Kellyanne Conways Begründung vom 22. Januar 2017 als eine „Verbesserung“ an: „additional facts and alternative information“. Damit habe Conway nach Kant die Kategorie der Tatsache aufgelöst. Über die „alternativen Fakten“ sei eine „breite Vernetzung“ als „Formen der Vergemeinschaftung“ entstanden, die sich insbesondere in der eher national geprägten Querdenker-Bewegung und unter den global ausgerichteten QAnon-Anhängern sammelten. Diese trat zuletzt am 6. Januar 2021 mit der Erstürmung des Capitols in Washington in Erscheinung. QAnon-Anhänger denken sich international und nehmen eine globale Perspektive ein. QAnon als Person oder Gruppe artikuliert sich seit Oktober 2017 in rassistischer und sexistischer Weise, um während der Covid-19-Pandemie enorm an Aufmerksamkeit und Zulauf gewonnen zu haben. Anhänger*innen nennen sich wiederholt Forscher/in. Sie organisierten sich nach dem Modell einer Alternative zwischen der blauen und der roten Pille wie sie in dem Film Matrix (1999) von der Figur Morpheus (Laurence Fishburne) dem Hacker Neo (Keanu Reeves) zur Wahl zwischen heiler Traumwelt und gefälschter Realität gestellt werde.  

„Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus.“

Wir befinden uns im Moment in einer Debatte aus frei flottierendem Wissen. Selbst der Ressortleiter Wissen und Herausgeber von Gesundheit & Digital, ZEIT ONLINE Sven Stockrahm verarbeitet in seinem Video Sie wurden geimpft? Was sie nun wissen sollten vom 27. April 2021 8:27 Uhr ein anzweifelbares Wissen über die Wirkungsweise der neuen mRNA-Impfstoffe. Er spricht in seinem peppig aufgemachten Video über die „Nebenwirkungen“ und möchte die Angst davor nehmen. Den entscheidenden Unterschied zwischen mRNA und herkömmlichen Impfstoffen erklärt er nicht. Dadurch werden alle Impfstoffe gegen Sars-Cov-2 als „Corona-Impfung“ syntagmatisch in einen Topf geworfen:
„Impfreaktionen treten direkt nach der Impfung auf und sind dafür ein Zeichen, dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen. Man spricht auch von einem Anregen des Immunsystems. Die häufigsten Impfreaktionen nach einer Corona-Impfung sind etwa Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit, Schüttelfrost oder auch Schmerzen an der Einstichstelle. Manchmal kommen auch Übelkeit und Fieber hinzu. Diese Reaktionen sind meist schwach bis mäßig ausgeprägt und verschwinden nach ein paar Tagen.“[5]

„Wenn ich dir einen Rat geben darf: Sei ehrlich.“

Es sind oft die Unschärfen der Syntax, die wie bei Sven Stockrahm zweifelhaftes Wissen generieren, das seinerseits nach Verknüpfungen sucht und gleich einem informationellen Virus frei an Narrative andockt. Anders als bei Bakterien basiert das Wissen von den Viren seit den 1950er Jahren auf einem informationellen Wissensmodell, wie ich im Februar mit der „Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie“ rekonstruiert habe.[6] „Anhand der Informationen kann der Körper dieses Antigen selbst produzieren: Die mRNA überträgt die Informationen für die Produktion des Antigens an unsere Zellmaschinerie, die Proteine herstellt“, erklärt BioNTech. Stockrahms Formulierung, „dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen“, ist für die neuen mRNA-Impfstoffe unscharf, wenn man die Beschreibung des Herstellers BioNTech heranzieht.[7] Denn er funktioniert anders als bisherige Impfstoffe. Ich werde darauf zurückkommen. Selbst bei herkömmlichen Impfstoffen treten „direkt nach der Impfung“ z.B. an der Einstichstelle, keine „Impfreaktionen“ „an der Einstichstelle“ gegen „das Virus“ auf. Vielmehr könnte es zu allergischen Reaktionen gegen Eiweiße z.B. aus Hühnereiweiß als Träger des Virus kommen. Die wissen-popularisierende Formulierung eines „Zeichens“ dafür, „dass das Immunsystem anfängt, das Virus zu bekämpfen“, lässt sich wenigstens als schwierig bewerten.

Neben den Unschärfen in den Formulierungen von fachlich unterschiedlichem Wissen treten aktuell besonders häufig solche auf, die der Regierung, den Wissenschaftlern und Impfstoffproduzenten eine Vorenthaltung von Wissen unterstellen. Dadurch machten sich die Akteure vermeintlich verdächtig. So schreibt Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle als Züricher Institutsleiterin von Dialog Ethik „Wissen und Kompetenz im Gesundheitswesen“ in ihrem „Kommentar zur Zeit vom 14. April 2021“ als „Einladung zum Dialog in der Covid-19-Pandemie“: „Ein Faktenstreit, der die Beteiligten weiterführt, setzt voraus, dass die Faktenquellen frei zugänglich und die Beteiligten bereit sind, sich auch auf Fakten einzulassen, die ihre Meinung in Frage stellen.“[8] Die im höchsten Maße elastische Formulierung einer Voraussetzung („setzt voraus“) unterstellt rhetorisch versiert, „dass die Faktenquellen“ eben nicht „frei zugänglich“ sind. Anders gesagt, wenn „die Faktenquellen“ nicht „frei zugänglich“ sind, dann darf auch alles behauptet und angezweifelt werden. Man könnte das einen eleganten Züricher Stil der Theologin Baumann-Hölzle nennen.

„Wie du zweifellos vermutest, bin ich Morpheus.“

Die Elastizität der Formulierungen in der Sars-Cov-2-Debatte bietet nicht nur Alternativen im Wissen um das Impfen und Impfstoffe an, vielmehr werden mir ihr auch Begriffe gesetzt, die im semantischen Spielraum von Angst und Empathie ansetzen. So poppte in Sozialen Netzwerken und Chat-Gruppen der Begriff „Pferdeeiweiß“ auf, der sogleich auf die BioNTech-Impfstoffe angewendet wurde. Die Anwendung lautete umgehend in den Netzwerken, dass BioNTech mit „Pferdeeiweiß“ verimpft werde, was zu Nebenwirkungen führen könne. Eine frischgeimpfte Veganerin schickte dann an ihre „Gruppe“ eher scherzhaft und doch nicht unbesorgt zurück, dass sie nun „Pferdeeiweiß“ in sich trage. Woher kommt das „Pferdeeiweiß“? – Selbsterklärend wurde übrigens hinzugefügt, dass das Pferdeeiweiß vermutlich aus nahrhafter Stutenmilch produziert werde, mit der der Sohn als Kleinkind auf ärztlichen Rat therapiert worden sei. Die Wissensprozesse spielen sich damit nicht zuletzt auf sehr unterschiedlichen Wissensebenen zwischen Gerücht und Erfahrungswissen ab.

„Ich will Dir sagen, wieso du hier bist.“

Eine Google-Suchanfrage für Pferdeeiweiß ergab, dass ausführlich im Internet über „Eiweiß in der Pferdefütterung“ debattiert wird.[9] Der Google-Algorithmus hatte „Pferdeeiweiß“ in „Pferd Eiweiß“ umgewandelt. – „Die Fütterungsempfehlung für ein 600kg Pferd liegt bei ca. 9kg Heu (1,5kg Heu je 100kg LM). Heu enthält im Durchschnitt 7-10% Eiweiß, was bei 9kg 630-900g Eiweiß bedeutet. Gras enthält zwar relativ wenig Eiweiß, jedoch hat das Pferd nach einigen Stunden etliche Kilo davon aufgenommen und somit eine große Menge Eiweiß. 06.10.2019“.[10] – Pferdehalter*innen beschäftigt die Eiweißversorgung ihrer Pferde insofern sehr. Es wäre nun leicht den Google-Algorithmus als lächerlich zu verurteilen. Doch die algorithmische Veränderung von „Pferdeeiweiß“ in „Pferd Eiweiß“ geschieht auf ähnliche Weise in Lese- oder Hörprozessen, die an der Generierung von Narrativen und Wissen beteiligt sind. Google hatte in Nanosekundenschnelle gewissermaßen im Horizont seines Wissens eine Berichtigung der Suchanfrage vorgenommen.

„Jeder muss sie selbst erleben.“

Um es einmal mit dem Algorithmus zu formulieren: Wenn Google sich nach dem Entweder-Oder-Prinzip für „Pferd Eiweiß“ als Ergebnis entscheidet, weil nach der Kombination von Pferd und Eiweiß offenbar häufiger als nach „Pferdeeiweiß“ gesucht wird, dann muss die Suche genauer eingegrenzt werden. Dafür braucht es kein Fachwissen über „Pferdeeiweiß“. Es ist auch ziemlich unerheblich, ob sich „Pferdeeiweiß“ überhaupt von anderen tierischen oder menschlichen oder gar pflanzlichen – „Heu“ – Eiweißen unterscheidet. Es geht um reine Kombinatorik und Sprachprozesse, Lese-Schreib-Vorgänge. Die Verfeinerung der Suche auf „Pferdeeiweiß Biontech“ generierte – immerhin – 1 Suchergebnis, in dem als „Gedanken zur Corona Impfung“ Dr. med. Peter Beck „im Januar 2021“ den semanitschen Bogen zum „Pferdeeiweiß“ und „Schlangengifte“ schlägt:
„Man verfährt dabei so, dass von einem oder vielen Spendern Blut abgenommen und die Antikörper, die gegen das Virus gebildet wurden, herausgewaschen, aufbereitet und dem Menschen, der akut gefährdet ist, gespritzt werden, z. B. bei der Tetanusimpfung mit Tetagam. Gegen Schlangengifte hat man Antiseren z. B. aus Pferdeeiweiß entwickelt, die man den Menschen spritzt. Das körperfremde Pferdeeiweiß wird wieder rasch abgebaut.“[11]

„Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland.“

„Das körperfremde Pferdeeiweiß“ sorgt im „eigenen“ Körper zwangsläufig für ein Unwohlsein. Wobei es eben die eigensinnige Kombinatorik von „Schlangengifte“, „Antiseren“, „Pferdeeiweiß“ und eigenem Körper ist, die eine narrative Spur legt, bevor Dr. med. Beck im Band „Corona-Krise. Ein Ruf zur Umkehr. Neu mit Gedanken zur Corona-Impfung“ Sars-Cov-2 als Virus überhaupt benennt. Beck referiert kenntnisreich und rhetorisch sehr gekonnt die Wirkungsweise der mRNA – „Diese Transporter-Viren sind also mit einem Taxi vergleichbar.“[12] –, um dann doch aus „christlicher“ Perspektive massive Zweifel zu säen. Er wendet fast lehrbuchartig jene rhetorischen Bausteine an, die Eva Horn in ihrem Vortrag beschrieben hat, indem er medizinisches Fachwissen zitiert und mit dem „Taxi“ popularisiert. Formuliert wird an einem argumentativen Umschlagpunkt dann allerdings mit dem Hybris-Narrativ eines „eigenmächtig(en)“ Handelns der Menschen gegen die „Souveränität Gottes“:
„Manche, auch christliche Wissenschaftler sagen, dass Viren-RNA schon immer bei Infektionen in unsere Zellen gekommen sind und dass wir diesen Vorgang mit dem RNA-Impfstoff nur nachmachen. Das ist richtig, aber einmal liegt es in der Souveränität Gottes, Viruserkrankungen bei uns zuzulassen aber diesmal führen wir uns die Virus-RNA selbst, eigenmächtig zu.“[13] 

Naturwissenschaft und sogenannte „christliche Wissenschaft()“ werden von Beck rhetorisch versiert verknüpft und kombiniert, um aus einer Mischung von Golem-Mythos[14] bzw. künstlichem Menschen, Genforschung und Ethikdebatte den Schrecken eines Verbrechens gegen Gott auszumalen. – „Die Zelllinie HEK 293 wurde im Jahr 1973 in einem Labor in der Universität Leiden entwickelt, also in den Niederlanden, wo die Forschung an embryonalen Zellen erlaubt ist.“[15] – Im Horizont des „Pferdeeiweiß“ wird das naturwissenschaftliche Verfahren der „mRNA-Impfstoffe“ durchaus korrekt referiert, um mit der „Zelllinie HEK 293“ ethische Bedenken nach dem „deutschen Embryonenschutzgesetz“ einzustreuen und schließlich die Praxis der „Corona Impfung“ als Hybris gegen Gott ganz zu verwerfen. Gleichsam informationstechnologisch bleibt das körperfremde „Pferdeeiweiß“ im Debattenstrom hängen, das von den „christlichen Wissenschaftler(n)“ abgekoppelt frei in den Medien kursiert.
„So ist es auch unsere Aufgabe als Christen, für unsere Obrigkeit zu beten, dass sie sich an Gott wendet, so wie sich jedermann mit seinen Anliegen an Gott wenden kann, vielleicht auch mit dem Eingeständnis, dass man es bisher ohne ihn schaffen wollte. Vielleicht auch mit der Einsicht, dass Krankheit und Tod auf Dauer nicht zu vermeiden sind.“[16]

Es ist insofern nicht nur nicht so, dass „Faktenquellen“ etwa nicht „frei zugänglich“ sind, wie Baumann-Hölzl unterstellt hatte, vielmehr werden die Fakten als Wissen von Beck in einer Gotteserzählung und Eschatologie mit dem Anspruch auf Ethik verworfen. Seitdem sich der Deutsche Ethikrat, gegründet am 11. April 2008, dessen Mitglieder vom „Präsidenten des Deutschen Bundestages ernannt“ werden[17], im März 2020 in die Debatte um Maßnahmen in der Covid-19-Pandemie beteiligt und seither Stellungnahmen, Positionspapiere und Ad-hoc-Empfehlungen wie zuletzt am 4. Februar 2021 „Besondere Regeln für Geimpfte?“ veröffentlicht[18], steht die Ethik als Quasi-Faktenwissen auch bei Neunmalklugen hoch im Kurs. Am 18. Dezember 2020 veröffentlichte der DER eine Ad-hoc-Empfehlung zu „sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie“, die das „Gebot der Distanz“[19] insbesondere hinsichtlich der „Alten- und Behindertenpflege“ abwog. Eine ausdrückliche Berücksichtigung findet die „Sterbebegleitung“, die während des ersten Lockdowns im März, April und Mai 2020 nicht bzw. nur individuell geregelt werden konnte. 6 Monate später erfolgte eine ausführliche Würdigung, was durchaus als eine erstaunliche Beschleunigung einer Wissenschaftsdebatte anerkannt werden sollte:
„Sterbende müssen die Möglichkeit der kontinuierlichen Begleitung durch An- und Zugehörige wie auch – falls erwünscht – durch Seelsorgende und/oder ehrenamtlich in Hospizdiensten Tätige erhalten.“[20]

Die Ethik hat nicht nur wegen der Kontaktbeschränkungen oder des „Gebot(s) der Distanz“ während der letzten 12 Monate erheblich an Aufmerksamkeit gewonnen. Viele Bundesbürger fühlen sich vielmehr zum ersten Mal in ihrer Wahrnehmung von der Ethik und einer Diskussion um ihre Grund- und Freiheitsrechte angesprochen. Doch besonders „Querdenker“ vereinnahmen nun eine ethische Argumentation als faktisches Wissen. Die Stellungnahmen und Ad-hoc-Empfehlungen des Deutschen Ethikrates sind allerdings äußerst komplex formuliert, wie beispielsweise die Frage nach den „Besondere(n) Regeln für Geimpfte?“ zeigt. Diese komplexen Abwägungen und Empfehlungen haben immer auch das temporäre Nicht-Wissen und „Unsicherheiten“ im Blick, was ein grundsätzliches Problem für Besserwisser und Neunmalkluge darstellt, weil sie sich ein für sie unumstößliches Wissen wünschen.
„Angesichts der Unsicherheiten hinsichtlich der Infektiosität geimpfter Personen unterliegen diese derzeit weiterhin den allgemeinen Freiheitsbeschränkungen. Je mehr aber mit dem Fortschreiten des Impfprogramms besonders gravierende Risiken reduziert werden und verbesserte Kenntnisse hinsichtlich der Nichtansteckungsfähigkeit vorliegen, desto eher sind individuelle Rücknahmen von Freiheitsbeschränkungen für geimpfte Personen vorstellbar und gegebenenfalls geboten.“[21]

Bleibt also die Frage nach dem „Pferdeeiweiß“ und ob überhaupt bei einem mRNA-Impfstoff wie Comirnaty von BioNTech/Pfizer Nebenwirkungen wie bei „herkömmlichen Impfstoffen“ mit „viralen Proteinen“[22], zum Beispiel bei jährlichen Grippeschutzimpfungen auftreten können? Der menschliche Körper und sein Immunsystem reagieren anders. Nach jeder anderen Schutzimpfung wird beispielsweise empfohlen, die nächsten 24 Stunden keinen Sport zu machen, um den Körper nicht zu schwächen. Dieser Hinweis fehlt nicht nur zufällig, sondern das amtliche „Aufklärungsmerkblatt“ des zuständigen Robert-Koch-Instituts bemerkt ausdrücklich: „Nach der Impfung müssen Sie sich nicht besonders schonen.“[23] Ein weiterer Indikator für die Verschiedenartigkeit der mRNA- und Vektorimpfstoffe lässt sich daran erkennen, dass sich die Immunisierung nicht mit einem Antigentest nachweisen lässt. Denn das „Virusprotein“ wird nicht verabreicht.
„Fast alle in Deutschland eingesetzten Antigentests basieren auf dem Nachweis eines anderen Proteins, dem Nucleocapsid-Protein (N-Protein). Da Antigentests also ein anderes Virusprotein nachweisen als das bei der mRNA- oder Vektor-Impfung gebildete, ist ein Einfluss einer Impfung auf das Antigentestergebnis nicht gegeben.“[24]

Mit wenigen Suchanfragen stößt man auf COVID-19-Wissen von großer Komplexität, das vermutlich erstmals in der Geschichte der Impfstoffentwicklung und globalen Schutzimpfungskampagne außerordentlich transparent gehalten wird. Was wissenschaftlich relevant ist, lässt sich bis in die „Merkmale des Arzneimittels“ durch die EMA nachlesen. Was wird also injiziert? Die „Darreichungsform“ von z.B. Comirnaty wird wie folgt beschrieben: „Konzentrat zur Herstellung einer Injektionsdispersion (steriles Konzentrat). Der Impfstoff ist eine weiße bis grauweiße, gefrorene Dispersion (pH: 6,9 – 7,9).“[25] Die European Medicines Agency (EMA) als zuständige Behörde der Europäischen Union führt im Anhang zur Zulassung von Comirnaty ausdrücklich „Nebenwirkungen“ auf, die in der „Zusammenfassung des Sicherheitsprofils“ aus „2 klinischen Studien“ aufgeführt werden.[26] Demnach gibt es „Nebenwirkungen“[27], von denen aber nicht gesagt wird, dass sie mit der Reaktion des Immunsystems auf den „Impfstoff“ ursächlich zusammenhängen. Vielmehr werden Vorerkrankungen genau in der Tabelle „Nebenwirkungen von Comirnaty aus klinischen Studien und Erfahrungen nach der Zulassung“ aufgeschlüsselt.[28]

Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive kann es hier nicht Aufgabe sein, das ethische, juristische, pharmazeutische und medizinische Wissen zu überprüfen oder zu kritisieren. Vielmehr geht es mir darum, die erstaunliche Transparenz des vielfältigen Fachwissens durch das Internet und dessen Verdrehung, Vereinnahmung und Instrumentalisierung durch Neumalkluge verständlich zu machen, um deren Wirkmächtigkeit zu entzaubern. Nach der Wissenserschütterung im Frühjahr 2020 hat eine nahezu explosionsartige Wort- und Wissensvermehrung[29] in großer Komplexität stattgefunden. Proteine sind im pharmazeutischen Denken nicht mehr mit „körperfremde(n) Pferdeeiweiß“ gleichzusetzen. Im Verschwörungsdenken wird allerdings genau das gemacht. Eine derartige Popularisierung von Wissen widerspricht wissenschaftlichen Standards. Neunmalkluge wünschen sich indessen immer, ein wenig Gott zu spielen, wie er im Science-Fiction-Action-Film Matrix (1999) von Morpheus repräsentiert wird, als gäbe es eine Wahl zwischen einem guten und einem schlechten Wissen wie zwischen einer blauen und einer roten Pille.

Torsten Flüh

Nächste Mosse-Lecture zum Thema
Verschwörungstheorien
Eliot Borenstein
»Informing Ourselves to Death: Conspiracy and Fantasy in Postmodern Russia«
Einführung und Gespräch: Michael Butter
Donnerstag, 27. Mai 2021 19 Uhr c.t.
Live-Stream über den YouTube-Kanal der Mosse-Lectures


[1] BZ-Redaktion: Basler Studie: Typische Coronaleugner sind „gestresster und jünger“. In: Badische Zeitung 08. April 2021 um 16:06 Uhr.

[2] Vgl. zu den Verschwörungstheorien des Frühjahrs 2020: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ Berlin 22. April 2020.

[3] Torsten Flüh: Wissenserschütterung. Zur Theaterpremiere Theater geht von Nils Foerster in der Brotfabrik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Juni 2020.

[4] Siehe: Bruno Latour: What is the Style of Matters of concern? Amsterdam: VanGorcum, 2008. (PDF)

[5] Claudia Bracholdt und Sven Stockrahm: Sie wurden geimpft? Was sie nun wissen sollten. In: ZEIT ONLINE vom 27. April 2021 8:27 Uhr. (Zitiert nach Untertitelfunktion. Das Video ist weiterhin verfügbar.)

[6] Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.

[7] Biontech: mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Was ist ein mRNA-Impfstoff und wie funktionieren mRNA-Impfstoffe? mRNA-Impfstoffe 2021.

[8] Dr. theol. Ruth Baumann-Hölzle: Einladung zum Dialog in der Covid-19-Pandemie. In: Dialog Ethik 14. April 2021.

[9] Google Suche „Pferdeeiweiß“ vom 29.04.2021.

[10] Ebenda.

[11] Dr. med. Peter Beck: Gedanken zur Corona-Impfung. In: ders., Dr. theol. Lothar Gassmann, M. A. Reiner Wörz: Corona-Krise. Ein Ruf zur Umkehr. Neu mit Gedanken zur Corona-Impfung. (Verein zur Stärkung des biblischen Glaubens e. V., Baden-Baden 2021, S. 37.

[12] Ebenda S. 38.

[13] Ebenda S. 40.

[14] Zum Golem-Mythos in Bezug auf künstliche Menschen und Künstliche Intelligenz siehe: Torsten Flüh: Der Name der Maschine und sein Versprechen. Zur Uraufführung von Also sprach Golem von Kommando Himmelfahrt & Kaj Duncan David nach Stanislaw Lem bei ultraschall berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Februar 2020.

[15] Dr. med. Peter Beck: Gedanken … [wie Anm. 11] S. 41-42.

[16] Ebenda S. 43.

[17] Siehe „Herzlich Willkommen beim Deutschen Ethikrat“ https://www.ethikrat.org

[18] Ebenda Publikationen.

[19] Deutscher Ethikrat: Mindestmaß an sozialen Kontakten in der Langzeitpflege während der Covid-19-Pandemie. AD-HOC-EMPFEHLUNG. Berlin, 18. Dezember 2020, S. 2.

[20] Ebenda S. 3.

[21] Deutscher Ethikrat: Besondere Regeln für Geimpfte? Ad-hoc-Empfehlung. Berlin, den 4. Februar 2021.

[22] Biontech: mRNA-Impfstoffe … [wie Anm. 6].

[23] Robert-Koch-Institut: Aufklärungsmerkblatt. Zur Schutzimpfung gegen COVID-19 (Corona Virus Disease 2019) – mit mRNA-Impfstoffen – (Comirnaty von BioNTech/Pfizer und COVID-19 Vaccine Moderna von Moderna) Stand: 01. April 2021 (dieses Aufklärungsmerkblatt wird laufend aktualisiert) S. 3.

[24] Siehe Robert-Koch-Institut: Durchführung der COVID-19-Impfung (Stand 22.4.2021)

[25] EMA: Comirnaty, INN-COVID-19 mRNA Vaccine (nucleoside-modified). 21.12.2020.

[26] Ebenda S. 2.

[27] Ebenda S. 5.

[28] Ebenda S. 6.

[29] Vgl. zur Wortvermehrung die Forschung von Maike Park, die „über 1.200 neue oder umgedeutete Corona-Wörter“ für 2020 gesammelt hat. In: Torsten Flüh: Die Kontaktperson … [wie Anm. 6].

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