Humanismus – Dirigent – Sinnlichkeit
Aus dem Körper heraus
Zu Kirill Petrenkos Antrittskonzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker
Kirill Petrenko hat mit dem Antrittskonzert in der Philharmonie am Freitag und der Aufführung von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie vor dem Brandenburger Tor einen fulminanten Akzent gesetzt. Zum kostenlosen Konzert vor dem Brandenburger Tor kamen offiziell ca. 35.000 Menschen und lauschten gut 63 Minuten der Musik. Damit hatte er für das Open Air Konzert die Sinfonie fast zügig dirigiert. Denn sie ist dafür bekannt, dass sie gut 70 Minuten braucht wie am Freitag in der Philharmonie. Trotzdem bedeutet heute eine Konzentration von weit über 30.000 Menschen bei einer Musikaufführung von über 60 Minuten eine einzigartige Leistung. Man kann sie in der ARD-Mediathek bis zum 24.08.2020 – 23:59 Uhr nachhören. In der Philharmonie hatte die Aufführung ca. 7 Minuten länger gedauert und riss das Publikum augenblicklich zu anhaltenden Standing Ovations hin.
Die Intendantinnen der Berliner Philharmoniker, Andrea Zietzschmann, und des Radio Berlin-Brandenburg, kurz RBB, Patricia Schlesinger, haben mit dem zweifachen Antrittskonzert das richtige Gespür bewiesen. Der ansonsten als medienscheu geltende Dirigent bot mit den Berliner Philharmonikern, dem Rundfunkchor Berlin und exzellenten Solist*innen wie Marlis Petersen, Artist in Residence des Orchesters 2019/20, einen fulminanten Einstand. Das Antrittskonzert selbst mit den symphonischen Stücken aus der Oper Lulu von Alban Berg und der Neunten wurde in Salzburg und Luzern wiederholt. Die 9. Sinfonie mit ihrer Großerzählung vom Einsetzen der Musik und des Lebens, von einer Arbeit an der Harmonie und dem Zusammenleben über die Kanoneneinschläge der Pauken und der Trauer bis zum Zuversicht verheißenden Schlusschor kombiniert Kirill Petrenko auf womöglich wegweisende Weise mit Alban Berg. Das sollte nicht unterschätzt werden.
Entgegen einiger Kritikerkommentare nutzte Kirill Petrenko die symphonischen Stücke, die auch als Lulu-Suite bekannt sind, keinesfalls als warming up für die Neunte. Vor allem wird vom Chefdirigenten die unvollendete Oper nach Frank Wedekind nicht als eine mit „halbseidenen Aspekten“, wie Ulrich Amling im Tagesspiegel schreibt, aufgefasst. Gegen eine derartige Lesart verwahrt sich Petrenkos Musikauffassung vielmehr. Auch die Kategorie der herabsetzenden „Frivolität“ kommt nicht nur bei Petrenko akustisch nicht vor, sondern entspringt eher den Projektionen und Assoziationen älterer Herren – und bisweilen Damen –, die die Anlage der Lulu bereits bei Wedekind zu übersehen wünschen. Wenigstens seit Bob Wilsons Inszenierung der Lulu mit Angela Winkler oder gar schon seit Peter Zadeks Inszenierung mit Susanne Lothar am Deutschen Schauspielhaus Hamburg in den Achtzigern geht es um Welttheatralisches und die Frage nach dem Menschen[1] insbesondere der Frau, was Alban Berg erkannte.
Die Sinnlichkeit, die den jungen Komponisten bei einer privaten, weil öffentlich moralisch zensierten Aufführung in Wien faszinierte, ist bei Frank Wedekind durchaus mit Sinnfragen des Lebens wie der Geschlechterfrage nach der Frau gekoppelt. Insofern sind die Lulu-Dramen bei Wedekind zugleich Aufbruchsversprechen und Zweifel. Für Alban Berg dominiert zunächst im Brief an Frida Semler der sinnliche Aufbruch, wenn er 20-jährig schreibt: „Wir sind endlich zur Erkenntnis gekommen, dass Sinnlichkeit keine Schwäche ist, kein Nachgeben dem eigenen Willen, sondern eine in uns gelegte immense Kraft – der Angelpunkt alles Seins und Denkens.“[2] Fast dreißig Jahre später führt die „Sinnlichkeit“ zu einer musikalischen Re-Komposition der Oper an der Grenze zum Weltentwurf der Symphonie, die viele Fragen offen lässt.
Die Frage nach dem Menschen geht der Euphorie des Humanismus im Konzertprogramm voraus und macht ihn auch fragwürdig. Das, was Amling mit „halbseidenen Aspekten“ und „Frivolität“ meint benennen zu können, wird von Alban Berg mit dem „Lied der Lulu“, gesungen von Marlis Petersen, im 3. Satz musikalisch mit dramatischer Hochachtung auskomponiert und aufgeführt. Lulus einfache Formulierungen – „Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab. […] Ich habe nie in der Welt etwas anderes scheinen wollen, als wofür man mich genommen hat; und man hat mich nie in der Welt für etwas anderes genommen, als was ich bin.“ – Die Frau als Projektionsfläche. – werden mit größtem musikalischen Ernst im Tempo Comodo aufgefasst. Klar, halbseidener geht es eigentlich gar nicht, aber genau das verwandelt Berg in ein Menschenschicksal und die Frage nach dem „Ich“, nach dem Subjekt. Malte Krasting schreibt im Programmheft:
Die Verknüpfung von instrumentaler und vokaler Sphäre ist ein weiteres Merkmal, das beide verbindet, und es ist nur zu offenbar, worauf diese Idee zurückgeht: auf das Vorbild Beethoven und seine Neunte Symphonie.[3]
Aber Alban Bergs Lulu ist eben nicht die Symphonie Nr. 9 d-Moll. Es gibt Unterschiede. Darf man vielleicht auch einen Wink darin sehen, dass die bisweilen gering geschätzten „Stücke“ zuletzt Mitte Mai 2011 von niemand geringerem als Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern und Anna Prohaska als Solistin aufgeführt wurden? Dem 5., abbrechenden Satz im Adagio ist eine requiemartige Formulierung der lesbischen Gräfin Geschwitz in einer Fußnote Bergs zugestellt: „Lulu! Mein Engel! – Lass dich noch einmal sehen! – Ich bin dir nah! Bleibe dir nah in Ewigkeit!“ Die Symphonischen Stücke wurden keinesfalls aus Verlegenheit, sondern als geschlossene Komposition am 30. November 1934 in der Staatsoper Unter den Linden durch die Preußische Staatskapelle unter der Leitung von Erich Kleiber uraufgeführt. Doch die Musik bricht ab, während die „Ewigkeit“ angespielt wird und stecken bleibt.
Alban Berg hat seine symphonischen Stücke in der Oper Lulu groß instrumentiert. Es geht hier um den symphonischen Orchesterapparat und die Symphonie als musikalische Weltarchitektur, die zugleich mit der Zwölftontechnik angegangen wird. Die Neunte ist bei Beethoven beispielsweise mit 7 bei Berg mit 8 Kontrabässen besetzt. Harfe und Flügel der Lulu-Suite fehlen in der Neunten. Ein Schlagwerk mit Gong kam bei Beethoven ebenso wenig vor, wie durchweg stärker besetzten Instrumentengruppen. Die größere Orchesterbesetzung generiert bei Berg mehr, differenzierteren Klang. Die Sinnlichkeit wird bei Berg insofern zu einer Frage der Differenziertheit und Diversität des Klangs. Am Flügel spielte als Gast Majella Stockhausen, die Tochter des Komponisten Karlheinz Stockhausen.
Kirill Petrenko dirigiert die „Stücke“, die (k)eine Symphonie bilden, mit linker und rechter Hand nicht nur facettenreich, vielmehr noch tänzerisch gerade in den schnelleren Sätzen, die nur noch „Stücke“ werden können. Seine Musik kommt aus seinem ganzen Körper. Er tänzelt nicht nur wie auch im schnellen, zweiten Satz der Neunten – „Molto vivace – Presto – Molto vivace – Presto“ –, er setzt seinen ganzen Körper ein, geht fast in die Hocke, um die Dynamik im Orchester herauszuarbeiten. Das unterscheidet sein Dirigieren von vielen anderen Dirigent*innen.
Der körperliche Einsatz von Kirill Petrenko überträgt seine musikalische Energie in das Orchester. Das, nennen wir es, Bewegungsrepertoir beim Dirigieren ist durchaus bedenkenswert. Denn, was häufig vergessen wird, der Dirigent ist mit der Musik dem Orchester voraus. Petrenko kommuniziert mit dem Orchester oder zumindest mit den Berliner Philharmonikern auf eine fast ausgelassen freie, hochdifferenzierte Weise. Das bisweilen Tänzerische, wenn es die Komposition erfordert oder zulässt, lässt sich zugleich als eine Freiheit im Musizieren auffassen. Wie bekannt, spricht Petrenko über seine Interpretationen so gut wie gar nicht. Bei Sir Simon Rattle, aber auch bei Claudio Abbado hatte ich oft den Eindruck, das jeder Takt und seine Akzentuierung kühl durchdacht war. Petrenko durchdenkt und durchfühlt die Kompositionen zumindest anders, vielleicht intensiver mit seinem Körper.
Mit den symphonischen Stücken aus der Lulu und der Neunten stellte Kirill Petrenko eben auch ein sogenanntes unvollendetes einem vollendeten Werk gegenüber. Was könnte das heißen? Was könnte das heute heißen? Bekanntlich starb Berg in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember 1935 kurz nach der Aufführung der symphonischen Stücke in Wien an einer Sepsis. Doch es bleibt damit offen, ob die „Stücke“ eine geschlossene und vollendete Form hätten finden sollen oder können. Die große Symphonik bricht auch ab, während Beethoven 110 Jahre zuvor die Geschlossenheit mit dem Schlusschor öffnet und vollzieht. Kirill Petrenko setzt dies bewusst ein. Wie Andrea Zietzschmann verriet, wollte Petrenko gern das Autograph in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz einsehen. Denn unter den vielfältigen Beziehungen zwischen Berlin und Beethovens Großkomposition, wie der dass Leonard Bernstein sie mit internationalen Musiker*innen Ende 1989 einmal in Ost- und einmal in West-Berlin dirigierte[4], ist es nicht zuletzt das Autograph der Partitur, das sich in Berlin befindet.
Freilich ist das Autograph mittlerweile als Digitalisat online verfügbar. Doch für den Dirigenten war der Wunsch, dieses direkt vor sich liegen zu sehen, sicher nicht nur ein musikphilologischer. Es gibt Änderungen und Streichungen im Autograph, so dass Musiker Beethoven bei der Arbeit über die Schulter schauen können. Wir wissen nicht, was Kirill Petrenko im Autograph gelesen hat. Doch was er gelesen hat, ist in sein Dirigat eingegangen, hat vielleicht gar zur Erhöhung des Tempos geführt. Das bleibt auch das Geheimnis der Musik.
Kirill Petrenko bietet mit seiner Interpretation von Beethovens Neunter keine heile Welt. Die besonders harten Paukenschläge erinnern sehr viel mehr daran, dass trotz des hoffnungsfrohen Schlusschors – „alle Menschen werden Brüder“ – seit 1824 weiterhin unzählige und die größten Kriege, die sich Beethoven nicht einmal hätte vorstellen können, stattgefunden haben. Gleichzeitig werden Nachkriegswünsche des 20. Jahrhunderts auf ein friedliches Zusammenleben in Europa von populistisch-nationalistischen Politikern angezweifelt und desavouiert. Es ist, als spiele man heute die Neunte nicht mehr aus einem gläubigen Enthusiasmus als Europahymne, sondern trotz alledem, um dem rechten Revanchismus eine Haltung entgegenzusetzen.
Überm Sternenzelt wohnt schon deswegen kein „lieber Vater“ mehr, weil sich die meisten Menschen in Europa von den christlichen Kirchen abgewendet haben. Trotzdem taugt die Neunte, dass sich 35.000 Menschen unterschiedlichster Herkunft und verschiedenen Glaubens friedvoll für die Musik vor dem Brandenburger Tor einfinden. Sie teilten die Konzentration nicht nur die Berliner Philharmoniker, sondern ebenso mit dem Rundfunkchor Berlin einem der weltweit besten Konzertchöre der Welt in der Einstudierung von Gijs Leenaars, den hochkarätigen Solist*innen Marlis Petersen, Elisabeth Kulman, Benjamin Bruns und Kwangchul Youn zu lauschen. Kirill Petrenko ist sich dem Trotzdem als Musik vermutlich durchaus bewusst.
Torsten Flüh
Berliner Philharmoniker Open Air 2019
Ludwig van Beethoven
9. Symphonie
mit Kirill Petrenko
ARD-Mediathek bis 24.08.2020
[1] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Angela Winklers LULU – Iced Honey – ist eine Sensation. Bob Wilson inszeniert Frank Wedekinds LULU am Berliner Ensemble mit Angela Winkler. In: NIGHT OUT @ BERLIN April 13, 2011 10:08.
[2] Zitiet nach: Malte Krasting: Der gestirnte Himmel über uns. Zukunftsperspektiven zweier Spätwerke. In: Berliner Philharmoniker (Hg.): Programmheft 1 Saison 19/20. Berlin 2019, S. 13.
[3] Ebenda S. 21.
[4] Zu Leonard Bernstein und Berlin siehe auch: Torsten Flüh: Familientreffen amerikanisch. Zur Uraufführung von Leonard Bernsteins A Quiet Place im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 30, 2013 22:02.
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