Halim El-Dabh – Afrika – Elektronische Musik
حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst
MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik
In einem zweijährigen Projekt wollte Bonaventure Soh Bejeng Ndikung als Gründer und künstlerischer Leiter von Savvy Contemporary mit zahlreichen Künstler*innen an حليم الضبع /Halim El-Dabh erinnern. 2021 sollte der einhundertste Geburtstag des ägyptischen Komponisten und Musikforschers gefeiert werden. Doch 2020 vereitelte der erste Lockdown in Deutschland während der Pandemie die Vorbereitungen für eine andere Geschichte der zeitgenössischen, insbesondere der Elektronischen Musik, die 1944 nirgendwo anders als in Kairo mit einem Experiment begann. Halim El-Dabh borgte sich mit einem Freund ein Drahttongerät beim Rundfunksender aus. Sie verkleideten sich als Frauen, um an einem Frauen vorbehaltenen Zaar-Ritus teilzunehmen und nahmen die Gesänge auf. El-Dabh bearbeitete sie, um sie in einer Kairoer Galerie abzuspielen. Das war der Geburtsmoment der Elektronischen Musik.
Bis auf einen kleinen Zirkel von Fachleuten ist Halim El-Dabh fast vergessen, obwohl er an der Schnittstelle von arabischer und afrikanischer Musik sowie europäischer Technologie und Moderne die Elektronische Musik erfunden hat. 1922 entstand das Königreich Ägypten mit seiner Hauptstadt Kairo, nachdem das Vereinigte Königreich es in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Halim El-Dabh war in dem britisch ebenso wie arabisch geprägten Kairo am 4. März 1921 geboren worden. 1950 geht er in die USA und stirbt dort im Alter von 96 Jahren am 2. September 2017. Am 20. März 2021 widmete sich nun MaerzMusik 2021 – Festival für Zeitfragen in einem ca. 8-stündigen-Livestream dem Jubilar. In Schaltungen zwischen dem Haus der Berliner Festspiel in der Schaperstraße und der Galerie Savvy Contemporary in der Reinickendorfer Straße Ecke Gerichtstraße erforschten und erinnerten sich Künstler*innen und Wissenschaftler*innen an Halim El-Dabh in Gesprächen und Uraufführungen von Filmen, Animationen und Konzerten, die noch bis 24. April On Demand zur Verfügung stehen.
Halim El-Dabh könnte man den wichtigsten Musikforscher und Komponisten des 20. Jahrhunderts in Ägypten nennen. Aber diese Art des Superlativgebrauchs verdeckt mehr, als dass sie die Strukturen und Praktiken offenlegt, weshalb er als Forscher und Komponist in Vergessenheit geraten konnte. Es gibt kaum musikwissenschaftliche Literatur zu ihm. Die Staatsbibliothek Berlin führt lediglich 3 Titel, in denen sein Name vorkommt. Der erste Titel von 1996 ist eine Bibliographie über Blassmusik von schwarzen Komponisten, der zweite eine Veröffentlichung der Universität Coimbra auf Portugiesisch von 1983 und die dritte David Ernsts The evolution of electronic music mit einem Hinweis auf das Musiktheaterstück Leiyla and the poet von El-Dabh aus dem Jahr 1977.[1] Das einzige substantielle Interview mit Halim El-Dabh erschien 2007 im Journal Seamus von Bob Gluck und ist aktuell zugänglich auf der Seite des kanadischen Fachmagazins für Elektronische Musik eContact.[2] Um so entscheidender wird also Bonaventure Soh Bejengs neuer Ansatz für die Geschichtsschreibung mit Here History Began. Tracing the Re/Verberations of Halim El-Dabh.[3]
Erforscht wird der Nachhall (Reverberation) von Halim El-Dabh grafisch, akustisch, visuell, kompositorisch, narrativ, elektronisch, digital, choreografisch, lexikalisch und vokal. Der Kurator und sein Team verlängern den Nachhall zunächst einmal um 4.000 Jahre bis in die Zeit der Pyramiden von Gizeh – 4.100 Jahre Nach/Hall mit Halim El-Dabh. So künstlerisch kreativ sich diese Verlängerung für den 20. März 2021 gibt[4], entbehrt sie nicht ganz einem biographischen Bezug zum Jubilar. Denn er wurde nicht nur in Kairo geboren, vielmehr noch komponierte er 1959 mit Son et lumière (Klang und Licht) die Musik für die Lichtshow an den Pyramiden von Gizeh. Die Lichtshow gibt es offenbar noch immer. Am 15. Januar 2021 empfahl jedenfalls „Shadow Moses“ auf Tripadvisor sich die Show „Sound & Light Egypt“ von der Dachterrasse eines der Hotels anzusehen.[5] Von der Premiere der neuen Lichtshow mit Lasereffekten am 10. Mai 2019 existiert ein Video auf ExploreTube mit Klang und Erzählung in Englisch. Offenbar prägt die Lichtshow mit der Komposition von Halim El-Dabh, ohne dass sein Name auftaucht, seit Jahrzehnten die Wahrnehmung der Pyramiden von Gizeh. Musikhistorisch lässt sich gut vorstellen, dass die Komposition zwischen Strawinsky-Moderne und Hollywood von 1959 stammt.
Bevor sich Halim El-Dabh stärker mit der Erkundung der Musik in Afrika beschäftigte, prägte ihn als Junge die europäische Moderne. In seinem Interview mit Bob Gluck hat sich der Komponist in den 30er und 40er Jahren ausdrücklich in der Moderne von Paul Hindemith, Béla Bartók und Arnold Schönberg situiert. Der Komponist Yusuf Grace habe in den 1930er Jahren versucht, ägyptische und westliche Musik zusammen zu bringen.[6] Yusuf Grace lässt sich als Komponist nicht verifizieren. Doch es bleibt eine Sounddatei von El-Dabhs erster experimenteller, elektronischer Komposition The Expression of Zaar. Der Ursprung des Zaar-Ritus lässt sich bis heute nicht klären. Er wird lexikalisch und ethnologisch zwischen Persien und Äthiopien, Eritrea und dem Volk der Hausa angesiedelt. Doch Zār/ زار hat sich vermutlich vor allem im urbanen Großraum von Kairo an der Schnittstelle von Geisterbeschwörung, Exorzismus und weiblicher Unterhaltungskultur etabliert.[7] Auf der Website des Musikmagazins The Wire lässt sich eine Aufnahme von knapp 2 Minuten hören.
Halim El-Dabhs Komponieren beginnt insofern mit einer mehrfachen Grenzüberschreitung. Diese findet in einem dezidiert geschlechtlichen Raum statt, derart als nicht nur in einen afro-arabischen Ritus als Kulturraum mit einem damals neuartigen Aufzeichnungsgerät eingedrungen wird, vielmehr noch ist dieser Raum den Frauen vorbehalten. Denn Halim und sein Freund Iskander müssen sich als Frauen verkleiden, um überhaupt dem Ritual beiwohnen zu können. Auch dringen sie mit einem Drahttongerät als Vorläufer von Tonbandgeräten nach früher ethnologischer Praxis in den ihnen sonst verschlossenen Kultur-, Klang- und Sprachraum vor. Die Faszination der beiden jungen Männer lässt sich leicht vorstellen. Die elektroakustische Be- und Verarbeitung setzte erst nachträglich ein, was ein ethnologisches Wissen unterläuft, geradezu verfremdet. Es wird ein Geheimnis der ägyptischen bzw. Kairoer Frauen gebrochen, um zugleich mit technischen Mitteln chiffriert zu werden. Für die westlichen Ohren in einer Kairoer Galerie muss, was sie 1944 zu hören bekamen, sensationell gewesen sein.
Man muss sehr genau die Praktiken bedenken, durch die Halim El-Dabh seine erste elektronische Musik generierte und komponierte, wenn er sich im Interview mit Gluck mit einem Bildhauer vergleicht, der Klangbrocken genommen und sie zu etwas Schönem gemeißelt habe – „like a sculptor, taking chunks of sound and chisselling them into something beautiful“. Die Formulierung erinnert nicht zuletzt an den ebenso klassischen wie westlichen Pygmalion-Mythos vom Bildhauer als Schöpfer des Frauenbildnisses, dem Leben eingehaucht wird. Ob und inwiefern Halim El-Dabh seine Formulierung reflektiert hat, wissen wir nicht. Doch die afro-arabischen Klänge erlangen überhaupt erst über den westlichen Künstlermythos einer operationellen Schöpfung zur Geltung für die westliche Musikkultur. Gekittet wird damit auch ein Bruch zwischen der unbestimmten Herkunft der Klänge und Taabir El-Zaar/The Expression von Zaar als Klangskulptur in einer Galerie.
Nachträglich hat sich Halim El-Dabh wiederholt weniger auf das Arabische als vielmehr auf die Musik Afrikas, die ihn „mit dem Universum verbinde()“, berufen.[8] Bonaventure und sein Team führen ihn als „ägyptischen Musiker(), Panafrikanisten, kreativen Musikwissenschaftler und Philosophen“ ein.[9] Die forschende Kreativität kam nun am 20. März 2021 in den Performances, Visualisierungen von Ali Demirel, Gesprächen und Konzerten zum Zuge. Es wurde auch eine Transformation der Werke Halim El-Dabhs, die nachhaltig wirken wird.
„Mit dieser Recherche und Ausstellung fragen wir: Was sind die Mechanismen, durch die Halim El-Dabh aus dem Kanon ausgeschlossen werden konnte? Ein Künstler, dessen legendäre Komposition „It is Dark and Damp on the Front“ (1949) ihm internationale Anerkennung einbrachte, bevor er eine formale Musikausbildung erhielt; der mit der modernen Tanzlegende Martha Graham zusammenarbeitete; der mit „Taabir El-Zaar“ (1944) eines der frühesten bis heute bekannten Stücke elektronischer Musik komponierte, das eine anhaltende und noch florierende Welle experimenteller elektronischer Musik auslöste; dessen Klanginstallation „Here History Began“ (1961) zum Synonym für die Pyramiden in Gizeh geworden ist; und dessen panafrikanistische Vision ihn durch den gesamten afrikanischen Kontinent führte, um mit Denkern, Musikern und Politikern wie Leopold Sedar Senghor und Haile Selassie in Kontakt zu treten und zusammenzuarbeiten, während er Klänge und Instrumente aus dem ganzen Kontinent und der Diaspora sammelte.“[10]
Einen ersten Höhepunkt des Livestreams setzte die aus Äthiopien gebürtige Vokalistin Sofia Jernberg mit ihrem dreiteiligen Konzert. Die Uraufführung von Mena Mark Hannas Solostück For Halim knüpft deutlich an seine The Expression of Zaar an. Hanna hat das Stück für die als Jazzsängerin erfolgreiche Sofia Jernberg wohl nicht zuletzt komponiert, weil sie sich mit äthiopischen Gesangstechniken befasst hat.[11] Eine elektronische Bearbeitung findet allerdings nicht statt. Es kommt vielmehr auf die Stimmtechniken außerhalb des europäischen Kanons an. Mena Mark Hanna ist Gründungsdekan der Barenboim-Said Akademie, der den Sakralgesang des Nahen Ostens erforscht hat. Insofern ist seine Komposition von einer intensiven Reflexion von außereuropäischen Gesangstraditionen durchdrungen. Geht es doch an der Barenboim-Said Akademie mit dem Boulez-Saal auf Anregung von Daniel Barenboim und in Anknüpfung an den Literaturtheoretiker Edward Said unter ihrem Rektor Prof. Michael Neumann um eine Ausbildung von „begabte(n) junge(n) Menschen vor allem aus dem Nahen Osten und Nordafrika“.[12] Sofia Jernberg wird so zur perfekten Interpretin des Stückes.
Sofia Jernberg ist selbst als Komponistin tätig, weshalb sie mit One Pitch: Birds for Distortion and Mouth Synthesizers ein eigenes Stück von 2015 als zweites zur Aufführung brachte. Die elektroakustische Live-Bearbeitung der Stimme erinnert an Halim El-Dabhs erstes Stück. Mit der ebenfalls als Uraufführung dargebotenen Komposition To Bathe Sore Hearts nimmt Sofia Jernberg textlich und vokal explizit Bezug auf Halim El-Dabh. Sie singt zu Beginn eine Melodie von Johann Sebastian Bach, an die sie sich in einem Hotelzimmer in Berlin erinnert habe. Sie erinnert sich in ihrem Text an den Beginn der Musik im westlichen Zeitalter, in dem die Kirche wollte, dass man still sei. Dann singt sie wieder die Melodie des Chorals „Nun freut euch, Gottes Kinder all“, BWV 387, um daraufhin ein Smartphone mit Kompositionen von Halim El-Dabh aus dem Jahr 1963 zuzuschalten. Auf diese Weise führt Sofia Jernberg einen Austausch zwischen Bach und El-Dabh vor. Zum atonalen Klavierspiel von Halim moduliert sie ihre Stimme. Das Stück wird mehr zu einer Klangcollage.
Das zweite größere Konzert des Abends wurde als Uraufführung von Ute Wassermann und Mazen Kerbaj unter dem Titel Revisitations aufgeführt. Beide Künster*innen sind in Berlin ansässig und sind mit elektroakustischen Klangcollagen bekannt geworden. Mazen Kerbaj kam durch das Berliner Künstlerprogramm des DAAD nach Berlin und stellte 2016 in einer Wohnung an der Bundesallee eine Klanginstallation aus und über den Krieg im Libanon, insbesondere Beirut im Rahmen von MaerzMusik vor.[13] Ute Wassermann musizierte 2017 mit Max Eastley in der DAAD Galerie in der Oranienstraße beim Festival mikromusik.[14] Nun fanden beide zusammen, um in Anknüpfung an Halim El-Dabhs elektromusikalisches Opernprojekt Leiyla and the Poet von 1959 eine musikalische Reflexion vorzunehmen. Ein Ausschnitt aus Leiyla and the Poet, das sich auf den Stoffkreis der Erzählung von Tausend und eine Nacht bezieht, ist durch das Columbia-Princeton Electronic Music Center zugänglich. Das Erzählen wird hier durch die elektronische Bearbeitung poetisch verfremdet. Nicht die Verständlichkeit der Erzählung steht im Vordergrund, sondern ihre Klangfarben werden wichtig.
Ute Wassermann und Mazen Kerbaj haben sich mit ihrer Klanginstallation vielleicht gegenüber dem Ausgangsmaterial weniger elektronisch angenähert. Denn sie führen das Musikmachen und Erzählen in seinen höchst artifiziellen Verschaltungen und Praktiken vor, während Halim El-Dabh dieses technisch und elektronisch erzeugte. Die performative Erweiterung der elektronischen Produktion verschiebt die Wahrnehmung ins Visuelle, das seinerseits das Praktische und Experimentelle stärker erkennen lässt, ohne das Poetische zu verraten. – Auch deshalb sind die Videos on demand sehr zu empfehlen.
Torsten Flüh
MaerzMusik 2021
Festival für Zeitfragen
Halim El-Dabh – Invocations
[1] Siehe Sucherergebnisse Stabikat für „Halim El-Dabh“. http://stabikat.de/CHARSET=UTF-8/DB=1/LNG=DU/CMD?ACT=SRCHA&IKT=1016&SRT=YOP&TRM=Halim%20El-Dabh
[2] Bob Gluck: “… LIKE A SCULPTOR, TAKING CHUNKS OF SOUND AND CHISELLING THEM INTO SOMETHING BEAUTIFUL” Interview with Halim El Dabh, Egyptian Composer. In: eContact 15.2, Mai 2013.
[3] Siehe Savvy Contemporary: Bonaventure Soh Bejengs Ndikung: Here History Began. Tracing the Re/Verberations of Halim El-Dabh. 20.03.2021.
[4] Ebenda: 4100 Years Re/Verberations with Halim El-Dabh. Online-Invocations 20.03.2021.
[5] Tripadvisor: Shadow Moses: Sound & Light Egypt.
[6] Bob Gluck: „… LIKE … [wie Anm. 2] Egypt in the 1930s and 1940s.
[7] Siehe Wikipedia Zār (Englisch) Der französische Wikipedia-Artikel weicht davon leicht ab.
[8] Zitiert nach Bonaventure …: Here … [wie Anm. 3]
[9] Ebenda.
[10] Ebenda.
[11] Siehe MaerzMusik On Demand: Halim El-Dabh – Invocations.
[12] Michael Neumann: Grußwort des Rektors. Barenboim-Said Akademie.
[13] Torsten Flüh: Der Sound und die Zeit des Krieges. Mazen Kerbajs Klanginstallation zum Krieg in einer Wohnung der Bundesallee 53. In: NIGHT OUT @ BERLIN März 17, 2016 17:18.
[14] Torsten Flüh: Klangspuren sinnlich. Max Eastley und das Eröffnungskonzert von mikromusik. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 30, 2017 21:52.
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