Mensch – Stimme – Maschine
Zwischen Menschen und Maschinen
Zum Semesterthema Nach der Stimme der Mosse-Lectures und Helmuth Plessner
Die vierte und letzte Mosse-Lecture zum Thema Nach der Stimme von Sigrid Weigel rückte die Dimension der Kulturforschung in die Aufmerksamkeit. Bleibt das Menschliche auf der Strecke, wenn wir Rechenmaschinen mit uns reden machen und ihnen fasziniert zuhören? Die Frage nach der conditio humana eröffnete Sigrid Weigel mit Erinnerungen an den Philosophen und Sprachforscher Helmuth Plessner und der von ihm formulierten philosophischen Anthropologie. Während aktuell häufig vom Posthumanen gesprochen und geschrieben wird, gibt die Anknüpfung an die philosophische Anthropologie einen Wink auf das Humanum, das mit der Korrelation von Stimme und Ohr gedacht wird. Sprechen wir in Verkennung der Stimme mit Cortana und Alexa? Geben sie Antwort? Oder vertonen die Stimmen lediglich Datensammlungen und Datenströme, als ob sie wüssten, wovon sie sprechen?
Exakt am Morgen des 2. Februars 2023 lieferte Die Zeit Ulrich Schnabels Leitartikel in Papierform mit dem Titel Selbst macht klug zum neuesten Einsatz von „KI“ durch „das Sprachprogramm ChatGPT“ aus. ChatGPT „übersteige() alles bisher Bekannte“.[1] Schnabel drängt Deutschland und Europa zu eigenen Anstrengungen bei der Entwicklung von KI als Zukunftstechnologie von epochaler wirtschaftlicher und strategischer Bedeutung. Formuliert wird von Schnabel ein Wettlauf um, sagen wir, „selbst“ programmierte KIs und Sprachprogramme, damit Europa nicht weiter abhängig von den USA, deren KI-Schmieden wie Microsoft und zu einem geringeren Prozentsatz von der Volksrepublik China wird. Ob Schnabel jemals auf globalen Codierungskonferenzen wie Microsoft-Build im Mai 2022 im Westhafenspeicher war, wissen wir nicht. Zur Formulierung von Titeln für Leitartikel kann und muss an dieser Stelle einmal transparent gemacht werden, dass sie in der Regel nicht vom Autor, sondern von autorisierten Redakteuren gesetzt werden.
Zeitungen auf Papier oder dem Bildschirm oder Touchpad, insbesondere Wochenzeitungen wie Der Spiegel oder Die Zeit sind hocharbeitsteilige Maschinen. – Titeln ist ein formalisierter redaktioneller Bereich. Menschliche Korrekturleser*innen in Zeitungshäusern wurden bereits in den Nullerjahren dieses Jahrhunderts entlassen bzw. abgeschafft. Über den Titel Selbst macht klug ließe sich insofern einiges nachdenken. Dass der globale Journalismus zwischenzeitlich weitgehend automatisiert worden ist, wäre ebenfalls bedenkenswert. Entlassungswellen in Verlagshäusern werden zwar bedauert, aber als wirtschaftlich notwendig und plausibel akzeptiert. Mit der Sprache, der Stimme und dem Ohr geht es insofern nach Pleßner um eine „Grundschicht des Menschlichen“[2], der conditio humana und nicht zuletzt dessen, was Kulturforschung lehren kann. Bereits Thomas Macho hatte bei der Eröffnung der Vortragsreihe an die Stimmen erinnert, die wir beim Lesen und Schreiben hören. Das Selbsthören und das Hören von anderen Stimmen sind semantisch hoch aufgeladen und umstritten.
Der Philosoph Helmuth Plessner wird derzeit von der Sprach- und Kulturforschung recht eigentlich als zwischen 1933 und 1945 verfolgter und ausgewanderter, deutschsprachiger Sprachforscher entdeckt und rezipiert. Utz Maas schreibt im Projekt Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945 am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) über Helmuth Pleßner (die Schreibweise des Namens variiert), dass er argumentativ explizit an Husserl anschloss.[3] „Im Sinne der von ihm (…) herausgestellten leiblichen Fundierung aller höheren Fähigkeiten kommt der Lautsprache (der Stimme) zwar eine fundierende Rolle zu, aber er betonte, daß sie als mediale Besonderheit nicht mit Sprache gleichzusetzen ist (…). Pointiert entwickelte er hier das für die conditio humana grundlegende Konzept des Ausbaus der „natürlichen“ Fähigkeiten.“[4] 2019 erschien der Konferenzband Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung – Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners[5], der den 1985 verstorbenen Philosophen, Soziologen und Sprachforscher explizit in das Feld der Digitalisierung rückt.
„Mit der analytischen Perspektive der an Plessner anschließenden Philosophischen Anthropologie kann es derart gelingen, die Vielfalt dessen, was mit Digitalisierung verbunden wird, auf die Frage hin zu systematisieren, wie sich der Mensch, verstanden als gerade nicht nur kognitive und nicht nur materiale, sondern beides verbindende exzentrische Positionalität, eine Welt neu schafft, die ihn selbst potenziell überformt.“[6]
Sigrid Weigel stellte vor allem das konstituierende Verhältnis von Stimme und Ohr für den Menschen nach der Vorstellung durch Stefan Willer ins Interesse ihres Vortrages mit der Formulierung: „Wenn wir sprechen, gehen wir davon aus, dass jemand uns zuhört.“[7] Bedenkenswerter Weise wird dieses Verhältnis im Konferenzband überlesen, übersehen oder überhört. Richard Paluch berichtet zwar in Anknüpfung an Plessner von einem Labortest zu „(l)eiblichen Erfahrungsweisen animierter Umgebung“ bei zwei „Erstnutzer*innen von Hörgeräten“[8], dass Mechthild „sich nach vorne beugt und ihr Ohr den Sprechenden zuwende()“. Sie „möchte die anderen besser verstehen und auch auf den Sachverhalt aufmerksam machen, diese nicht hören zu können“[9]. Aber die prekäre Geste, das „Ohr den Sprechenden“ zuzuwenden, wird weder in Beziehung zur Stimme noch zur Frage des Menschlichen gesetzt. – Achtung! Wenn Sie schlecht hören, fragen Sie nie nach oder bitten gar die Sprecher*in, deutlicher zu sprechen. Die Bitte löst Aggressionen aus. Ihnen wird die Intelligenz als ein Verstehen können und damit ein Menschliches umgehend abgesprochen oder wenigstens angezweifelt. – Ich werde darauf zurückkommen.
Die Korrelation von Stimme und Ohr, wie sie mit Nach der Stimme in den Mosse-Lectures von Thomas Macho, Lawrence Abu Hamdan bezüglich forensischer Auswertung von Stimmen, Brigitte Lange hinsichtlich den Berliner Stimmenarchivs und Marcel Beyer angesprochen und performt wurde, blendete immer auch das Ohr ein wenig aus. Das war meistens einer methodischen Konzentration auf die Stimme geschuldet. Doch mit Sigrid Weigel wurden nun Figurationen von Stimme und Ohr: der Beichtstuhl – die Couch – das Programm in Anknüpfung an Helmuth Pleßner zum Dreh- und Angelpunkt von Tonszenarien wie „Echo in der eigenen Brust“, „Resonanz“ und einem geschärften „Ohr“ in der „Kulturwissenschaft()“ bzw. Kulturforschung. Dafür soll eine längere Passage aus seiner Einleitung in die philosophische Anthropologie von 1965 zitiert werden:
„Immerhin: es ist nur eine leere Behauptung, daß der Mensch in unendlichen Varianten lebe. Hier scheint es eine Verbindung von Endlichkeit und Unbegrenztheit, Begrenztheit und Unendlichkeit zu geben, eine überschaubare Fülle möglicher Individualitäten in unerschöpflichen Individuen -, die von unmittelbarer Bedeutung für die wissenschaftliche Erkennbarkeit der geistigen Welt ist. Die schmale Basis eines Individuums reichte zur Erfassung fremder Geistesweiten nicht aus. Wollte wirklich der Historiker sich nur auf das Echo in der eigenen Brust verlassen, so müßte er auf riesige Sphären untergegangenen Seins von vornherein verzichten. Aufs strengste hat der Geisteswissenschaftler daher zu unterscheiden zwischen einer Resonanz in seiner lebendigen Individualität und einer „Resonanz“ in den Schichten, die das Fundament für ein Verstehen fremden Geistes bilden, weil sie das „Verstehen“ selbst ermöglichen. Der Kulturwissenschaftler gewöhnt sich daran, skeptisch gegen sich, seine Zeit und Kreis der Selbstverständlichkeiten zu werden und schärft sein Ohr zur Wahrnehmung der Tiefenunterschiede der Resonanz. Denn eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten bleibt in der von keiner zeitlichen und persönlichen, rassenmäßigen und volkhaften Gestaltung je erschöpften Grundschicht des Menschlichen dem Historiker zur Verfügung.“[10]
Helmuth Plessner kam 1970 in seiner Anthropologie der Sinne verstärkt auf das Ohr des Menschen mit seiner Ästhesiologie des Hörens zurück. Das Ohr und die mehrdeutigen Tonszenarien wurden nun konkretisiert. Der „Modus des Hörens“ wird ihm wichtig, weil die „Philosophie des Pragmatismus“ dieser nie interessiert habe.[11] Plessner konkretisiert jetzt das Verhältnis von Ohr und Stimme insbesondere über das „Sich-selber-Hören“ als „eine Basis der Sprachbildung“, die bei „Taubstummen“ ausfalle.[12] Er bezieht sich dabei auf Herder und macht deutlich, dass das „Sprachsystem der Sprache als ein() Gefüge() aus Wortbedeutungen von der üblichen akustomotorischen Artikulationsbasis“ relativ unabhängig sei. Anders gesagt: Man muss nicht hören und sprechen können, um sich eine Sprache anzueignen. Wird Ludwig Wittgenstein in den aktuellen philosophischen Debatten um die Digitalisierung bis zur Künstlichen Intelligenz und Sprachprogrammen gern in Anspruch genommen[13], so ist es Plessner, der 1970 mit der Ästhesiologie des Hörens die Mehrdeutigkeit des Sprechens performend darauf aufmerksam macht, dass „das vitale System des Menschen“ eine entscheidende Rolle spiele.
„Die These von der Entsprechung etwa des indogermanischen Sprachbaues und der abendländischen Philosophie ist bekannt. Es bedarf nur einer kleinen Drehung, und die Sprache wird zu dem, der spricht und sagt. Selbstredend lassen sich solche Verabsolutierungen, ob im Sinne Wittgensteins oder Heideggers, nicht mit anthropologischen Überlegungen stützen oder bekämpfen. Aber sie sind symptomatisch für eine nur auf Sprache eingeschworene und verengte Blickrichtung, die sich einen Dreck um die Einbettung der Sprache in das vitale System des Menschen kümmert.“[14]
Sigrid Weigel bezieht sich in ihrer Plessner-Lektüre vor allem auf dessen Nachdenken von Stimme und Ohr in der Philosophie. Unterschlagen werden soll hier allerdings nicht, dass Plessner seine anthropologische Ausarbeitung mit seiner Kritik an „Technisierung“, „Möglichkeiten elektronischer Tonerzeugung“ und einer „vor nichts zurückschreckende(n) Interpretationslobby“ argumentativ verkoppelt.[15] Gerade an der Schnittstelle des „Sich-selber-Hörens“ kommen seit ungefähr seit Beginn de neuen Jahrtausends mit digitalen Ton- oder Soundprozessoren als sogenannte Cochlea Implantate zum Zuge. „Taubstumme“, um diesen Begriff einmal anzuwenden, können unter bestimmten Grundbedingungen wie einem intakten Hörnerv über CIs hören. Zum ersten Mal hörte ich um 2000 von einem seit seiner Kindheit Gehörlosen, der mittels der damals noch großen Hinterohrprozessoren hören lernte. Prof. Dr. med. Heidi Olze hat als Direktorin der HNO-Klinik an der Charité um 2010 die CI-Versorgung aufgebaut und vor allem frühzeitig bei Kindern eingeleitet und erforscht. Sie plädiert für eine synchrone Versorgung.[16] Die Operation besteht darin, dass Sonden in das Innenohr, die Ohrschnecke bzw. Cochlea verlegt werden, um die Hörnerven anders als bei einem nur verstärkenden akustischen Hörgerät, sagen wir, direkt anzusprechen.
Die Digitalisierung des Hörens durch ein CI dürfte aktuell in Industrieländern bereits für hunderttausende Kinder Realität sein. Dadurch wird diesen Kindern allererst ein Spracherwerb und das „Sich-selber-Hören“ ermöglicht. Der Soundprozessor hinter dem Ohr lässt sich beispielsweise mit einer App auf dem Smartphone durch mindestens 4 akustische Programme wie „Musik“, „Café“, „Gruppe“ und „Scan“ steuern. Die Programme blenden z.B. im Café oder Restaurant störende Geräusche wie Tellerklappern etc., die normalhörende Menschen ausblenden können, digital aus. Das Musikprogramm erlaubt es, jedes Knirschen des Streugutes unter den Schuhen im Winter, jede Vogelstimme und jedes Instrument in einem Symphonieorchester zu hören. Es erlaubt ebenso eine Unterscheidung zwischen „elektronischer Tonerzeugung“ und dem Ton einer erweiterten Spielweise eines traditionellen Instrumentes wie einer Bratsche. Dabei könnten unterdessen erweiterte Wissensformen eine Rolle spielen und notwendig sein. Bei Erwachsenen können die Hörnerven in der Cochlea durch Operationen, Unfälle oder Kriegshandlungen beschädigt werden, so dass kein akustisches Hörgerät mehr ausreicht. Verblüffend ist es, dass sich z.B. in einem Symphoniekonzert der akustische Höreindruck mit dem digital verarbeiteten Klang im Kopf, vielleicht besser Gehirn, zu einem sehr genauen und oft beglückenden Klangerlebnis vermischt.
Was heißt es, wenn ich mich durch ein digitales Programm höre und bereits zahllose Kinder sich auf diese Weise hören? Die schreibendsprechenden Programme wie ChatGPT lösen die Frage nach der Intelligenz und der vielschichtigen Macht der KI, englisch AI aus. Ohne CI-Programm könnten viele Kinder sich heute nicht selber hören und ihre Intelligenz entwickeln. Kriegsverletzte Kinder, Frauen und Soldaten erhalten durch ein CI überhaupt wieder die Möglichkeit, hörend am Leben teilzunehmen. In Deutschland ist durch Angehörige der Bundeswehr um 2010 das Recht auf eine CI-Versorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung erstritten worden.[17] Könnte es sein, dass ChatGPT Bedenken und Ängste freisetzt, weil es schreibt und spricht, während gleichzeitig die Weiterentwicklung von CI-Prozessoren und ihren Programmen die akustische Teilhabe am Leben überhaupt ermöglicht? Das Hören wird nur durch eine Maschine möglich. Das „Humanum“ wird mit dem Programm einer Maschine verkoppelt und möglich.
An dieser Stelle kann auf eine CI-Debatte unter Gehörlosen aufmerksam gemacht werden, die den Bereich der Digitalisierung ausspart. 2006 veröffentlichte der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. eine Stellungnahme zu Cochlea Implantaten, in der die „These „besseres Hören = bessere Lebensqualität““ als „nicht automatisch zutreffend“ kritisiert wird. Besondere Beachtung erhalten vor allem sprachliche und kulturelle Aspekte der „Gehörlosengemeinschaft“, die insbesondere für „gehörlose Kinder“ in Anschlag gebracht werden. „Gebärdensprache, Gehörlosenkultur und die gesetzlich geregelten Möglichkeiten zum Einsatz von Gebärdensprachdolmetschern können gehörlosen Kindern Perspektiven eröffnen, die unabhängig von ihrer Hör- und Sprechfähigkeit sind.“[18] Das CI macht Angst und wird insbesondere als Gefährdung der Gebärdensprache und der Gehörlosenkultur eingeschätzt, was einen Wink gibt auf das Feld der Sprach- und Kulturforschung. Anders gesagt: Das CI lässt sich ebenfalls als eine von Sigrid Weigel formulierte „Figuration() von Stimme und Ohr“ bedenken.
Inwiefern sich die Gehörlosenkultur einer „Gehörlosengemeinschaft“ seit 2006 unter der zunehmenden CI-Versorgung von Kindern und Erwachsenen verändert hat, kann nicht eingeschätzt werden. 2020 erschien allerdings ein umfangreicher Artikel zur CI-Debatte mit dem Titel Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen mit dem Untertitel „Die Gehörlosen-Community fühlt sich im ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht“.[19] Die Digitalisierung durch das CI wird weiterhin als Angriff auf die „Identität und Kultur“ gehörloser Menschen betrachtet: „Für viele, wenn nicht sogar für die meisten taub geborenen Menschen ist Gehörlosigkeit keine Behinderung, sondern Teil ihrer Identität und Kultur, die von der hörenden Mehrheitsgesellschaft missachtet, diskriminiert und bedroht wird“, schreibt Marija Barišić. So wird die CI-Debatte, obwohl als marginal eingeschätzt, zu einem Feld für die Kulturforschung. Obwohl der „Soundprozessor“ im Artikel mehrfach erwähnt wird, stellt Marija Barišić ihn nicht in den größeren Kontext der Programme und der Digitalisierung. Die Stimme und das Hören von Stimmen wird allerdings mehrfach erwähnt.
Mit ihrem kulturwissenschaftlichen Vortrag zu Beichtstuhl, Couch und Programm macht Sigrid Weigel auf Kulturen des Sprechens und Hörens in einem historischen Abriss von den Ohrenstelen der Ägypter bis zum Programm aufmerksam. Die Kultur der Ohrenstelen wird seit langer Zeit nicht mehr praktiziert. Die Kultur der Ohrenbeichte vor allem in der Katholischen Kirche wurde seit jeher nicht nur von kleinen Mädchen als seltsam empfunden – „Ich wusste doch gar nichts zu beichten“, wiederholt meine Mutter(89) oft. Sie ist durch Kirchenaustritte allemal am Schwinden. Ob die psychoanalytische Kultur der Couch bereits ihren Zenit überschritten hat, lässt sich schwer sagen. Welche Figurationen von Stimme und Ohr die Digitalisierung noch hervorbringen wird, wissen wir nicht. Marcel Beyer machte in seiner wunderbaren Lecture-Performance eine ganze Reihe von außergewöhnlichen Vinyl-Schallplatten zum Thema, die er durch einen selten gewordenen Plattenspieler zum klingenden Rauschen brachte. Die Vinyl-Kultur, die heute eine besondere Kennerschaft erfordert und die 2016 noch mit einer Sonderedition des Brahms-Zyklus mit Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern als Direktmitschnitt gefeiert wurde[20], ist quantitativ am Abklingen. Zweifellos ging es dabei um eine Figuration von Stimme und Ohr.
Beim Direktmitschnitt und Plattenspieler sind in der Vinyl-Kultur bereits Maschinen zwischen Stimme und Ohr im Spiel. Während Marcel Beyer das Rauschen und das Nicht-Verstehen der Stimmen besonders mit der Maschine des Plattenspielers vorführte, ging es den Berliner Philharmonikern um einen reinen Klang durch die Direktheit des Mitschnitts. Zur Produktion der Vinyl-Platten wurde im Emil Berliner Tonstudio mit dem Meistersaal in der Köthener Straße eine technisch hoch ausdifferenzierte Maschine eingesetzt. Die menschliche Stimme der Orchestermitglieder und ihres gefeierten Chefdirigenten wurde in der Philharmonie durch eine eigene Installation direkt aufgezeichnet, um über Plattenspieler und exquisite Lautsprecher an das Ohr genießender Kenner in aller Welt gebracht zu werden. Maschinen generieren Kulturen und gefährden andere. Immer noch haben Menschen Praktiken entwickelt, mit Kulturveränderungen umzugehen. Vielleicht ist das das Erstaunliche an der conditio humana. Die conditio humana lässt sich selbst nicht fassen, vielmehr muss sie unablässig in den Kulturen bedacht werden.
Torsten Flüh[21]
Mosse-Lectures
Nach der Stimme
Videos der Lectures auf YouTube
[1] Ulrich Schnabel: Selbst macht klug. In: Die Zeit N° 6 Print vom 2. Februar 2023 (ohne Seitenzahl).
[2] Helmuth Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin: De Gruyter, 1965, S. 16.
[3] Utz Maas: Pleßner, Helmuth. In: Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Zuletzt aktualisiert: 03. Mai 2018.
[4] Ebenda.
[5] Johannes F. Burow, Lou-Janna Daniels, Anna-Lena Kaiser, Clemens Klinkhamer, Josefine Kulbatzki, Yannick Schütte, Anna Henkel [Hrsg.]: Mensch und Welt im Zeichen der Digitalisierung. Perspektiven der Philosophischen Anthropologie Plessners. Baden-Baden: Nomos, 2019.
[6] Ebenda S. 11.
[7] Zitiert nach gehörter Mitschrift während des Vortrags.
[8] Richard Paluch: Die technisch vermittelte Umweltbeziehung des leiblichen Selbstes in virtuellen Welten. In: Johannes F. Burow, …: Mensch … [wie Anm. 5] S. 153
[9] Ebenda S. 156.
[10] Helmuth Pleßner: Die Stufen … [wie Anm. 2] S. 16.
[11] Helmuth Plessner: Anthropologie der Sinne. In: ders.: Gesammelte Schriften III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 343.
[12] Ebenda S. 345.
[13] Siehe zu Ludwig Wittgenstein auch: Torsten Flüh: Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur. Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2022.
[14] Helmuth Plessner: Anthropologie … [wie Anm. 11] S. 346.
[15] Ebenda S. 348.
[16] Cochlear: Prof. Dr. med. Heidi Olze: Erfolgt die Cochlea-Implantation automatisch an beiden Ohren? YouTube 25.03.2013.
[17] Vom Hörensagen durch den CI-Techniker in der HNO-Klinik der Charité mitgeteilt.
[18] Deutscher Gehörlosen-Bund e.V.: Stellungnahme zum Cochlea-Implantat (CI). (Ohne Datum ohne Ort), S.4. (PDF 2006)
[19] Marija Barišić: Ein Implantat für gehörlose Kinder, das nicht alle Eltern wollen
Mit dem Cochlea-Implantat können Menschen wieder hören. Die Gehörlosen-Community fühlt sich in ihrem Kampf um Anerkennung dadurch bedroht. In: Der Standard 8. März 2020, 12:00.
[20] Siehe: Torsten Flüh: Einzigartig direkt. Zur neuesten Veröffentlichung der Brahms-Symphonien mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 26, 2016 19:09.
[21] Siehe auch: Torsten Flüh: Macht ein CI schneller? Marathon-Bestzeit mit Cochlea-Implantat. In: Deutsche Cochlear Implant Gesellschaft e.V. (Hrg): Die Schnecke Ausgabe 70, 2010, S. 18-19.