Von der Bogenforscherin und dem Fremdkörper

Bogen – Müll – Performance

Von der Bogenforscherin und dem Fremdkörper

Das JACK Quartet und oenm im Heimathafen Neukölln bei ultraschall berlin

Das festival für neue musik ultraschall berlin 2020 lässt sich in mehrfacher Weise nachhören. Denn als Live-Festival ist es am Sonntagabend mit dem letzten Ton der Uraufführung von Fabien Lévys De l’art d’induire en erreur verklungen. Für das Live-Erlebnis noch nie gehörter Uraufführungen werden sich die Leser*innen den 20. bis 24. Januar 2021 vormerken müssen. Denn ultraschall berlin kann als Festival nur empfohlen werden. Was in größter Dichte innerhalb von 5 Tagen an Ur-, Deutschen Erstaufführungen und Erstaufführungen sowie Uraufführung einer revidierten Fassung live geboten wurde, sucht seines gleichen wohl nicht nur in Europa. Die neue musik in unterschiedlichen Formaten zwischen Kammermusik, Musiktheater und Sinfonieorchesterkonzert ist hier wirklich neu. Zwischen Nachwuchspflege und längst international anerkannter Komponistin, zwischen Newcomer und erfahrenem Dirigenten entfaltet sich eine faszinierende Festival-Dynamik.

In dieser Besprechung werden zwei Konzerte inklusive Sendedaten im Heimathafen Neukölln mit einem inspirierenden Quartett, dem JACK Quartet, und einem hochperformativen Ensemble, dem œnm, teilweise genauer vorgestellt. Das sollten Sie jetzt einmal laut lesen: œnm. Es geht um Klang und Laute, so dass œnm – kurzes œ, kurzes n, ausklingendes, längeres m – viel besser klingt als österreichisches ensemble für neue musik. Mit œnm, wie ich es klanglich vorschlage, fängt schon neue Musik an. Das JACK Quartet kam also am Donnerstagabend aus New York. Am 1. Februar gastieren sie im Southbanks Centre in London. Das œnm am Freitagabend zur Primetime kommt aus Salzburg, wo es bereits 1975 gegründet wurde. Die Schnittstelle zwischen New York, Salzburg und z. B. Rom ist dann der Heimathafen (Berlin-)Neukölln. Denn die Komponistin Clara Iannotta wurde in Rom geboren und ist nach einem Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD „based in Berlin“. In beiden Konzerten wurden Kompositionen von Clara Iannotta gespielt.

Clara Iannotta hat sich mit ihrem Komponieren zu einer Bogenforscherin entwickelt. Es gibt Papierbögen, Brückenbögen, Bögen in der Architektur überhaupt und Streicherbögen. Für das JACK Quartet mit Christopher Otto, Violine, Austin Wullman, Violine, John Pickford Richards, Viola, und Jay Campbell, Violoncello, setzt sie nun die Bögen auf vielfältigste Weise ein, so dass immer neue Klänge entstehen, die sich Clara Iannotta ausgetüfftelt hat. Die klassische Form des Streichquartetts wird von ihr zerlegt, erforscht und neuartig kombiniert. Dadurch entstehen völlig neue Klänge jenseits der klassischen Tonleiter. Gleichzeitig suchte Clara Iannotta nach einem Alleinstellungsmerkmal. Ihre Musik ist unverwechselbar geworden. Sie ging dabei von der Frage aus: „Wie schaffe ich es, dass das Publikum nach einem Konzert mit Stücken verschiedener Urheber nicht denkt: »Welches war noch mal das von Clara Iannotta?«“[1]

Das JACK Quartet hat gerade ein neues Album mit Stücken von Clara Iannotta aufgenommen, wie Rainer Pöllmann vom Deutschlandfunk Kultur in seiner Ansage verriet. Damit wird sie auch in einen illustren Kreis zeitgenössischer Musikliteratur aufgenommen, die das JACK Quartet seit 2005 eingespielt hat. Darunter Iannis Xenakis, György Ligeti, John Cage, Matthias Pintscher, Helmut Lachenmann oder Chaya Czernowins Hidden von 2017. Mit You crawl over seas of granite (2019) für Streichquartett in veränderter Stimmung und Elektronik spielte das JACK Quartet am 16. Januar im Heimathafen das von der Ernst von Siemens Musikstiftung finanzierte Auftragswerk als Uraufführung. Clara Iannottas Titel für Kompositionen werden oft narrativ und/oder paradox formuliert wie A Failed Entertainment von 2013. 2017 war Clara Iannotta in Berlin mit Clangs bei Mikromusik zu hören.[2] Auch für die Aufführung von smudged – a carbon copy (2016/17) bei KONTAKTE ’17, der 2. Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst in der Akademie der Künste, arbeitete Clara Iannotta mit einer paradoxen Komposition.[3]

Clara Iannotta arbeitet beim Komponieren konzeptionell, was in der Moderne selbst schon als ein forschendes Verfahren gedacht werden kann. Ihr kompositorisches Verfahren bestand bis zum Streichquartett darin, „dass jedes (ihrer) Stücke aus nur einem einzigen Klang (bestand); und aus der Erforschung der Tiefe dieses Klangs. (…) Es geht um einen Klang und ich navigiere gewissermaßen durch diesen Klang hindurch, beleuchte alle möglichen Facetten des Klangs und tauche immer tiefer in ihn hinein.“[4] Die Klangerforschung als Konzept leitet bereits hinüber zur Bogenforschung, bei der es darum geht, die Möglichkeiten des Streicherbogens am Instrumentenkörper zu erweitern. Der Bogen wird nicht nur auf den Saiten der Streichinstrumente anders eingesetzt, er wird auch über die Holzkanten gezogen oder geklopft. Damit erweitert sie ganz ungemein das Klangspektrum der Streicher. Das kann man zwar auch hören, doch erst wenn man im Konzert sieht, auf welche Weise die Bögen eingesetzt werden, tritt die innovative Praxis ganz hervor.

© rbb/Simon Detel

Musikmachen als Denken und Forschen mit Instrumenten und Klangmaterial steht bei Clara Iannotta im Vordergrund. Das sollten die Hörer*innen auch mit ihrer Haltung beim Zuhören berücksichtigen. Für A Failed Entertainment heißt das, dass die individuellen Spielweisen im Streichquartett gerade nicht Johann Wolfgang Goethes Briefformulierung an Friedrich Carl Zelter in Berlin vom 9. November 1829 – „man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen“[5] – als Unterhaltung bestätigen. Geht es nach Goethe darum, beim Streichquartett einer Unterhaltung (conversation/entertainment) zuzuhören, so lässt Iannotta diese gerade scheitern (fail), stellt allerdings umso mehr die „Eigentümlichkeiten der Instrumente“ in erweiterter Form vor. Statt Unterhaltung gibt es mehr Eigentümlichkeiten der Instrumente und individuellen Spieler.

© rbb/Simon Detel

Clara Iannotta berücksichtigt ein historisches und genrebezogenes Musikwissen. Sie bezieht sich auf dieses sogar in ebenso subtiler wie paradoxer Weise. Sie spielt und montiert gar ein mehr oder weniger verbreitetes Musikwissen, das sie dennoch nicht in den Vordergrund stellt. Vielmehr wird es mit dem Musikmachen erkundet: „Ich habe versucht alle vier Streicherstimmen als unterschiedliche Individuen mit jeweils exklusiven Eigenschaften zu behandeln, anstatt sie als homogenen Klangkörper zu begreifen.“[6] Ein homogener Klangkörper oder eine Unterhaltung von vier vernünftigen Leuten, wie Goethe es für ein Streichquartett von Möser formuliert, setzen auch eine gewisse Berechenbarkeit der Musik voraus. Interessanter Weise wird von Leonie Reineke bei der Anmoderation von A Failed Entertainment auf Deutschlandfunk Kultur mit einer Lektüre des Romans Infinite Jest von David Foster Wallace in Verbindung gebracht. Bei einer viertägigen Bahnreise von San Franzisko nach New York habe die Komponistin den Roman gelesen, dessen ursprünglicher Titel A Failed Entertainment gewesen sei.[7]

Mit welchem Wissen komponiert wird, formuliert Clara Iannotta denn auch für das Auftragswerk You crawl over seas of granite (2019) komplex. Einerseits gibt es das „wissenschaftliche Feld“ des Meeresgrundes, von dem sie sagt, dass sie davon „wirklich besessen“ sei.[8] Man könnte wohl daraus schließen, dass dieses Wissen aus der Wissenschaft imaginär immer ins Komponieren hineinspielt. Andererseits verrät sie im Gespräch, dass der literarische Titel ein Zitat aus dem Gedicht Going your own way der irischen Lyrikerin Dorothy Molloy sei. Lyrik und Wissenschaft als literarische Formen spielen parallel in die Komposition eines Streichquartetts hinein. Das hat auch etwas mit Kontrollwünschen und poetischer Offenheit zu tun. Denn Clara Iannota sieht sich als „absolute(n) Kontrollfreak“, um zugleich durch die Stimmung der Instrumente um „teilweise mehr als eine Oktave nach unten“, die Kontrolle über die „Farbabstufung“ aufzugeben.[9]

© rbb/Simon Detel

Im Konzert sind dann durch Elektronik weiterverarbeitete, echohafte Klangarrangements zu hören. Wie sich die Tiefe am Meeresgrund anhört, wissen wir nicht, weil sie nur medial hörbar gemacht werden kann. Allein der Wasserdruck aufs Trommelfell in der Tiefe verursacht Stille. Was lässt sich also am Meeresgrund hören? Werden wir nicht mit unseren eigenen Geistern und Imaginationen konfrontiert? Es ist ein wenig wie mit dem Buch Anfang der 70er Jahre über Seekühe, das ich als Kind geschenkt bekam und dem eine Single (kurze Schallplatte) beilag. Auf der Schallplatte waren erstmals Seekühe im Mittelmeer für das menschliche Ohr zu hören. Damals eine Sensation. Das faszinierte mich als Kind ungemein und war auch ein wenig unheimlich. Laute von Seekühen gibt es in der Komposition nicht Clara Iannotta nicht zu hören. Doch das Unheimliche, das sich nicht einordnen und kontrollieren lässt, schwingt in ihrem Streichquartett mit.

Das œnm überraschte schon vor Beginn des Konzerts mit einer Verpackung ihrer Instrumente in Müllsäcke für das Stück Kaput II(2017) der Komponistin Manuela Kerer. Andreas Göbel schlug einen Bogen zum Verhüllungskünstler Christo in seiner Anmoderation. Doch die visuelle Installation auf der Bühne gibt weniger einen Wink auf die Verhüllung längst bekannter Bauwerke oder Orte, um die Wahrnehmung für sie zu schärfen, als vielmehr auf den Müll in mehreren Ebenen. Die ungewöhnliche Instrumentenkombination aus Cembalo (Nora Skuta), Paetzoldflöte (Elisabeth Wirth), Harfe (Katharina Teufel-Lieli), Querflöte (Irmgard Messin) und Tape bringt historische Instrumente mit der erst von Herbert Paetzold seit den 80er Jahren gebauten eckigen Bassblockflöte zusammen. 2001 konstruierte Paetzold eine Subkontrabassblockflöte in FF mit 2,45 m Größe und 3,60 m schwingender Luftsäule. Die von Elisabeth Wirth dürfte eine kleinere Ausgabe davon sein.

Das Tape als Magnetband verweist bereits auf die populäre, elektronische Konserve. Auf Tapes als Datenträger wurde vor allem Musik zum schnellen Konsum mit Tonband und Musikkassette gespeichert und z. B. portabel mit dem Walkman genanntem Abspielgerät mit Kopfhörern oder im Auto nebenher abgespielt. Mit dem Tape als Konserve gibt Manuela Kerer einen Wink auf akustischen Müll. Zunächst spielen die Musikerinnen ihre Instrumente unter der raschelnden Müllsackhülle gegen die Wiederholungen vom Tape. Der Klang der Instrumente wird quasi durch die Müllsäcke kaputt gemacht oder zumindest beeinträchtigt. Dann reißen sie die Plastikhüllen von den Instrumenten. Der Plastikmüll bleibt auf der Bühne liegen. Die haptische, visuelle und akustische Aktion des Runterreißens wird selbst zur musikalisch-theatralen Performance.

© rbb/Simon Detel

Für den Berichterstatter ist es immer wieder aufs Neue überraschend, wie nah sich Komponist*innen mit aktuellen Gesellschaftsthemen wie Plastikmüll auseinandersetzen. Doch das Müllthema beschäftigt Kerer nicht nur hinsichtlich der Gefahren für die Umwelt und Tiere, vielmehr produziert sie selbst beim Komponieren Noten, die im Kompositionsprozess gestrichen werden, um quasi auf dem Müll zu landen. Das gesellschaftliche Thema Müll wird quasi sinnlich bearbeitet. Diese Sinnlichkeit der Bearbeitung in der neuen musik generiert oft neuartige Wahrnehmungen. „Im vorliegenden Stück aber wurden Noten, die in anderen Stücken von Manuela Kerer zuerst notiert, dann aber gestrichen wurden, wieder ausgegraben, entstaubt und neu zusammengesetzt. Sie haben darüberhinaus zu neuen Ideen und Entwicklungen inspiriert.“[10] Plötzlich wird das Thema Plastikmüll mit einer Klangstörung und dem hörbaren Protest der Musiker*innen bearbeitet. Die Wahrnehmung von Musik wird verändert. Zwar lehnen Komponist*innen oft ab, dass sie an eine politische Kraft ihrer Werke glauben. Doch sie fordern mit ihren Kompositionen eben eine sinnliche Wahrnehmung heraus, die zum Handeln anstoßen könnten.

Kaput II funktioniert als sinnliche Störung, die durchaus visuell und akustisch inszeniert wird und performativ zur verändernden Aktion anregt. Das Sinnliche generiert sozusagen Sinn. Die Frage nach dem Müll wird von Manuel Kerer konzeptionell bearbeitet.
„Um den Akt des Wegwerfens plakativ darzustellen werden die Instrumente zunächst in (transparente) Müllsäcke verpackt. Daraufhin erklingt der (in Kerers Ohren) Inbegriff für musikalischen Müll: Midi-Instrumente (Midi-Blockflöte und Midi-Gitarre). Dabei schauen die Musiker mit in Müllsäcken verpackten Instrumenten in Spielposition regungslos auf die Noten. Beeinträchtigt durch die Müllsäcke beginnen auch sie zu spielen und es ergibt sich ein komisch anmutendes Sextett, wobei die Midi-Instrumente beispielsweise auf den richtigen Instrumenten nicht spielbare Töne zum Besten geben, die Musiker sich demgegenüber „mit Gefühl“ spielend abheben. Kurz bevor (oder schon mittendrin?) es extrem nervt befreien die Musiker ihre Instrumente und spielen ohne Plastikzusatz. Die Midi-Instrumente? Denen verschlägt es „die Sprache“.“[11]   

Von Olga Neuwirth wird die Störung der (kulturellen) Wahrnehmung mit Marsyas II nach Eckhard Weber durch ein Interesse für „Underground-Kulturen“ bearbeitet.[12] Was könnte hier „Underground-Kulturen“ heißen? Underground im Gegensatz zur Hochkultur? Das Bildungswissen der griechischen Mythologie wäre gewiss alles andere als Underground. So erinnert der titelgebende Satyr an die griechische Mythologie und eine Art Künstlerwettstreit mit dem Gott der Künste Apollon. Zugleich verweist der Satyr als Stellvertreter auf den Gott Dionysos, so dass unter dem Namen Marsyas das sogenannte Dionysische auf das Apollinische trifft. Die von Weber angeschriebenen „Underground-Kulturen“ betreffen insofern insbesondere das Geschlechtliche in seiner Mehrdeutigkeit, wie es wiederholt und nicht zuletzt mit Hans-Werner Henzes und Wystan Hugh Audens Oper The Bassarids in den Künsten angespielt worden ist.[13]

© rbb/Simon Detel

Damit wird die Frage aufgeworfen, ob die sogenannten „Underground-Kulturen“ nicht die ur-sprünglichen vor ihrer Normalisierung sind. Ist Olga Neuwirth eine queere Komponistin, die mit Marsyas II vor allem die apollinische Ordnungsmacht stört? Queere Praktiken vermögen zu stören, weshalb der offenbar nicht queere, also „straight“ oder stinknormale „Feuilletonmitarbeiter“ Manuel Brug anlässlich der Uraufführung von Orlando im Dezember 2019 an der Wiener Staatsoper von dem „hierzulande noch selten gebrauchten Begriff „queer““ in der Welt schreibt.[14] In Marsyas II setzt Olga Neuwirth „zu Beginn der Komposition (…) die Stimmen der Instrumente so raffiniert (…), dass Violine und Cello sowie die Flöte tatsächlich klanglich zu einer ätherisch wirkenden Doppelflöte verschmelzen“.[15] Doch dieses Doppelflötenspiel bezieht sich insbesondere auf die durchaus queere Figur des Satyrs Marsyas als Stellvertreter Dionysos‘. „(B)rüske Umbrüche verändern ständig das Geschehen zu einer vielfach gebrochenen Dramatik“, schreibt Weber. Doch vielleicht gehören die „brüsken Umbrüche“ genau zu vermeintlichen „antike(n) Idylle“ des Doppelflötenspiels? Wenn sich die Komponistin dazu hätte eindeutig positionieren wollen, hätte sie das Stück nicht komponieren müssen.

Die Viel- und Mehrdeutigkeit der Musik spielt auch für das musiktheatralische Stück Fremdkörper/Variationen (2015) von Elena Mendoza eine wichtige Rolle. Einerseits ist das Stück eine Art Experiment über „Fremdkörper“ in der Musik. Andererseits reagierte die in Berlin arbeitende und lebende Komponistin aus der Hauptstadt Andalusiens, Sevilla, in Spanien spontan auf die hasserfüllten Reaktionen während der Flüchtlingskrise 2015. Im Gespräch mit Andreas Göbel sagte sie, dass sie die Einladung zum Fest Goldberg-Variationen der Alten Oper Frankfurt erhalten hatte. Damit war das Thema der Variationen vorgegeben. Kompositorisch verwendete sie „Alltagsobjekte“ als Fremdkörper, um die Instrumente wie vor allem das Klavier zu präparieren. Zugleich war im September das Thema der Integration medial allgegenwärtig, so dass bereits Integrierte oder auch Integriertes fast plötzlich als fremd bestimmt wurde.[16] Darüber habe sie arbeiten wollen.

Das Politische in der neuen musik soll zumindest für Margareta Ferek-Petric, von der free walk with(out) me (2017) für Bassflöte, Paetzoldflöte, Harfe und Cembalo ebenfalls gespielt wurde, und Elena Mendoza nicht eindeutig festgelegt werden. In Fremdkörper/Variationen werden allerdings die Alltagsgegenstände zunächst in die Variationen integriert. Sie lassen sich im Flügel bzw. Klavier akustisch nicht identifizieren. Doch dann werden sie allererst als Fremdkörper nach und nach von einem Performer aus dem Flügel entnommen, um auf einen Tisch mit weißer Tischdecke gelegt zu werden. Die nun sichtbaren, desintegrierten Fremdkörper werden als solche vorgeführt und vorgeblich untersucht. Die Fremdkörper werden allererst durch die visuelle, auch komische Präsentation zum Beispiel einer leeren Weinflasche sichtbar. Es kommt quasi zu einem medialen Bruch zwischen der akustischen und der visuellen Wahrnehmung. Erst die sichtbare Vereinzelung macht den politischen Prozess des Fremdwerdens performativ sichtbar.

Elena Mendozas akustisch-visuelle Komposition macht einen politischen Prozess sichtbar. Sie befragt oder dreht damit die Wahrnehmung des Fremden um. Natürlich ist diese Praxis sehr politisch. Denn sie führt vor, wie das Fremde oder der Fremdkörper gemacht wird, während rechte Politiker*innen ein ursprünglich Fremdes behaupteten. Was spielerisch und performativ vom œnm aufgeführt wird, zeigt gerade Haltung gegen das Fremdmachen. Insofern wird neue musik immer dann politisch, wenn sie kulturelle Praktiken zum Thema macht, sie in ihrer Funktion freilegt und, sagen wir, im Halbernst anders vorführt.        

Torsten Flüh

JACK Quartet
Clara Iannotta
Heimathafen Neukölln
rbbKultur
Musik der Gegenwart
18. März 2020, 21:04 Uhr

œnm.
österreichisches ensemble für neue musik
rbbKultur
Musik der Gegenwart
20. Februar 21:04 Uhr


[1] Clara Ianmotta: Konstantes Unbehagen. In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. festival für neue musik. Berlin 2020, S. 20. (online: Lesen Sie auch)

[2] Siehe: Torsten Flüh: Klangspuren sinnlich. Max Eastley und das Eröffnungskonzert von mikromusik. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 30, 2017 21:52.

[3] Siehe: Torsten Flüh: Von der Rückkehr des Nullstrahlers. KONTAKTE ’17, der 2. Biennale für Elektroakustische Musik und Klangkunst in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 2, 2017 19:13.

[4] Clara Iannotta: Konstantes … [wie Anm. 1] S. 21.

[5] Johann Wolfgang Goethe an Carl Friedrich Zelter 9.11.1829 (Goethe- und Schiller-Archiv)

[6] Clara Iannotta: Konstantes … [wie Anm. 1] S. 21.

[7] Leonie Reineke: Clara Iannotta Streichquartett Nr. 1 A Failed Entertainment. Mediathek 20:25 16.1.2020.

[8] Clara Iannotta: Konstantes … [wie Anm. 1] S. 24.

[9] Ebenda S. 25.

[10] Mauela Kerer: kaputt II. (online).

[11] Ebenda.

[12] Eckhard Weber: Olga Neuwirth – Marsyas II.  In: Deutschlandfunk Kultur (Hg.): ultraschall berlin. festival für neue musik. Berlin 2020, S. 43. (online)

[13] Vgl. zu Dionysos und The Bassarids: Torsten Flüh: Queering the Classics. Zu Wystan Hugh Audens, Chester Kallmans und Hans Werner Henzes moderner Antiken-Oper The Bassarids in der Komischen Oper. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. November 2019.

[14] Manuel Brug: Diese Frau will die Wiener Staatsoper sprengen. In Die Welt. Veröffentlicht am 08.12.2019.

[16] Eckhard Weber: Olga … [wie Anm. 12].

[16] Vgl. auch Musikfest Goldberg-Variationen, Alte Oper Backstage am 16.09.2015, Ensemble ascolta, Elena Mendoza (Komposition) vom 22.09.2015.

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