Trauer – Lied – Leiden
Von dem Gesang der Bratsche
Zum Abschlusskonzert des Musikfestes Berlin mit Kompositionen von Wolfgang Rihm und der Uraufführung seiner (zweiten) Stabat Mater
Das Musikfest Berlin war in diesem Jahr mehr als ein Experiment auf die Musik. Es wurde ein Widerstand gegen das Regime der Covid-19-Pandemie. Komponist*innen, Musiker*innen, Organisator*innen und das Publikum setzten ihm ein Trotzdem entgegen. Ein wohl überlegtes und ausgeklügeltes System der Vorkehrungen gegen eine Infektion mit Sars-Cov2 hat sich in allen Konzerten bewährt. Anders als bei der Saisoneröffnung im Teatro Real in Madrid mit Giuseppe Verdis Ein Maskenball am letzten Sonntag kam es in der Philharmonie zu keinen Protesten des Publikums, weil zwar im Parkett auf den teuren Plätzen ein Abstand, aber auf den Rängen keiner vorgesehen war. In der Philharmonie gab und gibt es für die Vorkehrungen keine sozialen Unterschiede. Der Künstlerische Leiter des Musikfestes, Winrich Hopp, indessen bedankte sich beim Publikum, dass es überhaupt so zahlreich zu den Konzerten erschienen war.
Das Abschlusskonzert mit Werken von Wolfgang Rihm um 17:00 Uhr war nahezu ausverkauft. Für 21:00 Uhr wurde gar eine Wiederholung angesetzt. Nach 7 Monaten traten 9 Musiker*innen der Berliner Philharmoniker zum ersten Mal wieder gemeinsam mit Solist*innen unter der Leitung von Stanley Dodds auf, während der internationale Konzert- und Opernbetrieb weiterhin weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Die Uraufführung der Stabat Mater für die mit Rihm seit geraumer Zeit befreundeten Bratschistin Tabea Zimmermann und den von ihm ebenfalls geschätzten Bariton Christian Gerhaer wurde zweifelsohne zum Höhepunkt des Konzertes. Wolfgang Rihm konnte zur Uraufführung, wie es Hopp formulierte, leider „nicht da sein“. Rihm leidet seit 2017 an einer Krebserkrankung, die ihn offenbar auch bei der Wahl der Kompositionsthemen beeinflusst, so dass beim Musikfest 2019 sein „Gryphius Stück“ Vermischter Traum mit dem Gedicht Thränen in schwerer Krankheit für den Bariton Georg Nigl von diesem uraufgeführt wurde.[1]
Die Uraufführungen der Lieder Stabat Mater in diesem und Vermischter Traum im letzten Jahr lassen sich aufeinander beziehen. Wolfgang Rihm wendet sich auf sehr unterschiedliche Weise dem Lied zu. Während die recht abgelegenen Gedichte des Barockdichters Andreas Gryphius zu Krankheit und Zeitlichkeit zum Lied Vermischter Traum erstmals montiert werden, wurde das mittelalterliche Gedicht Stabat Mater recht häufig von Komponist*innen auf unterschiedlichste Weise bis in die Gegenwart zum Lied oder gar für Oratorien „vertont“. Es gibt mehr als 150 Kompositionen der Stabat Mater[2] seit 1480 von Orlando di Lasso über Rossini, Verdi und Liszt bis Poulenc und Penderecki sowie eine von Wolfgang Rihm aus dem Jahr 2000 „für Mezzosopran, Alt, Streicher und Harfe“. Zwischen der Motette von Josquin Desprez, Chorversionen von Palestrina und Sopran, Alt, Tenor und Streicher-Trio von Arvo Pärt entfaltet sich eine breite Liedkultur der Stabat Mater.
Die Kompositionsform Lied kehrt sich nun nahezu in der Kombination von Viola und Bariton um. Denn Tabea Zimmermann begleitet mit dem Soloinstrument nicht nur den Gesang, vielmehr bringt sie ihre Viola selbst zum Singen. Zwischen den Strophen gibt es Soli für die Viola, die hoch anspruchsvolle Passagen bis zur Virtuosität vorsehen. Während die Viola im Symphonieorchester meistens nur den – gerade schwierig zu erzeugenden – Streicherklang bis zum Klangteppich herstellen, hat Tabea Zimmermann in den letzten Jahren die Viola als Soloinstrument verstärkt ins Interesse gerückt. 2019 führte sie mit François Xavier Roth und Les siècles Harold en Italie von Hector Berlioz als eine Art Wiederentdeckung beim Musikfest Berlin auf.[3] Tabea Zimmermann hat insofern überhaupt zu einer Neuentdeckung der Bratsche als Soloinstrument beigetragen, was seit einigen Jahren insbesondere in Berlin verfolgt werden konnte. In Berlioz‘ Symphonie Harold en Italie nach dem Gedichtepos Childe Harold’s pilgramage von Lord Byron übernimmt die Bratsche quasi die Solostimme des lyrischen Ich.
Christian Gerhaer singt die Stabat Mater in Latein, was insofern erwähnenswert ist, als im 19. Jahrhundert der durchaus stark formalisierte, gereimte Gedichttext ins Deutsche übersetzt wurde wie z.B. von Theodor Fröhlich 1820. Die mehrfache und wiederholte Übersetzung aus dem Lateinischen als katholische Kirchensprache im 19. Jahrhundert gibt einen Wink auf die Frage der Verständlichkeit von Liedtexten um 1800. Der liturgisierte Gedichttext mit seinem auch ambigen, fast magischen Potential will und soll in der Zielsprache verstanden werden. Das veränderte viel hinsichtlich der Liedpraxis. Da im 21. Jahrhundert nicht nur immer weniger Latein gelehrt und gebraucht wird, womit sich nicht zuletzt ein seit dem 19. Jahrhundert verbindliches, bürgerliches Bildungswissen verflüchtigt oder zumindest fachsprachlich transformiert, zeigt Wolfgang Rihm mit seiner nicht zuletzt musikalischen Entscheidung seine Haltung zum Lied.
Stabat mater dolorosa
Iuxta crucem lacrimosa,
Dum pendebat filius;
Cuius animam gementem.
Contristantem et dolentem
Pertransivit gladius.
…
Die 10 Strophen des Stabat Mater und seine schon mittelalterliche Übertragung ins Deutsche, Englische und Niederländische hat Andreas Kraß 1998 in seiner Schrift Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter untersucht, um eingangs auf die reiche musikalische Überlieferung hinzuweisen. Im Unterschied zu Lord Byrons epischem Gedicht der Reise nach Italien aus der Perspektive des Harold hat Kraß mit dem lateinischen Text des Stabat mater und seiner ebenso zahlreichen wie vielfältigen „volkssprachlichen Übertragungen“ gezeigt, dass es sich um ein wichtiges, wenn nicht konstitutives „Terrain der deutschen Literatur“ handelt.[4] Im 19. Jahrhundert findet einerseits eine wissenschaftliche Reflexion und Übertragung statt, andererseits wird das Gedicht in seiner lateinischen wie in seiner deutschen Version kompositorisch be- und verarbeitet, während es seinen liturgischen Gebrauch einbüßt. In der Marienverehrung als Praxis des Mitleidens, des Leidens und der Trauer nimmt die Stabat-mater-Literatur weiterhin eine verbreitete Funktion ein.
Wolfgang Rihm greift mit seinem Stabat Mater eine in den westlichen, christlichen Literaturen weit verbreitete Leidenspraxis auf. Der lateinische Text übt programmatisch eine hohe Identifikation des Betenden mit dem Leiden aus. Gesten und Visualisierung wie Medialisierung werden durch das Aussprechen des Textes in der ersten Person Singularis eingeübt und zur Wiederholung vorbereitet. Das Gedicht als literarische Form wird insofern zur kulturellen Praxis, die bis in die Geste des Kniebeugens auf Demonstrationen von Black Lifes Mattters fortlebt. Zugleich wird das Mitleiden seit dem 17. Jahrhundert zu einer Praxis des Genießens.
Fac me plagis vulnerari, Laß, wenn meine Wunden fließen,
Cruce hac inebriari liebestrunken mich genießen
Ob amorem filii. Dieses tröstenden Gesichts!
Inflammatus et accensus, Flammend noch vom heilgen Feuer,
Per te virgo, sim defessus deck, o Jungfrau, mich dein Schleyer
In die indici. Einst am Tage des Gerichts![5]
Wie in der Übertragung ins Deutsche durch Christoph Martin Wieland von 1779 erweist sich der lateinische Originaltext auf vielfältige Weise als anschlussfähig. Im Spätbarock wird das Genießen zur Selbstpraxis des Subjekts.[6] Das lyrische Ich des lateinischen Originals bleibt derart unbestimmt, dass es sich auf vielfältige Weise in der Übertragung grammatisch aktivieren lässt. Heinrich Bone übersetzte die gleiche Strophe 1847 auf entschieden andere Weise. Die Übertragungen ins Deutsche und andere Sprachen wie dem Polnischen generieren insofern seit dem Mittelalter höchst eigensinnige Anknüpfungen an den lateinischen Quelltext mit weitreichenden Folgen für Selbstpraktiken. Anders als bei Wieland findet sich das katholische Ich bei Bone nicht im Genießen wieder, vielmehr tritt nicht nur zufällig eine Ökonomie der Identifikation mit dem gekreuzigten Christus an Stelle seiner Mutter statt. Die mitleidende Identifikation wird nun als „mein Gewinn“ im Katholischen Gesangbuch für die „Fastenzeit“ vor Beginn der Karwoche formuliert.
Alle Wunden, ihm geschlagen,
Schmach und Kreuz mit ihm zu tragen,
das sei fortan mein Gewinn!
Dass mein Herz, von Lieb entzündet,
Gnade im Gerichte findet,
sei du meine Schützerin![7]
Bei Heinrich Bone nimmt das Stabat Mater für die „Fastenzeit“ eine bedenkenswerte Position im Ablauf des Kirchenjahres als zeitlich vorausgeschickte Trauer ein. Es lässt sich für ihn offenbar nicht so recht in die Karwoche oder gar in die Osterliturgie integrieren. Das Stabat mater dolorosa wäre dem Karfreitag zuzuordnen, um in die Auferstehung ins Paradies zu Ostern zu münden. Das geistliche Gedicht schwenkt mit der Figur der weinenden Mutter indessen auf einen Nebenschauplatz der Leidensgeschichte und des Todes Christi aus. In der Literatur des Neuen Testaments ist kein eigener Zeitpunkt für die hingebungsvolle Trauer der Mutter und der im allgemeinen vorgesehen. Insofern bricht das folgenreiche, anschlussfähige Gedicht in ein orthodoxes Kirchenjahr ein. Das Stabat Mater lässt sich schwer integrieren oder gar kanonisieren, um zugleich zu einem besonders begehrten Text für Übertragungen und Kompositionen zu werden. Artikuliert wird mit dem Stabat Mater eine Trauerpraxis, die für die Katholische Kirche letztlich inkommensurabel bleibt.
In diesem Kontext wird die Uraufführung der (zweiten) Stabat Mater von Wolfgang Rihm zu einem Novum in der Musikliteratur. Rihm lässt die Position des Ich mit dem lateinischen Text offen. Die Stimme der Bratsche setzt in einer magischen Tiefe der Vieldeutigkeit an. In Zwischenspielen gräbt sie sich in den Text ein, der von Christian Gerhaer an der Grenze zur Verständlichkeit des fast formelhaften Gedichts gesungen wird. Eine geschlossene Form wird durch die Eigensinnigkeit der Bratsche im Verhältnis zum Gedicht auch aufgelöst. Nach der letzten Strophe bleibt der Bratsche Zeit für eine Art gesanglichen Kommentar. Doch das „Paradisi gloriae“ wird nicht durch einen triumphierenden Jubel kommentiert, vielmehr verklingt die hochemotionale Violastimme von Tabea Zimmermann plötzlich in einem Abbruch. Geht es noch um eine menschliche Stimme im Gebet? Gibt es ein fernes humanistisches Echo?
Wolfgang Rihm hat sich in den beiden Instrumentalstücken Sphäre nach Studie (1993/2002) und Male über Male 2 (2000/2008) anderen Fragen nach der Musik gewidmet. Male über Male für Jörg Widmann und von ihm gespielt, erforscht nicht zuletzt alle klanglichen Möglichkeiten des Instrumentes. Musik wird bei Wolfgang Rihm gerade in den Instrumentalstücken immer auch zur Klangforschung. Mit Jörg Widmann erforscht er die Klarinette nicht nur in den Bereichen ausgeweiteter Spielpraktiken, vielmehr werden Klangschnitte insbesondere mit dem Schlagwerk (Jan Schlichte, Franz Schindbeck) und dem Klavier (Tamara Stefanovich) ausprobiert. Obwohl die Werke auskomponiert sind, bleibt ihnen doch eine Offenheit erhalten. Für Male über Male 2, das auch einen gewissen Modus der Wiederholung anzeigen kann, lässt sich eine satzartige Architektur in 5 Teilen hören. Dabei stellen sich nach tänzerischen Passagen u. a. Anklänge an den Jazz ein. Das Stück endet in einem tonlosen Verhallen.
Torsten Flüh
[1] Siehe die Besprechung der Uraufführung: Torsten Flüh: Singularitäten und das Einmalige. Zum BBC Symphony Orchestra unter Sakari Oramo und Georg Nigl mit Olga Paschenko beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2019.
[2] Siehe: Andreas Kraß: Stabat mater dolorosa: lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter. München: Fink, 1998, S. 11. (Digitalisat)
[3] Siehe: Torsten Flüh: Belletristik, Poesie und Begehren als Musikkomposition. François-Xavier Roth mit Les Siècles und Zubin Mehta mit dem Israel Philharmonic Orchestra beim Musikfest Berlin 2019. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Oktober 2019.
[4] Andreas Kraß: Stabat … [wie Anm. 2] S. 355.
[5] Zitiert nach lateinischem Originaltext und der Übertragung durch Christoph Martin Wieland 1779 auf dem Programmzettel.
[6] Zur Funktion des Genießens bzw. der Jouissance vgl. Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 25, 2019 18:52.
[7] Heinrich Bone (Hg.): Katholisches Gesangbuch nebst einem vollständigen Gebets- und Andachtsbuche. Paderborn: F. Schöningh, 1851, S. 67-68.
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