Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Kaiser – Kolonialismus – Kotau

Schloß Berlin Zimmer Nr. 669 und der private Kolonialismus des Kaisers

Zum ORTS-Termin Die koloniale Weltsicht Wilhelm II. mit Gästen des Museums Huis Doorn

Das Private und das Politische überschneiden einander in der kolonialen Weltsicht des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. auf unappetitliche Weise mit dem kunsthandwerklich bearbeiteten Elefantenfuß, den er im privaten Sternsaal unter einer Vitrine aufstellen und 1919 ins Exil nach Huis Doorn bringen ließ. Insbesondere an den privaten Besitztümern und deren Aufstellung in den Privaträumen Wilhelm II. im Berliner Schloss, die er mit seiner Familie nur wenige Wochen im Jahr nutzte, springt ein koloniales und rassistisches Gedankenensemble hervor. Die privaten Besitztümer ließ der Kaiser nach seiner Absetzung 1919 vom Hofmarschall und seiner Gattin aus Berlin güterwagonweise in sein Exil Huis Doorn bringen. Erstmals haben die Mitarbeiter*innen des Exil-Kaiser-Museums und der Universität Utrecht systematisch The Kaiser’s Colonial Worldview erforscht.

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In der Reihe ORTS-Termin fand nun ein Gespräch mit den Leiter*innen und Forscher*innen des Huis Doorn und der Universität Utrecht zum Kolonialismus Kaiser Wilhelm II. im Saal 6 des Humboldt Forums statt. Herman Sietsma, der Direktor von Huis Doorn, war mit seinem Team auf Einladung des Humboldt Forums aus den Niederlanden und dem kleinen Ort Doorn bei Utrecht angereist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das kleine Schloss, wo der letzte deutsche Kaiser am 4. Juni 1941 verstorben war, von den Niederlanden konfisziert und in ein Museum verwandelt. Der Privatbesitz, den Wilhelm II. aus dem Neuen Palais und dem Berliner Schloss nach Doorn hatte bringen lassen, wird seither im Museum geschlossen aufbewahrt und wie zu Lebzeiten ausgestellt. Die Debatte um den Kolonialismus der Niederlande erreicht mit dem Forschungsprojekt Huis Doorn.

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Britta Schilling und Cornelis van der Bas haben mit Student*innen der Universität Utrecht durch ein Praktikum im Huis Doorn die Studie The Kaiser’s Colonial Worldview zusammen gestellt und im März 2024 veröffentlicht. Durch das Praktikum zum Studiengang Geschichte und Geschichte der Kunst wurde die „material culture“ des Kaisers in Haus Doorn stärker in den Fokus gerückt.[1] Die „material culture“ arbeitet mit Dingen und Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden. Die Dinge in den 64 Wagons, die der Kaiser als persönlichen Besitz ins Exil bringen ließ, stammten aus seinen Privaträumen in Berlin und Potsdam und bildeten dort eine Form der Selbstinszenierung, die ihm so wichtig war, dass er sie im Huis Doorn auf ähnliche Weise arrangierte. Einerseits ging es um monetäre Werte für eine unsichere Zukunft, andererseits werden den Dingen Werte zugeordnet, die im Feld des Privaten und Persönlichen liegen.
„This value was not necessarily monetary; it could well be historical (relating to family or national history), contextual (relating to other objects) or personal and sentimental (relating to the self an personal identity). This collection of material culture gives us a basis from which to assess what was important to the Kaiser.”[2]     

© Huis Doorn

Die materielle Kultur Wilhelm II. wurde von Historikern als Quelle bislang wenig erforscht. Historiker und Biografen stützen sich eher auf Texte und Schriftstücke, um dem letzten deutschen Kaiser und seinen Denkweisen näher zu kommen. Doch Wilhelm II. inszenierte sich mit seinen Nordlandreisen wie mit dem Bau der Matrosenstation Kongnæs im Drachenstil am Jungfernsee oder dem Ankauf von Gemälden Adelsteen Normanns über Dinge, Paradeuniformen wie seiner der Gardes du Corps mit funkelndem Adlerhelm und Bauten, deren persönlicher Wert für ihn unverkennbar war.[3] Er stieß damit Moden an. Das Cover des Forschungsbandes aus Huis Doorn zeigt die aktuelle Ansicht von einer Tafel mit Gläsern, Karaffen und anderem Geschirr für ein festliches Essen. Zentral ist ein Tafelaufsatz aus Silber platziert.[4] Die antike Figur des Atlas, der das Himmelsgewölbe trägt.

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Die Männerfigur des Atlas erlebte um 1900 eine prominente Wiederkehr im öffentlichen Leben.[5] Bei der Eröffnung des Hamburger Hauptbahnhofs am 6. Dezember 1906 zierte eine 2,8 Meter hohe und 270 Kilogramm schwere Atlas-Skulptur sein Dach am Glockengießerwall.[6] Kaiser Wilhelm II. erhielt die Atlas-Figur 1895 als Geschenk von Oscar II., König vom Norwegen und Schweden. 1933 fertigte J. Gutschmidt das Foto halbgedeckter Tisch mit dem Tafelaufsatz in Huis Doorn an.[7] Während die Darstellungen des mythologischen Atlas‘ als unter der Last knienden Träger des Himmelsgewölbes sich vor allem am römischen Farnese Atlas aus dem 2. Jahrhundert orientieren, fand der Stockholmer Goldschmied C. G. Hallberg eine neuartige Lösung. Atlas trägt nunmehr aufrecht schreitend eine Silberkugel auf seiner Schulter, in der sich nicht nur die Tafel, vielmehr die Tafelgesellschaft spiegelte. Erde und Himmelsgewölbe überschneiden einander in der Silberkugel und bieten der Tischgesellschaft um Kaiser Wilhelm II. ein narzisstisches Spiegelbild. Auf der Kugel wurde eine weitere kleine Figur platziert, die in einer dynamisch laufenden Bewegung in ein langes Horn bläst.

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Die Transformation des unter der Last leidenden Titanen-Sohns Atlas in eine dynamische Figur verwandelt den antiken Mythos am Ende des 19. Jahrhunderts in ein Eroberungsprogramm mit Spiegeleffekt. Die Himmelskugel wird zum Globus mit dem Anspruch diesen aus der Perspektive der Kolonialmächte zu beherrschen. Obwohl Schweden kein Hauptakteur des Kolonialismus war, besaß es mit der Schwedischen Ostindien-Kompanie ab dem 17. Jahrhundert einzelne Kolonien und beteiligte sich am Sklavenhandel. Hallberg hatte bei seiner Transformation des Atlas, insofern einen kolonialpolitischen Hintergrund in Stockholm. Britta Schilling übersieht in ihrer Deutung die Spiegelfunktion der neuartigen Atlas-Figur:
„Though a copy of a globe from 1620, it also embodies a particular worldview of the late nineteenth century, a worldview that the Kaiser himself helped to construct. It was a view in which Germany, long reluctant to support colonial endeavours, was shouldering its colonial ‘burden’ and becoming a strong player on the world stage.”[8]

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Obwohl Wilhelm II. im Volksmund den Namen „Reisekaiser“[9] verliehen bekam, weil er zwischen den Fjorden Norwegens und Jerusalem, Kiel und Korfu, Wiesbaden und Berlin etc. ständig reiste, besuchte er weder die Kolonien in Afrika noch China. Stattdessen sah er sich am 20. Juni 1908 die Menschenschau mit Afrikanern und Menschen aus Siam in Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg Stellingen an.[10] In domestiziert-theatraler Weise als koloniales Unternehmen des Hamburger Tierhändlers und Zoounternehmers Hagenbeck war der koloniale Blick des Kaisers auf die Menschen von anderen Kontinenten abgesichert. Doch China nahm für Wilhelm II. eine fixe Funktion in seiner Weltsicht ein. Angst, Neid und Überheblichkeit generieren seinen Blick auf China, der darin gipfelte, dass Prinz Chun als Abgesandter des Kaisers von China am 4. September 1901 im Grottensaal des Neuen Palais zum Kotau gezwungen wurde.[11] Wilhelm II. ging es mit der Inszenierung der Demütigung in seiner Paradeuniform der Gardes du Corps auf einem Thron sitzend um eine stark persönlich geprägte Revanche. 

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Der Kotau im Grottensaal des Neuen Palais‘ erhält nicht zuletzt dadurch seinen persönlichen, um nicht zu sagen, psychologischen Kontext, weil Wilhelm II. die persönlichen Gastgeschenke des Kaisers Guangxu 光绪帝 von Prinz Chun nicht entgegennahm. Prinz Chun und seine Begleiter wurden nach dem Kotau als Staatsgäste in der Berliner Gesellschaft herumgereicht. Die Nichtannahme der Gastgeschenke wie der halboffizielle Ort des Grottensaals im Neuen Palais geben einen Wink auf die für Wilhelm II. charakteristische Verquickung von privatem Ressentiment und politischem Handeln. Prinz Chun und sein Hofstaat werden nicht anders als die Menschen in den Völkerschauen behandelt und wahrgenommen. Als Vorgeschichte zum Kotau hatte Wilhelm II. 1895 persönlich eine Federzeichnung angefertigt, die vom Historienmaler Hermann Knackfuß umgearbeitet wurde, und am 26. September 1895 seinem Verwandten Zar Nikolaus hatte schicken lassen.[12] Japan hatte China im japanisch-chinesischen Krieg von August 1894 bis April 1895 besiegt.

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Die persönliche Zeichnung Wilhelm II., die sich heute im Huis Doorn befindet, entwirft ein ebenso persönliches wie machtpolitisches Angstszenario von der kolonial formulierten und mit der Farbe Gelb rassistisch geprägten „Gelben Gefahr“. Im Hintergrund scheint das christliche Kreuz auf, vor dem sieben weibliche Gestalten mit Speeren und geflügelten Helmen an einer Felskante stehen. Die germanisch ausstaffierten Frauen mit langen Kleidern werden von schwarzen Vogelgestalten umschwirrt, die an Goyas Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer erinnern können.[13] Die Hauptfigur mit Schild, auf dem ein Kreuz prangt, hat ihren linken Arm in Richtung einer Landschaft mit Rauchwolken ausgestreckt. Das Symbol des Christentums wird mit der germanischen-deutschen Mythologie nach Richard Wagners Ring des Nibelungen (1876) und/oder dem mittelalterlichen im 19. Jahrhundert rezipierten Nibelungenlied kombiniert. Es könnte sich um Walküren und die Göttin der Nation, Germania, wie sie zu jener Zeit in vielen deutschen Städten als Göttin aufgestellt wurde, handeln.

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Das vom Hobbyzeichner Wilhelm gezeichnete Germaniabild, ein Bild des deutschen Reiches, das später unter dem Titel „Völker Europas, wahrt eure heiligsten Güter!“ mit propagandistischer Geste bekannt werden sollte, indem Knackfuß nationale Frauenfiguren vor dem Erzengel Michael anordnete und einen Buddha deutlich in den Rauchwolken erscheinen ließ, ist weitaus diffuser. Beide Bildversionen befinden sich heute im Haus Doorn, wohin sie als persönlicher Besitz gelangten. Bei Wilhelm bezieht sich die Angst vor einer Bedrohung aus dem Osten stärker auf ein christliches Deutsches Reich. Bei Knackfuß wird die imaginäre Bedrohung zu einer der Herrschaft Europas über die Welt. Die nahezu surreale Bildfindung mit ihren Unschärfen bei Wilhelm II. erinnert an einen Albtraum mehr denn an ein durchdachtes Propagandabild. Die christliche Symbolik passt 1895 zu des Kaisers Bemühungen, sich als Schutzherr des Protestantismus in der Welt zu inszenieren. 1898 wird er die evangelische Erlöserkirche in Jerusalem für die evangelische Mission unter anderem von arabisch-palästinensischen Waisen einweihen. Seit 1894 wird gegenüber dem Berliner Schloss der neue Dom mit stilistischen Verweisen auf den Petersdom in Rom gebaut.

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Das Angstszenario der Gelben Gefahr, die nach der Zeichnung unmittelbar an den Grenzen der christlich-germanischen Welt, steht, inszeniert sowohl den protestantischen Machtanspruch der preußischen Könige und deutschen Kaiser seit 1824 als die Berliner Mission für Jerusalem gegründet wurde[14], wie eine persönliche Angst vor dem Unbekannten. Die Beherrschungs- und Ausbeutungsphantasien, die nicht nur zum Kotau, vielmehr noch zu einer Sammelleidenschaft der Kunstschätze des von deutschen Soldaten geplünderten Kaiserpalastes, der Verbotenen Stadt, aus Peking führen, nehmen groteske Züge an. Die Serie von kunstvollen Lackbildern historischer Schlachten aus der Qing Dynastie oder der kaiserliche Thron mit Armlehnen und Schubladen ebenfalls aus der Qing Dynastie wandelt Wilhelm II. nicht nur in seinen persönlichen Besitz um und nimmt sie mit ins Exil, vielmehr wird der kaiserliche Thron zum privaten Möbel für (vielleicht) Socken.

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Durch den Kaiser und seine „Hunnenrede“ mit dem Strafbataillon ausgesandten Major Sigismund von Foerster[15] gelangte Thron mit kaiserlichen Drachen in Gold 1901 nach Berlin. Er wurde jenseits des Museums, wo er heute im Ethnologischen Museum steht, von Wilhelm II. genutzt. Annelore de Kruif sieht in dem Ankauf und der Nutzung der Lackarbeiten nicht nur eine Kunst- und paradoxerweise China-Leidenschaft des Kaisers, vielmehr diente ihm chinesische Kunst als Aneignung und Darstellung von persönlicher Macht:
„The lacquerware work certainly have suited Wilhelm II’s tastes. Given the Kaiser’s desire to bring the Chinese to their knees, he may have relished the idea of displaying war booty, a symbol of victory. (…) Or perhaps, in displaying these panels, he was displaying an affinity from one emperor to another, thus confirming his own position as head of state.”[16]

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Abgesehen von den persönlichen Verwicklungen in den Kolonialismus als Weltsicht wird der Kaiser als Staatsoberhaupt zum Adressaten von Verbänden, Schaustellern wie Carl Hagenbeck, seiner Kolonialsoldaten, von Handeltreibenden wie den Kaufleuten und Reedern der Hansestadt Hamburg und Reisenden wie Otto Ehlers. Otto Ehrenfried Ehlers starb bereits am 3. Oktober 1895 in Kaiser-Wilhelm-Land, wie die deutsche Kolonie auf Neuguinea hieß. Vermutlich 1893, als er nach längerer Reise durch Länder Südostasiens nach Deutschland zurückkehrte, traf er Wilhelm II. in Berlin und schenkte ihm einen kunsthandwerklich aufbereiteten Elefantenfuß aus dem Königreich Siam. Der Elefantenfuß wurde im Sternsaal als Vorzimmer und Ausstellungsraum im Berliner Schloss aufgestellt. Im Huis Doorn konnte der Elefantenfuß im Lager mit der Notiz „Vom reisenden Herrn Otto Ehlers erlegt in Siam“ gefunden werden. Erst 1927 wurden Reisebilder aus Siam von Otto Ehlers in Voigtländers Volksbücher veröffentlicht. Den Aufenthalt in Deutschland bzw. Berlin hatte Ehlers offenbar dazu genutzt, seine Bücher An indischen Fürstenhöfen und Im Sattel durch Indo-China, beide 1894, im „Allgemeinen Verein für Deutsche Litteratur“ zu veröffentlichen.

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Das prominente Geschenk Otto Ehlers‘ wird keinesfalls zufällig dem Kaiser überreicht, vielmehr werden Kaiser und Kaiserreich zu Adressaten des Reisenden und seiner deutschen, kolonialen Reiseliteratur. Der in Hamburg 1855 geborene Sohn eines Architekten wird nach seiner Einleitung von An indischen Fürstenhöfen zum Reisenden, weil er von seinem Jugendfreund Gustav Ehlers, dem General-Konsul des Deutschen Reichs in Sansibar, eingeladen wird.[17] Schon auf den ersten Seiten entfaltet sich für Otto Ehlers ein Netzwerk aus Konsuln, „Deutsch-Ostafrikanischer Gesellschaft“ und „Missionsstation“ etc. Geschenke werden sogleich an den Kaiser adressiert. Der Kaiser wird für Ehlers nicht nur Adressat von Geschenken, vielmehr noch der kolonialen Reisen selbst, bei denen „die deutsche Flagge“ an verschiedenen Plätzen gehisst wird.
„Nahezu sieben Monate ich hier (am Kilimanscharo, T.F.) hier in den verschiedenen Dshaggastaaten, deren mächtige Fürsten, Mandara, ich veranlaßte, mir eine Gesandschaft mit Geschenken für Sr. Majestät den deutschen Kaiser anzuvertrauen. Die Leute wurden in Berlin huldvollst empfangen und reich beschenkt in ihre Heimat entlassen, während ich im Auftrage Sr. Majestät einige Wochen später nach Ostafrika zurückkehrte, um Mandara die kaiserlichen Gegengeschenke zu überbringen und an verschiedenen Plätzen, die deutsche Flagge zu hissen.“[18]

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Der Elefantenfuß aus Siam lässt sich nach der Reiseliteratur Otto Ehlers‘ und seinen erholten Treffen mit Kaiser Wilhelm II. in Berlin exakt in den deutschen Kolonialismus in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania einordnen. Indem „Geschenke“ und „Gegengeschenke“ ausgetauscht werden, geht es im Reisebericht vor allem darum, mit der deutschen Flagge „Plätze()“ zu kolonisieren. Siam, heute Thailand, war zwar keine deutsche Kolonie und das multiethnische Indien Teil des kolonialen Britischen Weltreiches, aber der Elefantenfuß wird für den Kaiser zu einem bedeutungsvollen, persönlichen Objekt, mit dem mehr koloniales Denken verknüpft ist, als es auf den ersten Blick scheint. Die Bücher, die Ehlers zu seinen Lebzeiten veröffentlichen konnte, wären noch einmal genauer auf ihre kolonialen Narrative hin zu lesen. Der Allgemeine Vereine für Deutsche Litteratur war eine Buchgesellschaft, die zugleich als Verlag operierte und 1873 unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs in der Berliner Kronenstraße u.a. von Prinz Georg von Preußen gegründet worden war. 1894 gehörte die Kronenstraße zum Berliner Zeitungsviertel, in dem auch Zeitungen der deutschen Kolonien und deutschen Niederlassungen in der Welt verlegt wurden.

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Britta Schilling fragt in dem reich illustrierten Forschungsband, wieweit der Kaiser für die extreme Gewalt in Peking und den Genozid Südwest-Afrika verantwortlich war.[19] Wie bereits an dem Reisenden und Schriftsteller Otto Ehlers deutlich wird, geht es um ein mehr oder weniger klandestines, gewiss aber, elitäres Netzwerk von Deutschen im Ausland und Berlin, die sich „Sr. Majestät“ verpflichtet fühlen und durch die Zirkulation von Geschenken ein persönlich verpflichtendes Verhältnis zum Kaiser aufbauen. Die Annahme oder wie bei Prinz Chun Nichtannahme von Geschenken spielt für Wilhelm II. eine bisweilen subtile, aber entscheidende Rolle. Im Kontext der militärischen Aktionen in China – „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“ 27. Juli 1900 – in Südwest-Afrika hat der sich oft in Uniform präsentierende Kaiser die Funktionen des obersten Befehlshabers und der moralischen Legitimation.
„We need to consider the nature of relationships between Wilhelm II as supreme military commander and other state and military functionaries, many of whom had their own agendas within the colonial system. And we need to understand the wider political and cultural context in which all of these agents were working, the elements that made up their colonial worldview.”[20]

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Die Dinge – von der Lackarbeit aus der Qing Dynastie über den Tisch aus dem Zimmer 669 im Berliner Schloss bis zum Elefantenfuß aus dem Sternsaal – wurden mit Etiketten und Listen weitgehend inventarisiert. Heute helfen die Etiketten dabei, die Dinge im Huis Doorn zu kontextualisieren und auf ihre koloniale Aufladung hin zu befragen. Kolonialismus ist dabei nicht nur eine Frage der Ausbeutung, vielmehr lässt sich die Zirkulation von Geschenken als eine wichtige Praxis identifizieren. Wie beispielsweise die Replik der Nofretete im Haus Doorn in den persönlichen Besitz gelangte, entzieht sich bislang der Kenntnis des Berichterstatters. Doch von Wilhelm II. und seinem Umfeld wird sie zusammen mit Familienfotos und Feuerzeugen mit Diamanten aus der einzigen deutschen Diamantenmine etc. als Einblick ins Private arrangiert.

Torsten Flüh

ORTS-Termin
Diskurs im Humboldt Forum   

Britta Schilling, Cornelis van der Bas:
The Kaiser’s Colonial Worldview
Doorn: Aspekt, 2024.
108 Seiten
€ 14,95


[1] Britta Schilling: Ghosts of the Past. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The Kaiser’s Colonial Worldview. Doorn: Aspekt, 2024, S. 11.

[2] Ebenda.

[3] Zu Adelsteen Normann und Kongnæs siehe: Torsten Flüh: Verstörend statt bezaubernd. Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie. In NIGHT OUT @ BERLIN 18. November 2023.

[4] Siehe: Huis Doorn: Webshop: The Kaiser’s Colonial Worldview.

[5] Siehe auch den Atlas im Bilderatlas Mnemosyne Aby Warburgs: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[6] Siehe Deutsche Bahn: Die Rückkehr der Atlas-Skulptur. (Pressemitteilung 2023)

[7] Britta Schilling: Colonies, Empires and the German Colonial Imagination. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Ebenda.

[9] Britta Schilling: Ghosts … [wie Anm. 1] S. 8.

[10] Annewil Nieuwenhuizen: Völkerschauen. In: Ebenda S. 24 und 25.

[11] Siehe: Stiftung Preussische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg: Neues Palais / 1901. Kotau vor dem deutschen Kaiser. Der Grottensaal als Ort einer inszenierten Demütigung. In: Schauplätze der Geschichte.

[12] Siehe: Monique Anker: Die Gelbe Gefahr. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 32-35.

[13] Siehe zu Goya: Torsten Flüh: Schlaf und Verstand als politisches Problem. Zu Hartmut Böhmes Mosse-Lecture zum Semesterthema Sleep Modes – Über Wachen und Schlafen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Januar 2024.

[14] Zur Berliner Missionsbewegung siehe: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Februar 2024.

[15] Siehe Deutsche Digitale Bibliothek: Porträt des Majors Sigismund von Förster.

[16] Annelore de Kruif: From the Chinese emperor tot he German Kaiser: Chinese Lacquer Panels. In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 40.

[17] Otto E. Ehlers: An indischen Fürstenhöfen. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894, S. 3. (Digitalisat)

[18] Ebenda S. 3-4.

[19] Britta Schilling: Working towards the Kaiser? In: Britta Schilling, Cornelis van der Bas: The … [wie Anm. 1] S. 54.

[20] Ebenda S. 56.

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