Realismus – Ratten – Rhetorik
Ratten auf dem Dachboden und in der Wissenschaft
Zu Bridge Marklands ratten in the box von Gerhart Hauptmann mit Handpuppen in der brotfabrik
Die Aufführung von ratten in the box findet am 15. Februar auf dem Dachboden in der brotfabrik am Caligariplatz statt. Das passt. Denn Schauplatz der „Berliner Tragikomödie“ Die Ratten von Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1911 ist das „Dachgeschoß einer ehemaligen Kavalleriekaserne zu Berlin“, das als „Theaterfundus“ des „Ex-Theaterdirektor(s) Harro Hassenreuter“ genutzt wird.[1] Bereits das Deutsche Wörterbuch kennt den Gebrauch des Begriffs dach vor allem „(i)n niedriger sprache für kopf, hirnschädel“ und Friedrich Schiller dichtete „das mädel ist schön, schlank, führt seinen netten fusz. unterm dach mags aussehen wies will“.[2] Ferner kommt um 1900 das Wort Dachschaden nicht nur für ein kaputtes Dach, vielmehr noch für „ist nicht ganz richtig im Kopf“ in scherzhaften Gebrauch.[3] Dabei ist auffällig, dass der „Dachschaden“ um 1900 mit der fortgeschrittenen Herausbildung der Neurowissenschaften einsetzt und nicht etwa als Schaden eines Hausdaches vorher aufkommt.
Bridge Markland hat mit Nils Foerster Gerhart Hauptmanns Theaterstück, das mit dem Theaterdirektor nicht zuletzt selbst vom Theater und seinen Konzepten handelt, den Titel wörtlich genommen. Denn schon im Schaukasten wird mit einem Zettel in Alarmorange und einem Ratten-Piktogramm gewarnt: „Achtung Ratten!“ Ratten galten und gelten zugleich als ebenso possierliche wie provozierende Haustiere z. B. von Punks. Überall wird in der brotfabrik vor der Tür zur Bühne auf dem Dachboden vor „Ratten“ gewarnt. Warum nannte Gerhart Hauptmann sein schon 1911 hoch erfolgreiches Stück Die Ratten? Wen oder was sollen die um 1900 keinesfalls als possierlich empfundenen Ratten bezeichnen? Ratten werden zwar als Schädlinge im Stück erwähnt, doch dafür müssten sie nicht gleich den Titel geben. Oder empfand die sogenannte Bessere Gesellschaft die verarmten und ungebildeten Menschen in der „ehemaligen Kavalleriekaserne“ am Alexanderplatz als Ratten? Auf der Dachbodenbühne sind mehrere Ratten als Puppen angebracht.
Bridge Markland und Nils Foerster haben für ihre One-woman-und-viele-Handpuppen-Inszenierung regelrechte Rattenstudien am Alexanderplatz betrieben. Es gibt unter dem Fernsehturm fast so viele Ratten wie Menschen, die allerdings weniger sichtbar sind. Rattus rattus, die gemeine Hausratte, flieht den Menschen nicht, vielmehr sucht sie dessen Nähe, weil sie selten sichtbar von seinen Vorräten und Abfällen lebt. Hat Gerhart Hauptmann mit dem Stück gar eine Rattenkomödie geschrieben, so wie Heinrich von Kleist seine Penthesilea eine „Hundekomödie“ auf einem „Komödienzettel“ nannte?[4] Hat er sich mit dem Titel gleich der Metalepsis als rhetorische Praxis einen schlechten Witz erlaubt?[5] – Wir wissen es nicht. Aber die Frage betrifft den „Theaterrealismus“ wie es Hermann Korte nennt, wenn er in seiner Einführung zu Deutsche Literatur, 20. Jahrhundert auf Die Ratten zu sprechen kommt.
„Das Erfolgsstück spielt auf dem Dachboden eines Berliner Mietshauses und skizziert mit sprachlicher Prägnanz ein kleinbürgerlich-proletarisches Milieu. Indem er einen Nebenhandlungsstrang einbezieht – Theaterdirektor Hassenreuther unterrichtet einen Schauspielschüler und räsonniert über das Pathos verstaubter Klassiker – ironisierte Hauptmann tradierte, vom Illusionstheater bestimmte Aufführungsstile und legitimierte den eigenen, auf die soziale Wirklichkeit rekurrierenden Theaterrealismus. Das moderne Theater wurde zu einem Ort der Gesellschaftskritik und die Bühne zum unverklärten Bild einer tristen sozialen Realität.“[6]
Pop, Rock und Punk etc. kommen in Bridge Marklands und Nils Foersters Version der „Berliner Tragikomödie“ wieder als Montage, die den Dramentext verstärken, pointieren, aktualisieren und queeren, zur Anwendung. Plötzlich springt ein anderer Sinn aus der Montage, wenn etwa Direktor Hassenreuter im Dritten Akt zu seiner Tochter Walburga energisch sagt: „Du bist kein Mann.“ Und diese daraufhin mit „Wenn ich ein Junge wär. Das wäre wunderschööön…“ von Rita Pavone aus dem Jahr 1963 antwortet. Das vermeintliche Kinderlied, das Rita Pavone mit 18 Jahren sang, wird plötzlich queer als imaginierter Geschlechtswechsel. Im Playback singt Bridge Markland dann mit blonder Lockenperücke als Walburga die väterliche Ermahnung in Grund und Boden. Bereits Hauptmann hat Die Ratten im Übergang zum 20. Jahrhundert aus verschiedenen Genres montiert, wie Korte dargestellt hat.
„Das Stück vermischt Elemente der Groteske, des Trauerspiels und des Komödiantischen und experimentiert mit neuartigen Formen der Simultanbühne. Allerdings beließ Hauptmann die dramaturgische Grundstruktur weitgehend im tradierten Rahmen, arbeitete also mit Akt- und Szenen-Einteilungen und konzipierte die Handlung aus einer Abfolge von Dialogen, die auf einen pointierten Schlusspunkt – den Selbstmord der Heldin – zuläuft.“[7]
Wieviel „soziale Realität“ und Realismus stecken in der „Berliner Tragikomödie“? Elisabeth Strowick und Ulrike Vedder haben in Wirklichkeit und Wahrnehmung Neue Perspektiven zu Theodor Storm eine methodologische Diskussion zu „aktuelle(n) Ansätze(n) zur Realismus-Forschung, welche die realistische Literatur in epistemischen Formationen der Moderne situieren“, angestoßen.[8] Daran anknüpfend lässt sich die Frage formulieren, wie Gerhart Hauptmann sein Versprechen einer „Berliner Tragikomödie“ generiert. Mit dem Dachboden als Schauplatz des eröffnenden und die Handlung situierenden Ersten Aktes, gibt Hauptmann einen Wink auf mehr als den Ort in Berlin – Alexanderstraße 10/Ecke Voltairestraße – und den historischen Fall „von Kinderunterschiebung“ im Jahr 1907. Denn Ratten sind nicht erst seit Wilhelm Buschs humoristischer Dichtung Die kluge Ratte von 1868 im Münchner Bilderbogen literarisch ver- und bearbeitet worden.[9] Vielmehr noch machen Ratten um 1900 eine Karriere als Labortiere zum Beispiel für die Krebsforschung.[10]
Um 1910 findet insbesondere in der medizinischen Forschung eine Umwertung der Ratten statt. Sie werden als empirische Referenz für das Wissen vom Zellwachstum, insbesondere Tumoren aufgewertet und im Dienst der Wissenschaft vom Menschen verbraucht. In der Berliner Klinischen Wochenschrift erscheinen 1910 zwei „Sonderdrucke“ zur Tumorfoschung mit Ratten von Florentin Medigreceanu, der am Imperial Cancer Research Fund London forschte.[11] Bemerkenswert sind die beiden „Sonderdrucke“ insofern, als das „Organ für praktische Ärzte. Mit Berücksichtigung der Medizinalverwaltung und Medizinalgesetzgebung“ nach oberflächlicher Sichtung ansonsten keine derartige Grundlagenforschung mit Ratten veröffentlichte. In seinem zweiten Aufsatz beschreibt Medigreceanu das Verhältnis von Tumorwachstum geimpfter Ratten und Gewichtzu- oder -abnahme durch Fütterung, ohne zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. „Ob nun der Tumor sich direkt aus den eingeführten Nährsubstanzen bildet, oder ob die Ernährungsverhältnisse zwischen Organismus und Tumor kompliziertere sind, wäre es beim jetzigen Stand des Tatsachenmaterials verfrüht, entscheidend zu diskutieren.“[12] Dennoch machen beide Aufsätze den Einsatz von Ratten in der Krebsforschung zur Ausbildung des Wissens seit geraumer Zeit und zeit-räumlicher Nähe zur „Berliner Tragikomödie“ lesbar. Auch am Paul-Ehrlich-Institut für Immunitätsforschung in Berlin wird nach Medigreceanu mit Ratten experimentiert.[13]
Erst Mitte des 18. Jahrhunderts hatte eine Systematisierung der Ratte in der Zoologie durch Carl von Linné in seinem Systema Naturae (1758) unter den „Mammalia glires mus“ als „Rattus“[14] bzw. in der „IV. Ordnung“ der „Säugende(n) Thiere“ als „Rattenartige, oder nagende Thire. Glires.“ stattgefunden.[15] Entscheidend für die morphologische Ordnung ist das Gebiss, wenn es heißt: „Die Vorderzähne. Oben und unten zwey Schneidezähne. (…) Die Backenzähne sind gar nicht vorhanden. Die Füsse sind mit Klauen besetzt. Der Gang ist springend. Die Lebensart bestehet im Abnagen der Rinden und Früchte.“[16] 1804 findet mit Gotthelf Fischer von Waldheim eine weitere morphologische Ausdifferenzierung zu Rattus Rattus statt.[17] Bereits die Systematisierung der Ratte zu „nagende(n) Thiere(n)“ hatte das Wissen von der Ratte verschoben. Denn noch 1682 hatte Johannes Riemer unter dem Pseudonym „Lorindo“ an der Schnittstelle von politischer und unterhaltenden Literatur Der Politische Ratten und Mäuse Fänger „Maenniglich zu Verkürzung der Melancholischen Stunden und zu Nutz auch Besserung aller Aufschneider, Großthuer, Lügner, Land und Leut betrüger und anders dessen Gesellschaftern durch die Feder vorgestellt“ veröffentlicht.[18]
Die Ratten kursieren insofern schon vor ihrer zoologischen Systematisierung auf vielfache Weise in der Literatur. Johannes Riemer verknüpft die früh mittelalterliche Sage des Rattenfängers von Hameln mit einem politischen Traktat gleichnishaft und adressiert es gegen solche „Personen“, die „manchmal unvermercket etwas darinnen () finden/ dadurch sie sich selbst verfärben/ und schämen/ weil sie die application müssen auf sich machen/ und können alsdenn ihre Gemüther ohne alle Mühe und leichter gewonnen werden/ als ob man mit Knütteln unter sie würffe“.[19] Anders gesagt: Rattenfänger wären jene politischen Akteure, die die Ratten in betrügerischer Absicht auszurotten versprechen. Zwischen dem Wunsch nach „Ausrottung von Ratten“[20] und ihrer Nutzung als Labortiere in der medizinischen Forschung pendelt die Wahrnehmung der bisweilen unaussprechlichen und dann nur als „Nager“ umschriebenen Tiere hin- und her. Bei Wilhelm Busch wird Die kluge Ratte 1868 auf ebenso humoristische wie kritische Weise zum Träger einer praktischen Intelligenz.
„Die kluge Ratte
Es war einmal eine alte graue Ratte,
Die, wie man sieht, ein Faß gefunden hatte.
Darauf, so schaut die Ratte hin und her,
Was in dem Fasse drin zu finden wär‘.
Schau, schau! Ein süßer Honig ist darein,
Doch leider ist das Spundloch viel zu klein.
Indes die Ratten sind nicht gar so dumm,
Sieh nur, die alte Ratte dreht sich um.
Sie taucht den langen Schwanz hinab ins Faß
Und zieht ihn in die Höh‘ mit süßem Naß.
Nun aber ist die Ratte gar nicht faul
Und zieht den Schwanz sich selber durch das Maul.“[21]
Der Titel des Berliner Dramas aus Tragödie und Komödie, „Groteske und Trauerspiel“, Die Ratten, lässt sich als durch Literaturen zwischen Wissenschaft und Witz hoch kontaminiert beschreiben. Wenn das schwangere Dienstmädchen Pauline Piperkarcka in der Eröffnungssequenz des ersten Aktes androht, sich „Vitriol“ zu kaufen, um dem Vater ihres Kindes die „janze verfluchte hübsche Visage kaput (zu brennen)“[22], kommt ein „Mittel“ zur Sprache, das schon 1800 in einem Ratgeber zur Schädlingsbekämpfung wie „Ratten“ eines namenlosen Verfassers aus dem Englischen ins Deutsche übertragen wird. „Als ein Liebhaber der Chemie“ sei der Verfasser „seit einem Jahr (…) mit Umarbeitung des Vitriols insonderheit beschäftigt gewesen“.[23] Dabei erweist sich die Bezeichnung „Vitriol“ als ebenso unpräzise wie dehnbar. Pauline imaginiert „Vitriol“ als eine Säure, mit der sie sich für den Betrug ihres untreuen Liebhabers rächen will. Doch in der Chemie gilt Vitriol als „veraltete Bezeichnung“ für z. B. „Salze der Schwefelsäure“.[24] Der Wunsch der Auslöschung des Geliebten durch ein Säureattentat auf sein Gesicht bringt unterdessen ein vages psychoanalytisches Wissen ins Spiel. Das Bild, das Pauline sich von ihrem Geliebten als Objekt des Begehrens gemacht hat, soll ausgelöscht werden, damit sich auch niemand anderes mehr in ihn verlieben kann.
Bridge Markland und Nils Foerster verschieben unterdessen den Theaterrealismus Gerhart Hauptmanns, der sich mit dem Titel aus sehr viel mehr als „realistischen“ Ratten auf dem Dachboden einer Armenunterkunft um 1900 in Berlin speist. Das Wissen von den Ratten, das mit dem Titel versprochen wird, gibt immer schon einen Wink auf ein vielfältiges und mehrdeutiges durch die literarischen Bezugsmöglichkeiten. Mit den Handpuppen (Puppen und Kostüme: Larissa Jenne und Eva Garland) und vor allem mit der Popmusik spielt Bridge Markland auf ein noch ganz anderes Wissen an, das der Musikgeschichte. Sie setzt nicht zuletzt ein profundes, genreübergreifendes Musikwissen aus ca. 145 Musikstücken ein von Peter Alexander Ich will dir helfen von 1971 über Nina Hagens legendärer Naturträne von 1978 und Rio Reisers Bye bye Junimond von 1986 bis Schrei von Tokio Hotel aus dem Jahr 2005. Die Musikzitate erzeugen auf vielfältige Weise einen anderen Realismus als Soundtrack. Dabei sind die Textassoziationen ebenso artifiziell wie expressiv, wenn Pauline in ihrer Not und Wut in Metal-Manier „Du bist schuld, du bist schuld an allem…“ der Rockband Knorkator von 2011 mehr grölt als singt.
Die Handpuppen sind fast fragmentarisch für dieses Stück. Sie sind mehr angedeutet als gänzlich ausgebildet, wie beispielsweise Frau Johns grobschlächtiger Bruder Bruno oder der Mauerpolier John, der nur einen Arm hat und kopfüber neben den anderen Puppen hängt. Doch auch Pauline und Frau John mit ihren blauen Kopftüchern sind kaum ausgearbeitet. Frau John wird vielmehr mit ausgeprägten Brüsten ebenso unvollständig wie reduziert angelegt. Denn Frau John hat zwar einen Kinderwunsch, kann aber keine Kinder mehr bekommen. Ihr fehlt der Unterleib im Unterschied zu Pauline. Erich Spitta als Hauslehrer und Liebhaber von Walburga zeichnet sich durch eine fast rattenartig spitze Physiognomie aus. Durch die Physiognomie der Puppen verschwimmt die Grenze zwischen Menschen und Ratten. Das Grammatisch-Kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart von Adelung, das 1793 zum ersten Mal erscheint, kennt die Ratte noch als kaum ausdifferenzierte „Ratz“ und „Nahme, welcher in den gemeinen Sprecharten verschiedenen Nagethieren beygeleget wird“.[25] „Die Ratte“ wird in der Ausgabe als „Nahme, welchen an einigen Orten derjenige Fisch führet, welcher unter dem Nahmen des Rochen am bekanntesten ist“, gebraucht.
Ratten werden nicht zuletzt mit Sexualität und einer hohen Fertilität in Verbindung gebracht. Dieser Bereich des Wissens von Ratten bildet sich besonders nach 1900 aus. Das ist insofern für Hauptmanns Ratten interessant, als es mit der „Kinderunterschiebung“ durch Pauline um eine außer-, mit Walburga eine voreheliche Schwangerschaft sowie den Kinderwunsch der Frau John geht. Über die „Wanderratte (Mus decumanus)“ heißt es in der Ausgabe von Meyers Großem Konversationslexikon 1907: „Wo sie einrückt, verschwinden alsbald die Hausratten, denn sie werden unbarmherzig von ihr niedergemacht. Die R. leben gern gesellig, kriechen oft in einem gemeinsamen Nest zusammen, fressen aber eine krepierte Genossin sofort auf. Jung gefangene R. werden sehr zahm. Das Weibchen wirft jährlich zwei- bis dreimal etwa einen Monat nach der Begattung 5-21 nackte Junge, die sie liebevoll pflegt.“[26] Die Laborratte gehört noch nicht zum „allgemeinen Wissen“ des „Nachschlagewerks“. In der Beschreibung der Geselligkeit der Ratten – „kriechen oft in einem gemeinsamen Nest zusammen“ – wird unverhohlen auf das Sexualverhalten angespielt, das sogleich moralisch abwertend mit einer kannibalischen Szene konterkariert wird. Die Ratte hat eine tendenzielle Anthropomorphisierung durch die Übertragung der humanen Sexual- wie Sozialwissenschaft erfahren.
Es ist John, der sprachlich vage die Übertragung des Wissens von Mensch und Ratte formuliert. Die auf Verwechslung angelegte Formulierung bringt wiederum den Dachboden als „Oberboden“ ins Spiel, wenn er dem Standesbeamten sagt: „Na denn, sach ick, mag et meinswegen uf’n Oberboden bei de Ratten und Mäuse jewesen sind! So kreppte ick mir, weil er doch sachte, det et womeglich jar nich sollte in meine eijene Wohnung sind jewesen. Denn schrie er: wat sind det for Redensarten!“ (Zweiter Akt, 1. Szene) Der gefälschte Ort der Geburt, der Niederkunft und Herkunft wird gleichzeitig zu einem der Vermischung von Menschen und Ratten. Der Standesbeamte springt als Person des Staates sogleich auf diese Vermischung an, in dem er als Ausdruck der Machtlosigkeit zu schreien beginnt. Bridge Markland kürzt die Szene nach „jewesen sind“ und legt die Titelmusik der Lindenstraße drunter. Der Ort der Geburt, der Ursprungsort, wird zu einem des vermischten Wissens von Menschen und Ratten. Dabei spielt das musikalische Thema der Lindenstraße auf eine überschaubare Heimat als Ursprungsort an.
Die besondere Faszination von Bridge Marklands und Nils Foersters Inszenierung liegt in der Audiovisualisierung der epistemischen Überschneidungen von Ratte und Mensch. Mit dem Warnzettel „Achtung Ratten!“ wird der Abend darauf angelegt, Ratten sehen zu wollen. Sie sind visuell auf der Dachbodenbühne da und werden zugleich immer überspielt. Die Wahrnehmung der Ratten als Menschen oder auch der Menschen als Ratten lässt sich nicht scharfstellen. Die Menschen als Handpuppen rutschen immer in die Nähe der Ratten. Doch gerade durch die Handpuppen diskreditieren sie nicht die Menschen als Ratten einer „sozialen Realität“. Vielmehr wird jene Ambiguität der Ratten ausgeleuchtet, die in ihrer Brutalität auch erschrecken mag. Doch schon in Gerhart Hauptmanns Dramentext bleibt offen, ob ausgerechnet die moralische Instanz des Pastors Spitta die brutalere ist oder der verzweifelte und desaströse Kinderwunsch der Frau John.
Torsten Flüh
Bridge Markland
ratten in the box
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*Bridge Markland als selbständige Künstlerin in Berlin hat durch die Beschränkung des öffentlichen Lebens wegen der Cov-19-Pandemie besonders stark unter Absagen ihrer Auftritte in Schulen und an kleineren Veranstaltungsorten zu leiden. Auch der Veranstaltungsort brotfabrik ist von den europaweiten Schließungen betroffen. Die Beantragung von Hilfsgeldern ist oft mit einem größeren Aufwand verbunden. Buchen Sie ratten in the box!
[1] Gerhart Hauptmann: Die Ratten. Berlin: S. Fischer, 1911, S. 9 (unnummeriert).
[2] Jacob und Wilhelm Grimm: Das deutsche Wörterbuch: Dach 2.
[3] Siehe insbesondere „Wortverlaufskurve“ zu Dachschaden in: Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache: Dachschaden.
[4] Siehe auch: Torsten Flüh: Eselsgeschrei, Hundekomödie und Champagner. Zur Kleist-Preis-Verleihung an Monika Rinck durch Heinrich Detering im Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 24, 2015 20:36.
[5] Zur Metalepsis bei Kleist siehe: Katrin Pahl: Sex Changes with Kleist. Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2019, S. 35-41.
[6] Hermann Korte: Kindler Kompakt: Deutsche Literatur, 20. Jahrhundert. Stuttgart: J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung, 2015, S. 18.
[7] Ebenda S. 18-19.
[8] Elisabeth Strowick, Ulrike Vedder (Hrsg.): Wirklichkeit und Wahrnehmung. Neue Perspektiven auf Theodor Storm. (Publikationen zur Zeitschrift für Gemanistik, Neue Folge, Band 27) Bern, Berlin: Peter Lang, 2013, S. 9.
[9] Wilhelm Busch: Die kluge Ratte. In: Münchner Bilderbogen. München: 1868.
[10] Rudolf Virchow hatte 1858 die Zellularpathologie als Grundlage für die Krebsforschung mit seiner Schrift Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre begründet. Als Pathologe baute er seine Forschungen zum Zellwachstum aus und legte eine Sammlung von Präparaten an, die vor allem abnormes Wachstum post mortem zu Studienzwecken sichtbar machen sollten. In einem Brief, der noch zu Beginn der 2000er im Medizinhistorischen Museum der Charité auf seinem Schreibtisch ausgelegt war, formulierte er, dass die Präparate-Sammlung sein liebstes Kind sei. Dieser Bereich wird mittlerweile als „schwierig empfunden“, wie es der Museumsdirektor Prof. Thomas Schalke zur Dauerausstellung nennt. Als Reichstagsabgeordneter nahm er vor allem an politischen Debatten zur Sozialpolitik teil. In der Berliner klein. Wochenschr. Nr. 17 erscheint 1910 der Aufsatz „Ergebnisse eines Fütterungsversuches bei Ratten, die überimpfte Tumore trugen.“ von Dr. Florentin Medigreceaunu aus Bukarest, der am Imperial Cancer Research Fund London forschte. Bereits mit der Nummer 13 hatte Medigreceanu „Ueber die Grössenverhältnisse einiger der wichtigsten Organe bei tumortragenden Mäusen und Ratten“ berichtet.
[11] Siehe Florentin Medigreceaunu: Ueber die Grössenverhältnisse einiger der wichtigsten Organe bei tumortragenden Mäusen und Ratten. In: Berliner Medizinische Wochenschrift No. 13. Berlin: August Hirschwald, 1910. (Digitalisat)
[12] Florentin Medigreceaunu: Ergebnisse eines Fütterungsversuches bei Ratten, die überimpfte Tumore trugen. In: Berliner Medizinische Wochenschrift No. 17. Berlin: August Hirschwald, 1910, S. 9. (Digitalisat)
[13] Zu Bedenken ist dabei, dass Robert Koch noch 1890 sein Impfmittel gegen die Tuberkulose sogleich an sich im Selbstversuch als auch an seinem japanischen Assistenten Shibasaburo Kitasato wie an seiner 17jährigen Geliebten Hedwig Freiberg getestet hatte. Ratten kamen also nicht zum Einsatz. Wenig später 1891 holte Robert Koch Paul Ehrlich an sein Institut für Infektionskrankheiten, aus dem das Paul-Ehrlich-Institut für Impfstoffe hervorging. Siehe ebenda S. 9.
[14] Caroli Linaei: Systema Naturae. Upsala 1858, S. 61. (Digitalisat)
[15] Carl von Linné: 1. Theil Von den säugenden Thieren. In: Des Ritters Carl von Linné … vollständiges Natursystem. Nach der 12. lateinischen Ausgabe und nach Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks … von Philipp Ludwig Statius Müller. 6 Teile in 8 Bänden + 1 Supplementband. Raspe, Nürnberg 1773–1789, S. 55. (Digitalisat)
[16] Ebenda.
[17] In Anatomie der Maki und der ihnen verwandten Thiere geht es dem Freund Alexander von Humboldts und Philosophen, Mediziners und Mitglieds mehrerer Akademien der Wissenschaften sowie Professors für Naturgeschichte in Moskau Gotthelf Fischer (von Waldheim) um eine weitere morphologische Ausdifferenzierung der Maki z. B. anhand ihres Gebisses als Säugetiere im Unterschied zu Primaten bzw. Affen. Die Anordnung der „Schneidezähne“ spielt dabei eine entscheidende Rolle. Im Rahmen dieser Ausdifferenzierung in der „Naturgeschichte“ unterscheidet. Während die Anatomie der Maki als Prachtband Alexander I. von Russland gewidmet ist, ließ sich die „Naturgeschichte“ mit Rattus Rattus nicht ermitteln. Gotthelf Fischer: Naturgeschichte der Maki überhaupt. In: Anatomie der Maki. Frankfurt am Mayn: Andräesche Buchhandlung, 1804, S. 3-13.
[18] Lorindo (Johannes Riemer): Der Politische Ratten und Mäuse Fänger. (ohne Ort) 1682.
[19] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 18).
[20] Vgl. in der Staatsbibliothek. Preußischer Kulturbesitz: Nachdem bei hoch-fuerstl. … [Verordnung betr. Ausrottung von Ratten, Mäusen, etc.]; Wilhelm Friedrich, Markgraf zu Brandenburg. Onolzbach, 3.11.1716.
[21] Wilhelm Busch: Die … [wie Anm. 9].
[22] Gerhart Hauptmann: Die … [wie Anm. 1] S. 16.
[23] Aus der Erfahrung bewährte und geprüfte Mittel, Fliegen, Wanzen, Schaben aus Kleidern und Kästen, Ratten und Mäuse, dann Flöhe, mit leichten und ganz unschuldigen Mitteln auf ein ganzes Jahr zu vertreiben: Aus dem Englischen übersetzt. Augsburg, 1800, S. 3.
[24] Siehe Chemie.de: Vitriol.
[25] Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Leipzig: Breitkopf, 1793. Ratz.
[26] Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Bd. 16 Plaketten – Rinteln. Leipzig und Wien, 1907, S. 620: Ratten.
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