Programmierung – Lyrik – Nachtintelligenz
Von der Poesie des Idiolekts
Yoko Tawada spricht mit Anne Duden in der Reihe Dichterinnenporträt im Haus für Poesie
Am nach einigen Bräuchen sogenannten heiligen Mittwoch, dem Tag vor Gründonnerstag, sprach Yoko Tawada mit Anne Duden, einer Hochseilakrobatin des Idiolekts. Wie sie im Gespräch verriet, schreibt die in London lebende Dichterin an einem Idiolekt, einer eigenen Sprache. Daran waren und sind Paul Celan wie Erich Fried nicht unbeteiligt. Yoko Tawada gab ihrerseits preis, dass sie als Hörerin der Poetik-Vorlesungen von Anne Duden im Sommersemester 1987 an der Universität Hamburg diese seither, um es einmal poetisch zu formulieren, nicht mehr aus dem Ohr bekommt. Mit zahlreichen Preisen geehrt gehört Anne Duden zu den einflussreichen Essayistinnen und Dichterinnen, die einem größeren Publikum außerhalb einer feministischen Literaturwissenschaft kaum bekannt sind.
Um ihr erstes Buch schreiben zu können, musste Anne Duden von Berlin (West) nach London gehen. 1973 gründete sie mit F. C. Delius und Ingrid Karsunke den Rotbuch Verlag aus dem bereits kollektivistisch organisierten Verlag von Klaus Wagenbach. Doch als Verlegerin im Kollektiv konnte sie kein Buch schreiben, so dass sie erst 1978 nach der Übersiedlung zur Untermiete zu schreiben begann. 1982 erschien, nachdem Erich Fried sie ermutigt hatte, der erste Prosaband Übergang. 1993 folgte ihr erster Lyrikband Steinschlag. Auf Lyrikline – „listen to the poet“ – hat Anne Duden 10 Gedichte eingelesen. Van Gogh geht zur Arbeit bis Winter · Reise liest die Dichterin selbst. Yoko Tawada hat ebenfalls 10 Gedichte von Transformation Richard III bis Hamlet No See für Lyrikline ausgewählt und für die Online-Audiothek aufnehmen lassen. Sie ist ein Projekt des Hauses für Poesie.
In welchem Verhältnis stehen Poesie und Programmierung? Im Gespräch mit Yoko Tawada gebraucht Anne Duden den Begriff der Programmierung. Es sei für sie wichtig gewesen, ins englischsprachige London zu gehen, damit sie der Programmierung durch die deutsche Sprache entgehen und zu schreiben beginnen konnte. Anne Duden führt im Gespräch, denn es war ja ein Gespräch und keine Poetik-Vorlesung, nicht näher aus, warum oder auf welche Weise die Distanz zur deutschen Sprache wichtig war. Sie sagt auch nicht genauer, was sie mit Programmierung beschreiben möchte. Doch die Erwähnung der Programmierung schlägt von der Zeit um 1980 einen Bogen zur kaum noch hinterfragten Programmierung durch sogenannte soziale Medien und Künstliche Intelligenz heute. Programmieren wir noch? Oder programmiert uns längst das Verhaltensdesign der Internetkonzerne?
Um die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Programmierung im Schreiben von Anne Duden genauer bedenken zu können, gibt das Gespräch den ein oder anderen Wink. Erich Frieds Besprechung von Anne Dudens erstem Buch in der ZEIT am 13. Mai 1983 spielt bereits auf ihr Schreiben und den Widerstand gegen die Programmierung an. Denn Fried fragt sich: „Wie bespricht man in der eigenen Sprache, auch wenn man sonst glaubt, Eindrücke und Gedanken halbwegs formulieren zu können, etwas, was Sprachessenz ist, gebrannte Sprache, brennende Sprache?“[1] Schon mit Übergang hat Anne Duden eine Sprache in Prosa entwickelt, die keine landläufige Nacherzählung oder Inhaltsangabe verträgt. Vielmehr führt Fried in seiner Besprechung sogleich ein Beispiel an, das die Sprache selbst in Szene setzt:
„Was da geschieht, dahin reicht kein Erleben und keine Sprache. Da müßte der zerfetzte Raum schon selber sprechen. Nach dieser Art von Gewalt bleibt aber nichts mehr zu sagen.“ Diese Feststellung der Autorin stimmt so genau wie alle ihre Feststellungen. (Die ungenauen sind nur genaue Darstellung des Versinkens in Dämmerzustände, des Auftauchens aus Bewußtlosigkeit oder Wahn.)[2]
Nach den strengen Regeln der deutschen Grammatik müsste es „selbst“ statt „selber“ heißen. Doch die leichte Abweichung von der Grammatikregel für das Pronominaladverb betont auch die Unmöglichkeit des Selbstsprechens für den Raum. Es geschieht eben nicht von selbst. Ein poetisch-grammatischer Kniff in der Prosa trägt nach Fried zur Genauigkeit bei, die indessen nicht einfach mit einem mühelosen Verstehen einhergeht. Denn ein Idiolekt befragt kraft seiner Eigenheit immer auch das nach Roland Barthes Herdenhafte des Diskurses. Den Eigenheiten werden indessen heute durch Web- und Verhaltensdesign der angeblich unentbehrlichen Apps und Widgets normiert. Rechtschreibprogramme markieren poetische Verschiebungen und Neologismen als Fehler.
Beim Dichterinnenporträt liest Anne Duden zuerst ihr Gedicht TRIFOLIUM TETRACHORD. Im 1996 erschienenen Band Überschneidungen Texte zu Literatur & Kunst ist der Gedichttitel in Majuskeln gesetzt.[3] Das kann man lesen, aber beim Vorlesen nicht hören. Was früher vielleicht noch als Bildung vorausgesetzt werden konnte, muss Anne Duden im Haus für Poesie wenigstens ansatzweise erklären. Trifolium ist der dreiblättrige Klee, der bekanntlich nur vierblättrig Glück bringt, wie die Lyrikerin es in etwa formuliert. Und der Tetrachord sei eine Folge von vier Tönen, die sie zuerst bei Monteverdi als Klage einer Nymphe gehört habe. Als Anspielung auf das kein Glück versprechende Trifolium und den absteigenden Bass als Tetrachord lässt sich der Titel kaum noch voraussetzen, während sich diese fast leicht mit einigen Zwischenschritten mit Google formulieren lässt.
TRIFOLIUM TETRACHORD also als Titel ruft mancherlei Wissen und Wunsch aus Botanik, Aberglaube und Musikgeschichte auf, um es fast eine Stimmung setzend, neu und anders zu wenden. Die Kombination zweier lateinischer Begriffe aus unterschiedlichen Wissensbereichen generiert ein anderes Wissen, das quasi neo-logistisch mit großer Genauigkeit auf den schwer zu bestimmenden Bereich der Stimmung gerichtet ist.
TRIFOLIUM TETRACHORD
Blutgürtel
Felsenüberwurf
die zweigeteilte Ermannerin
‒ Maskara aus Blei
zur Beschwerung der Lider ‒
hatte einen unkenntlichen Traum:
Einhufer berückten das Grauen des Morgens
ritten aus mit glühendem Beschlag
entgegengesetzt
verschwanden im Wasserdickicht.
Aus der Nähe der Landschaft verrät wenig
Brandzeichen von Sonnenfraß
oder Pferdefuß.
Sonst nur der dreiblättrige Klee
und nichts weiter Geglücktes.
…[4]
Anne Dudens Lyrik hält sich vor dem bereits weit verbreiteten Neologismus in der Einmaligkeit der Kombinatorik. Vom Neologismus wissen häufig sehr viele, obwohl oder gerade weil er fast plötzlich wie der Begriff Künstliche Intelligenz von fast allen oder sehr vielen gebraucht wird. Der Neologismus ist immer ein Versprechen auf die Zukunft des Wissens wie beispielsweise bei der KI. Niemand weiß genau, was künstliche und menschliche Intelligenz unterscheiden könnte. Doch es wird gesprochen, als ob man wüsste, was Intelligenz im Zeitalter der Neuronalen Netze und des weltweit ausgebreiteten Netzes von Computern ist. Neologismen verbreiten sich vor allem über das Als-ob. Dieses Als-ob wird sich noch nicht, aber in Zukunft als Wissen erweisen. Nämlich nachträglich. Mit TRIFOLIUM TETRACHORD, das weitere und mehrdeutige, neue Kombinationen von Begriffen mit einander verknüpft, ist nicht auf die wiederholende Verbreitung angelegt. Und welche Funktion nimmt „die zweigeteilte Ermannerin“ ein?
Von früh an Verzehrte hält sie sich fleischarm
blickt dünnlippig gepreßt in die immer gleiche Versenkung
auf dem Trottoir gewordenen Wellengang
und sieht einerseits scharf
den Aufgaben bis auf den Grund
andererseits nichts deutlicher
als die Milch ihrer
vor der Zeit und freiwillig
sich eintrübenden Iris
den Arcus senilis
der alles übrige
gnädig einnebelt
abstumpft
verwischt.[5]
Wie sich mit TRIFOLIUM TETRACHORD lesen lässt, sticht das Femininum der „Ermannerin“ hervor. Und auch in der zweiten Strophe wird eine „sie“ beschrieben. Die eigenartige „Ermannerin“ verknüpft das metonymisch mutige Geschlecht der Männer, die sich ermannen mit dem Weiblichen. Das schon im biblischen Alt- und Mittelhochdeutschen gebräuchliche irmannit und ermant sowohl von Goethe als auch Schiller zu ermannen transformierte männliche Handeln, wird von Anne Duden weiblich gewendet.[vi] Wird diese grammatische Geschlechtsoperation bejaht oder verneint? – Das Gedicht entfaltet sich über 13 unterschiedlich lange Strophen. Es kommt der Lyrikerin offenbar im Dichterinnenporträt nicht auf Vollständigkeit an. Sie liest es nicht ganz durch. Lyrik gibt sich nicht der Illusion des algorithmischen Entweder-Oder hin.
Im Band Überschneidungen gibt es eine „Diskussion zum Text“, die noch einmal eine andere Wendung zum Körper als dem Körper des Menschen nimmt. Vielleicht, das auch eine Praxis der Lyrik, wie sie auf Lyriktreffen geübt wurde. Noch wird? In der Diskussion zum Floriana Literaturpreis geht Duden gar nicht näher auf das eigenwillige Femininum ein. Stattdessen sagte sie damals:
„… Der Körper des Menschen verschwindet vielleicht auch immer mehr. Das ist, wenn man so will, eine Grundlage unserer Kultur, der abendländischen Kultur und es ist natürlich auch die Basis des Kapitalismus. Es muß etwas verschwinden, es wird etwas getötet, es wird etwas vernichtet, es wird etwas ausgebeutet bis zum Schluß. Mich fasziniert, wie das ins Bild gebracht worden ist. In diesen Drachen wird alles das hineingelegt, was angeblich Böse ist, und im Grunde ist es immer nur das Andere…“[7]
Im Haus für Poesie bezieht Anne Duden das Gedicht nicht auf ein oder mehrere Bilder insbesondere Altarbilder von Altdorfer und anderen altdeutschen Meistern im Kloster von St. Florian in der Nähe von Linz. Anne Duden gewann 1995 mit TRIFOLIUM TETRACHORD den Floriana Literaturpreis. Es gibt eine Bildlichkeit im Schreiben der Prosa wie der Lyrik Anne Duden. Doch diese Bildlichkeit beschreibt nicht einfach ein Bild. Vielmehr wird das Bildliche mit dem Musikalischen der Sprache verknüpft. Denn die Lyrik kommt, wenn man so will, vom Musikalischen. Beide Bereiche werden im Titel angeschlagen, um zugleich verschlüsselt zu werden. „Sonst nur der dreiblättrige Klee / und nichts weiter Glückliches“, setzt das den Titel gebende Trifolium gleichsam in Szene. 1995 formulierte der Schriftsteller, Maler und Grafiker Anselm Glück die Bildlichkeit auf folgende Weise:
„… Und es ist mir jetzt wieder so gegangen, daß ich Bilder gesehen habe, die außerhalb des Formenkanons gewesen sind, den ich normalerweise von mir oder von Lektüre gewohnt bin. Das passiert mir nicht oft und darum find ich das eine starke Leistung.“[8]
In einem nicht mehr erhältlichen Band von Jacques Derrida hatte Anne Duden eine Formulierung zur Lyrik gelesen, an der ihr vor allem wichtig ist, dass sie mit Auslassungspunkten und Gedankenstrichen geschrieben war. Auf diese Weise wird mit Lyrik formuliert, was sich nicht mit einem „Formenkanon“ sagen oder sehen lässt. Doch dieses Unsagbare wird durch die Schrift und den Schriftsatz von Anne Duden mit einer großen Präzision zur Sprache gebracht, wenn sie beispielsweise in Winter · Reise dem Maurer den englischen bricklayer vorzieht.
MORRIS
MOSS
BRICKLAYER lebenslang
verquer in die Verkeilung nun abgesackter
Mittelpunkt
einer fliehenden
dem Haus entstürzenden Pietà.
Letzter Wink seines
nackt aufragenden Fußes.[9]
Die idiolektalen „Verkeilung“ und „entstürzend“ erwarten auch einen, wie Anne Duden sagte, nicht vorprogrammierten Leser. „Als vorprogrammierter Leser kannst du das nicht lesen.“ Sie erwarten einen offenen Leser für die Ambiguität der präzisen Wortfindungen. Erst in der Kombination des „bricklayer(s)“ mit der „Verkeilung“ eben dieser verlegten Steine entspringt ein lyrischer Überschuss, den es nicht nur zu lesen, vielmehr noch auszuhalten gilt. Wenn Anne Duden wie im Haus für Poesie ihre Texte liest, dann ist das ebenso überzeugend wie faszinierend. Das gibt dann auch einen Wink auf die Schreibpraktiken von Yoko Tawada.
Torsten Flüh
Haus für Poesie
Kulturbrauerei
Knaakstraße 97
10435 Berlin
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[1] Erich Fried: Mein Gedächtnis ist mein Körper. In: Die Zeit 13. Mai 1983.
[2] Ebenda.
[3] Reinhard Kannonier, Charlotte Riedl (Hrsg.): Überschneidungen Texte zu Literatur & Kunst. Freistadt: Bibliothek der Provinz, 1996, S. 20.
[4] Ebenda.
[5] Ebenda.
[6] Vgl. dazu im Deutschen Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: ERMANNEN.
[7] Ebenda S. 26-27.
[8] Ebenda S. 24.