Filmfamilie – Fiktion – Filmkamera
Knallbunte Juwelen und ein Hausschwein
Zur Weltpremiere von Lothar Lamberts 40. Berlin Undergroundfilm
Mit der Weltpremiere seines 40. Films feierte Lothar Lambert am 25. Juli, dem Vorvorabend des 41. Berliner Christopher Street Day, seinen 75. Geburtstag im Kino Brotfabrik am Caligariplatz. Die Filmfamilie aus 40 LoLa-Filmen war fast komplett erschienen auf Zelluloid, digital und quietschlebendig. Ein Fest des Underground Kinos und queeren Films. Dr. Claus Löser, Kurator des Filmprogramms der Brotfabrik, eröffnete den Abend mit einer Begrüßung des Regisseurs und – ja, doch man muss es so nennen – Doppeljubilars Lothar Lambert. Wie es sich für einen Filmemacher gehört, erzählt er viel lieber mit seinen Filmen auf als vor der Leinwand. Oben rum, unten rum – Lamberts gesammelte Einakter heißt der Film mit Staraufgebot ebenso vielsagend wie unspektakulär.
Die Einakter haben es in sich. Fakten und Fiktionen überschneiden sich sozusagen Lambert-typisch z.B. in Bitte, bitte, bieten. Das Legendäre einer Kunstauktion zu Gunsten der Berliner AIDS-Hilfe im schwulen Café Berio am Nollendorfplatz 1996 mit Evelyn Künnecke, die mit Eva Mattes erscheint, kommt familiär und unspektakulär rüber. Lothar Lambert ersteigert ein Bild, das er selbst gemalt hat und einen Abzug von Erika Rabaus Foto von Zarah Leander bei ihrem letzten Auftritt in Berlin. Evelyn Künneke singt im – na man könnte es Bass nennen – ein Chanson. 1996 ebbte die AIDS-Welle schon langsam ab. Das schnelle Sterben der 80er Jahre verlangsamte sich. Kein LoLa-Einakter ohne krachende Fallhöhe. Vorüber war das Sterben an AIDS in Europa und Nordamerika noch nicht. Durch die vom Regisseur ersteigerten Bilder – die Bieter- und Spendenfreude hatte ihre Grenzen – gibt es einen satirischen Seitenhieb: Bitte, bitte, bieten.
Oben rum, unten rum könnte anatomielogisch heißen, dass es um Kopf bzw. Psyche und Sex bzw. Geschlechtsteile geht. Das Psychosoziosexuelle ist Lamberts Thema. Es ist eine Variante der Queerness, die immer auch an den Bereich des Peinlichen rührt. Diesmal treibt es Lambert ausgerechnet mit Hilka will noch (2008) auf die Spitze. Was will Hilka noch? Der Regisseur Lothar Lambert wird hier zum Reporter und Interviewer. Er treibt die längst pensionierte Lehrerin Hilka Neuhof, die einst bei der gestrengen Hilde Körber im Grunewald am Berliner Max-Reinhardt-Seminar angenommen worden war, bevor sie sich doch für eine Lehramtsstudium entschied, in die Albernheit. Mit zielgenauer Dramaturgie verwickelt Lambert Hilka in eine ebenso komische wie genaue Diskussion über den Dreh einer Sexszene. Sie will noch vor die Kamera. Warum nicht in einer Sexszene? Doch im Interview-Setting auf einer großen Couch mit Plüschaffen lässt sich Hilka zu nicht mehr als einigen halbherzigen Stöhnversuchen überreden.
In der langen Version bietet sich Hilka, bevor ich sie dazu dränge, sich auszuziehen, auch noch anderen Regisseuren an, bittet um eine kleine Rolle. Ich sag: „Wieso klein? Sei nicht so bescheiden!“ Dann wird die Szene unkonzentriert und albern, so daß ich noch mal alles überarbeitet und umgeschnitten habe.[1]
Hilka auf der roten Couch inszeniert vor allem das Sprechen über Sex und Nacktheit im Alter. Was Lambert „unkonzentriert und albern“ findet, rührt an den psychosoziosexuellen Grenzen. Die scheinbar reibungslose, doch originelle Erzählung von der missglückten Schauspielerinnenkarriere, die zum Lehramt führt, trifft auf das schwierige Sprechen über Schauspiel, Nacktheit und Sex im Alter. Die ebenso autobiographischen wie soziologischen Erzählungen kollabieren in Unkonzentriertheit und Albernheit. Lambert legt mit seinen durchaus freundschaftlich-frechen und spaßigen Fragen frei, was an der Grenze des Öffentlichen im Film mit Halbnah- und Naheinstellungen noch gesagt werden kann. Hilka, Lothar und Albert Kittler an der Kamera lassen die Grenze zum Sexfilm und Porno aufblitzen, überschreiten sie aber nicht. Sie spielen mit der Scham an der Schnittstelle von „Dokumentation“ und Fiktion.
Hilka will noch wird für Lambert exemplarisch, weil die vermeintliche Dokumentation haargenau dort stattfindet, wo Familie, Freundschaft, Kamera, Film, Schnitt, Gesellschaft, Subversion oder Underground, Camp, das Schwule und Queer aufeinandertreffen. Mit einem Pornoregisseur hätte Hilka eben gar nicht erst sprechen wollen und können. Doch die Nacktheiten und Geschlechtlichkeiten standen und stehen bei Lothar Lambert seit jeher im Kontext ihrer gesellschaftlichen Zurichtungen und Abweichungen. Das machte auch die Retrospektiv-Installation im Schwulen Museum zum 70. Geburtstag klar. Die „gesammelten Einakter“ sind insofern durchaus repräsentativ für Lamberts filmisches Werk wie etwa in Ein Schuss Sehnsucht/Sein Kampf (1972) über Boulevardmedien, die titeln „Unsere Kripo ist verbittert: Schützt euch selbst! Kauft euch Waffen“[2], 1 Berlin-Harlem (1974) über Rassismus und sexuellem Aufbruch in West-Berlin[3] oder eben der filmfamilialen Hommage an Erika Rabau Erika, mein Superstar (2015)[4].
Die Filmfamilie ist eine existentielle Voraussetzung für Lothar Lamberts Mumblecore-Filme, wie sie heute im Englischen genannt werden. Hilka Neuhaus, Erika Rabau, Dieter Rita Scholl, Kameramann Albert Kittler, Frank Schoppmeier, Stefan Stricker alias Juwelia, Arnfried Binhold, Nilgün Taifun, Ulrike S., Evelyn Sommerhoff, Karin Reum-Lahrem, Dagmar Beiersdorf, Dieter Schidor, Hans Marquardt, Anna Dörrast und noch viele mehr wirkten in LoLa-Produktionen mit. 1998 trug Made in Moabit den Untertitel „Eine Filmfamilie aus dem Hinterhof“. Das Konzept Filmfamilie wurde im unabhängigen und untergründigen Film seit den 1970er Jahren entwickelt und generierte nicht zuletzt die Filmhandlungen wie eben den Untertitel gebend in Made in Moabit. Die Filmfamilie ist natürlich bunt und queer bei Lothar Lambert. Dabei lüftet er in Oben rum, unten rum ein lang gehütetes Geheimnis.
Im Einakter Freuden der frühen Jahre (2018) hat Lambert mit Albert Kittler, eine Collage aus teilweise noch Normal-8-Schmalfilmen seines Vaters aus den 50er und frühen 60er Jahren erstellt. Das Negativformat Normal-8 war so etwas wie das Familienformat, so wie heute das Smartphone das Emotiontool für die Aufregung ist. Normal-8-Kamera, womöglich von Bauer aus Untertürkheim, und VW-Käfer waren Wirtschaftswunder-Gadgets. Vater, Mutter und Sohn Lambert leisteten sich in den 50er Jahren Urlaubsreisen mit dem eigenen Auto und der Filmkamera. Nun erst erinnerte sich Lothar Lambert in der Collage, dass er wahrscheinlich ebenfalls früh eine Kamera zum Filmen der Familie und ersten Inszenierungen mit der Oma in Drag geschenkt bekommen hatte. Oma posiert mit Schnurrbart, Strickmütze und Schal vor dem Spiegel im Flur. Früh lieferte die gefilmte Familie sozusagen das Sujet für die spätere Filmfamilie als queeren Entwurf. 1967 photographierte er mit Schnurrbart und in Lederjacke als Reporter Mia Farrow bei Dreharbeiten zum Agententhriller A Dandy in Aspic an der Avus. Der Sohn hat nun das Männlichkeitsmerkmal der Oma für die Kamera für sich selbst angenommen.
Die ersten Schmalfilmkameras gab es zwar schon in den 30er Jahren, doch wirklich populär wurden sie erst in den 50er Jahren.[5] Sie waren natürlich weit seltener als Smartphones heute. Die nur wenige Minuten langen Negativfilme konnten nur einmal belichtet werden und hatten keine Tonspur.[6] Einfach drauflosfilmen war wenigstens teuer. Die Harmonie mit Vater, Mutter (zigaretterauchend) und Volkswagen musste für die Kamera des Sohnes schön arrangiert werden. Family-Posing. Für Lothar Lambert waren diese technischen Voraussetzungen lange Zeit prägend und wurden durch dramaturgische Inventionen transformiert. In Freuden der frühen Jahre haben Kittler und Lambert nun durch digitale Animationen das Bildmaterial neu kombiniert. In gewisser Weise sind Filmfamilie wie Mumblecore-Werk Effekt dieser technischen Bedingungen, ja, den Maschinen als Formatvorgabe. Man kann noch weiter gehen: Die Filmkamera ermöglichte es Lothar Lambert, schon in frühen Jahren die Großmutter in Drag zu filmen, weil das Leben vor der Kamera in Pose ein anderes wurde. Der Schmalfilm erlaubte sozusagen in der Familie die geschlechtlichen Operationen, die mit der Filmfamilie weiter getrieben wurden.
Überhaupt kommt Mumblecore nicht ohne Filmfamilie und einer gewissen lokalen Zuspitzung aus. Das ist schließlich eine Frage des Budgets. Lothar Lamberts Filme sind immer auch Berlin-Filme oder gar West-Berlin-Filme. So wird denn auch in Tanz in der Deutschlandhalle die legendäre Location unter dem Funkturm gegen den City Cube Berlin geschnitten. Ein wenig knatterndes 8 mm-Filmmaterial gegen den Digishot vom City Cube Berlin an gleicher Stelle. Die Deutschlandhalle war eine Art erweitertes Wohnzimmer mit Gelegenheit zu Tanzauftritten für Lambert. Die Deutschlandhalle in Berlin bot neben Tanz und Militärmusikfestival, Reitturnier und Rockkonzerten sowie Klaus Kinskis denkwürdige Rezitation und Publikumsbeschimpfung Jesus Christus Erlöser 1971 immer wieder Potential zur Identifikation und Abgrenzung. Sie war ein Versprechen für die West-Berliner, dass sie nach 1945 weiterhin zu Deutschland bzw. West-Deutschland gehörten und als „Insulaner“ Weltgeltung genossen. Die Deutschlandhalle wurde im Dezember 2011 trotz Denkmalschutz abgerissen. Und man spürt, dass Lambert mit dem City Cube Berlin fremdelt.
Frank Schoppmeier „singt“ Rio Reiser mit dünner, roter Federboa in Der letzte West-Berliner (2018) und Betty Lerche erzählt in Betty und die Welt (2018) die durchgeknallte Geschichte ihres Lebens mit Episoden in West-Berlin. Betty Lerche lebt heute in Kreuzberg. Bei ihrer katastrophenreichen Erzählung als Independent-Filmemacherin, die mit einem Krebstumor im Gehirn und weiteren Tumoren im Körper endet, bleibt das Publikum schreckensstarr. Betty Lerche hat ein Profil auf Facebook, wo sie mit Juwelia und Frank Schoppmeier mit einem Post vom 17. März am „Tuntenfrühstück“ teilnimmt. Es lässt sich kaum entscheiden, ob es sich bei der Erzählung um krasse Katastrophen eines gelebten Lebens oder um eine soziologische Collage aus West-Berlin mit autoritärem, jüdischem Vater, sexueller Misshandlung, Schulabbruch, Heroin und Prostitution, Koma und Schwangerschaften bis zur mehrfachen Krebsdiagnose handelt. Lothar Lambert nennt es diesmal keine „Dokumentation“ oder Interview, vielmehr nennt er es „Film“. Treffsicher und ultragenau wird das Ungeheure mit Ruhe und Zuversicht erzählt. Doch eine Filmemacherin Betty Lerche kennt Google nicht. Es ist „Film“ mit dem Bezugspunkt West-Berlin.
Man kann wissen, dass Lothar Lambert die Late-Night-Reality-Formate der Medical Detectives, Snapped – Wenn Frauen töten oder Killer Couples etc. sieht. Genauso kann man wissen, dass er ein Fan von Douglas Sirk mit All I desire/All meine Sehnsucht (1953), Es gibt immer ein Morgen (1956) und Interlude/Der letzte Akkord (1957) ist. Auch Fritz Lang mit Cloak and Dagger/Im Geheimdienst (1946), in den Hauptrollen Lilli Palmer und Gary Cooper, liebt er. Das ist nur deshalb erwähnenswert, weil sich im Film Fiktion mit dem „non fiction book“ Cloak and Dagger: The Secret Story of O.S.S. von Corey Ford and Alastair MacBain überschneiden. Wann wird die Realität zur Fiktion und umgekehrt? Mit dem Faible für Douglas Sirk weiß sich Lothar Lambert in der Gesellschaft von Rainer Werner Fassbinder und Pedro Almodovar, der gerade mit Dolor y gloria/Leid und Herrlichkeit und Antonio Banderras in der Hauptrolle den Preis für den besten Darsteller als (fiktiver) Filmregisseur gewonnen hat.
Lothar Lambert hatte Juwelia vor Rosa von Praunheim. Das zählt im Berliner Queer Movie. Damit ist der andere Name des queeren Films gefallen, der ein anderes Händchen hat für die Selbstvermarktung. Juwelia und andere Schönheitsköniginnen erinnert mit Ausschnitten aus Verdammt in alle Eitelkeit (2000) und Aus dem Tagebuch eines Sexmoppels (2004), dass Lothar Lambert lange vor Rosa von Praunheim mit dem eher dokulastigen Überleben in Neukölln (2017) vor der Kamera hatte. Juwelia kam bei Lambert groß raus, wobei in seinem Film gerade nicht die eher tradierten Grenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm eingehalten wurden. Die spezifische Überschneidung von Therapie, Fiktion und Dokumentation macht Lambert zum Queer-Film-Star. Rosa von Praunheim rang immer um die Dokumentation der schwulen Szene und Probleme, Lothar Lambert fragt ständig nach den Grenzen der Fiktion.
Lamberts Titel wie Kleine Sau ganz schlau (2019) sind Versprechen und wecken Erwartungen. Julia Adachi und Lily bilden in diesem Einakter den Cast. Und es geht um Liebe und Intelligenz. Denn Julia hat sich in ein kleines Hausschwein verliebt und dessen Intelligenz mit diversen Lernmaterialien wie Ringe und Klötze gefördert. In Zeiten trainierbarer Künstlicher Intelligenz liefert Lily den Beweis für die Förderung der Intelligenz von Hausschweinen im Schöneberger Kiez und auf dem Spielplatz. Die kleine Sau und Julia verstehen sich offenbar prächtig. Sie leben gemeinsam in der Etagenwohnung und teilen offenbar genüsslich das Bett zur Pflege mit der Drahtbürste. Vielleicht ist Lily auch in einigen Bereichen schlauer als Künstliche Intelligenzen. Wenn sie auf den Spielplatz kommt, rennt sie vor Freude los, wie ein Kind. Doch anders als Kinder schlafen Hausschweine viel, berichtet Julia. Lothar Lambert setzt die Vieldeutigkeit der Sprache und Bilder gezielt ein, um sie in verquere Ebenen zu drehen.
Torsten Flüh
Lothar Lambert
Oben rum, unten rum (2008-2019)
bis 31. Juli 2019 21:00 Uhr
Brotfabrik Kino
Caligariplatz 1
13086 Berlin
4. August 2019 15:30 Uhr
Bundesplatz-Kino
Bundesplatz 14
10715 Berlin
[1] Vgl. Lothar Lambert über die Dreharbeit von 2008. Lothar Lambert: Hilka will noch.
[2] Siehe Torsten Flüh: Das Sprechen im Kino. Zu Lothar Lamberts Sein Kampf und Rosa von Praunheims Filmen. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 16, 2013 21:14 (PDF).
[3] Siehe Torsten Flüh: Der Film der Stunde. 1 Berlin-Harlem von Lothar Lambert im Panorama der 66. Berlinale. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 18, 2016 17:50 (PDF).
[4] Siehe Torsten Flüh: „Kindeinhalb“. Erika Rabau in Lothar Lamberts Erika, mein Superstar … In: NIGHT OUT @ BERLIN August 7, 2015 20:45 (PDF).
[5] Der Vater und der Onkel des Berichterstatters filmten in den 50er und 60er Jahren ebenfalls recht aufwendig Schmalfilmkameras. So wurde ein Film über die Interbau 57 im Hansa-Viertel aufwendig mit einem Tonband „vertont“. Meine Mutter erhielt eine Postkarte von meinem Vater, dass man einen Film mit ihr drehen wolle. 1966 drehten Vater und Onkel den Familienfilm „Das Kind im Manne“ mit der Frage, was dem Sohn zum Geburtstag geschenkt werden sollte. Letztlich gab es im Film wie in der Realität einen blauen Metall-Kran als nicht ganz kindgerechtes Geburtstagsgeschenk.
[6] Vgl. auch: Torsten Flüh: Die „Maßnahmen“ im Schmalfilm gebannt. Egon Bahr eröffnet die Premiere des Schmalfilm-Opus’ Bis an die Grenze in der Urania. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 13, 2011 18:47. (Der Post wurde leider 2019 beschädigt, so dass die Fotos gelöscht wurden.)
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