Maschine – Gesetz – Schrift
Kafkas Schreibmaschine
Die Oliver 5-Schreibmaschine und Franz Kafkas In der Strafkolonie.
Der „Apparat“ in Franz Kafkas Text In der Strafkolonie ist eine ebenso „eigentümliche()“ wie imaginäre Maschine. Nach den Worten des Offiziers wird „dem Verurteilten (…) das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben“.[1] Die so beschriebene Schreibmaschine mit den „gewissermaßen volkstümlichen Bezeichnungen“ ihrer „Teile“ wird nach einer bestimmten Automatik der Urteile und unter Verkettungen in Gang gesetzt. Sie hat in der Literaturwissenschaft wiederholt das Forschungsinteresse geweckt sowie Installationen und Kunstproduktionen angeregt. So haben Janett Cardiff und George Bures Miller 2007 mit der Installation The Killing Machine teilweise Bezug genommen auf die Erzählung In der Strafkolonie.[2]
Im August 2017 war in der Ausstellung Franz Kafka – Der ganze Prozess in einer Vitrine im Martin-Gropius-Bau eine Schreibmaschine der Marke Oliver 5 zu sehen, wie der Schriftsteller sie nicht nur zum Tippen benutzt hat. Die ausgestellte Oliver 5 des amerikanischen Herstellers wurde offenbar von der „Oliver-Schreibmaschinen-Ges. Berlin SW 68“ vertrieben. Sie gehörte laut Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften 1909 mit „Typenhebel. Bandfärbung. Umschaltung. Offene Schrift“ zur „Klasse 4“ der Schreibmaschinen.[3] Unübersehbar steht unter dem Modellnamen und über dem Farbband befehlsartig „MASCHINE STETS REINIGEN UND ÖLEN“, als müsse der Schreiber zugleich als Maschinist auf seine Maschine achten. Kafkas Maschine soll im Folgenden ein wenig genauer besprochen werden. Was wusste er von Apparaten und Maschinen?
Gibt es Korrespondenzen zwischen der erzählten Maschine und der Konstruktion der Oliver 5? – Wir wissen nicht, ob Kafka auf einem Berliner Modell mit der entsprechenden Beschriftung oder einem anderen geschrieben hat. Doch für den deutschsprachigen Raum gibt das Lexikon mit der Aufschrift übereinstimmend eine Firma in Kreuzberg an. Die Beschriftung wird so oder so ähnlich angebracht gewesen sein. Immer, wenn die/der Schreibende ein Blatt Papier einspannte oder aus der Walze entnahm, wurden der „Typist“ oder die „Schreibkraft“ an seine/ihre Sorge für die Maschine erinnert. Zwischen 1908 und 1922 arbeitete Franz Kafka bei der „Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag“, wo er Rezensionen, Vorträge und Schriftsätze im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren und also mit einer Schreibmaschine anzulegen hatte. Seine literarischen Manuskripte und „Tagebücher“ sind indessen von Hand geschrieben.[4]
In der Forschung zu Kafkas Text sind verschiedene Maschinenmodelle an den Apparat herangeführt worden. Peter-André Alt hat den „Apparat“ als „Maschinen des Gesetzes“ beschrieben[5], um sie als „Tötungsapparat und zugleich Schreibmaschine“ zu bestimmen.[6] E. R. Davey schenkte schon 1984 mit The Broken Machine: A Study of Kafka’s In der Strafkolonie besondere Aufmerksamkeit. Er schlägt vor, dass „the machine lived up to the designer’s highest possible expectations: not only was it a model intended as (or devoutly hoped to be) a truthful paradigm of the universal system“.[7] Obwohl das Modell als „the universal system“ gelesen wird, wurde es bislang nicht genauer mit einer konkreten Schreibmaschine und ihrer Schrift in Verbindung gebracht. Die Maschine zerbricht oder wird schließlich durch den Offizier-Maschinisten zerbrochen, indem er sich selbst sozusagen techno-logisch und identifikatorisch mit ihr richtet.
Der Offizier aber hatte sich der Maschine zugewendet. Wenn es schon früher deutlich gewesen war, dass er die Maschine gut verstand, so konnte es jetzt einen fast bestürzt machen, wie er mit ihr umging und wie sie gehorchte.
Die Schreibmaschine und ihre Konstruktion werden in gewisser Weise von Peter-André Alt zugunsten einer Lektüre der Schrift mit Jacques Derrida unterdrückt. Er knüpft dafür an Derridas frühen Text Kraft und Bedeutung von 1963 in Die Schrift und die Differenz an[8], wenn er zitiert, dass „(s)ie (…) den Sinn hervor(bringe) (…), «indem sie ihn verzeichnet, indem sie ihn einer Gravierung, einer Furche, dem Relief einer Fläche anvertraut, von dem man verlangt, daß sie unendlich übertragbar sei“.[9] Doch die Konstruktion der Schreibmaschine findet auch hier keine Beachtung, obwohl mechanische Schreibmaschinen ihre Typenschrift mit einem harten oder zu kraftvollen Anschlag durchaus ins Papier furchen oder hineingraben konnten. Unterdessen spielt das Beschreiben und Verstehen des Apparates für die Erzählung und vor allem für den „Offizier“ gegenüber dem „Forschungsreisenden“ die größte Rolle. Er ringt wiederholt darum, den „Apparat“ in einer Mehrdeutigkeit von Rechtsprechung und intelligibler Technologie möglichst genau zu beschreiben:
Ich will nämlich den Apparat zuerst beschreiben … nun hören Sie! … Der Offizier erkannte, daß er in Gefahr war, in der Erklärung des Apparates für lange Zeit aufgehalten zu werden.
Der Apparat wird im Text 27 Mal genannt, die Maschine 28 Mal. Mit dem Apparat bzw. der Maschine wird recht aufwendig eine „Schrift“ erzeugt, die „immer klar zu erhalten“ ist. Doch das Schreiben der Schrift tötet einerseits, setzt andererseits das Urteil um und wird dennoch für nichts geschrieben, weil „die Leiche (…) zum Schluss noch immer in dem unbegreiflich sanften Flug in die Grube (fällt)“. Damit, um es einmal so zu formulieren, fällt auch die Schrift in die Grube, wo sie unter den Augen des Publikums vergraben oder, mit anderen Worten, unzugänglich archiviert wird. Dementgegen geht es um eine Schrift, die der Reisende „nicht entziffern“ kann. Doch der Verurteilte kann sie nach den Worten des Offiziers auf schmerzhafte Weise entziffern: „Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung.“ Alt sieht darin eine „Differenz zwischen der Maschine, die das Programm einer zweifelhaften, nur unter den Bedingungen der Folter in Aussicht gestellten Erkenntnis repräsentiert, und denjenigen, die sie zum Zweck der Herrschaftssicherung bedienen“.[10]
Die Entzifferung der Schrift und das Lesen nehmen eine paradoxe Funktion ein. Man könnte sie eine Entstellung nennen. Denn wenn der Mann die Schrift „mit seinen Wunden (entziffert)“ hat, macht es für ihn, dem Tode nah, keinen Sinn mehr, was geschrieben worden ist. Im Moment der Entzifferung fällt er wie ein Blatt Papier „in unbegreiflich leichtem Fluge in die Grube“. Doch in einer zweiten Sequenz geht es noch einmal um das Lesen, das dem Reisenden erst gelingen soll, als ihm vom Offizier vorgelesen wird. Am Schluss kommt es zu einer dritten Leseszene, wenn der Reisende im Teehaus „niederknien“ muss, um die Aufschrift auf dem Grabstein des Kommandanten zu lesen. Zwar lässt sich mit der Unterwerfungsgeste des Niederkniens die „Aufschrift“ lesen und entziffern, aber die umstehenden Männer „lächeln“ nur, als hätten sie diese „lächerlich gefunden“. Das gelingende Lesen des Reisenden hat quasi einen lächerlichen und damit entwertenden Effekt, obwohl oder gerade weil die „Aufschrift“ eine „Prophezeiung“ verspricht.
Was heißt dann lesen In der Strafkolonie? Die Anweisung, das Blatt zu lesen, wird von Kafka mit großem Aufwand erzählt. Der Reisende muss wiederholt zum Lesen gezwungen werden. Die „Aufschrift“ erteilt schließlich einen Befehl, dessen Bedeutung sich trotzdem nicht erschließt, weil offen bleibt, ob der Offizier oder der Reisende oder gar die Maschine, die sich sozusagen selbst und damit den Offizier-Maschinisten zerstören wird, „gerecht“ sein soll.
„Lesen Sie,“ sagte er. „Ich kann nicht,“ sagte der Reisende, „ich sagte schon, ich kann diese Blätter nicht lesen.“ „Sehen Sie das Blatt doch genau an,“ sagte der Offizier und trat neben den Reisenden, um mit ihm zu lesen. Als auch das nichts half, fuhr er mit dem kleinen Finger in grosser Höhe, als dürfe das Blatt auf keinen Fall berührt werden, über das Papier hin, um auf diese Weise dem Reisenden das Lesen zu erleichtern. Der Reisende gab sich auch Mühe, um wenigstens darin dem Offizier gefällig sein zu können, aber es war ihm unmöglich. Nun begann der Offizier die Aufschrift zu buchstabieren und dann las er sie noch einmal im Zusammenhang. „‚Sei gerecht!‘ – heisst es,“ sagte er, „jetzt können Sie es doch lesen.“
Kafkas wiederholte Schreib-Lese-Szenarien sind bedenkenswert. Erst als „der Offizier die Aufschrift zu buchstabieren (begann) und dann (…) sie noch einmal im Zusammenhang“ ausspricht, muss der Reisende den Befehl „Sei gerecht!“ als Befehl „doch lesen (können)“. Das Lesen der Schrift glückt insofern nur unter Zwang, auf Umwegen und unter Entstellungen. Zugleich ist er ein Urteil, dessen Ursprung offen bleibt oder das imaginär aus der Maschine generiert worden ist. Es könnte insofern einen Wink geben auf Oliver 5, die mit ihrer „Egge“ anders als mit der Hand „immer klar(e)“ Buchstaben in „das Blatt“ schlägt, eingräbt. – Bisweilen konnte ein zu harter Anschlag der Tasten real dazu führen, dass die Type das Papier durchschlug. Dann entstanden ebenso signifikante wie leere Löcher im Papier. – Doch die klaren Typen werden zugleich für nichts geschrieben und unterliegen in der Schreibpraxis Franz Kafkas einer gewissen Nachträglichkeit. Erst schreibt er mit der Hand, dann tippt er Briefe „fast wortwörtlich“.[11] Oder er tippte geschäftliche Schriftstücke, wie sie nach Schemata angefordert wurden und sie bedeuteten ihm nichts. Die Korrespondenzen, für die er ab 30. Juli 1908 für die AUVA zuständig war, umfasste solche, „bei denen es um Einsprüche der Unternehmer gegen die von der AUVA festgelegten Versicherungsbeiträge geht (die nach geschätztem Unfallrisiko gestaffelt sind)“.[12]
In der Strafkolonie handelt vom Schreiben und Lesen. Die Schriften Kafkas sollten aber nach der Verfügung an Max Brod vom 29. November 1922 „nicht (…) neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon einmal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat.“ Anders gesagt: das Schreiben Kafkas ist auf eigentümliche Weise nicht auf Dauer angelegt. Die Schrift ist im fraglichen Text nicht entziffer- oder lesbar. Was geschrieben wurde, kann gelesen werden. Aber die Schrift muss wie vom „Offizier“, der zugleich als „Maschinist“ Sorge für den „Apparat“ wie die „Maschine“ trägt, wie ein Gesetz gleichsam symbolisch im Voraus gewusst werden – „jetzt können Sie es doch lesen“. Die paradoxal „klar(e)“ Schrift gibt nichts Neues oder Sinnvolles zu lesen, vielmehr wird sie vom Offizier-Maschinisten im Modus der Wiederholung ausbuchstabiert.
Welche Energiequelle treibt die Maschine an? – Der Apparat aus „Zeichner“, „Egge“ und „Bett“ arbeitet mit Elektrizität. Gegenüber der Dampfmaschine, der Lokomotive und der Schreibmaschine in Nietzsches Schriften[13] gehört der elektrische Antrieb durchaus zu gewissen zeitgenössischen, aber noch lange nicht alltagstauglichen Neuerungen. „Sowohl das Bett, als auch der Zeichner haben ihre eigene elektrische Batterie; das Bett braucht sie für sich selbst, der Zeichner für die Egge“, heißt es über den Antrieb. Die batteriegetriebenen Teile bewegen sich offenbar nach bestimmten Programmierungen oder Schaltplänen in einer „Ledermappe“, die durch ein „Räderwerk“ mechanisch und bei „mehr als hundert Männern“ seriell eingesetzt wurden. Die „elektrische Batterie“ verändert das ganze Modell der Schreibmaschine. Die Elektrizität ist um 1919 ein Faszinosum. Das ganze Leben wird sozusagen elektrifiziert. Denn erst 1887 hatte Emil Rathenau mit einigen anderen Unternehmern auf einem Hinterhof an der Chausseestraße in Berlin die Deutsche Edison-Gesellschaft für angewandte Elektricität gegründet, aus der der Weltkonzern AEG hervorging. Erst 1927 wird die maschinelle Produktionen von elektrischen Glühbirnen in Walter Ruthmanns Film Berlin – Sinfonie einer Großstadt zum Bildgenre und 1928 komponiert Kurt Weil den Berlin im Licht-Song, was die Elektrizität in eine andere Wahrnehmung rückt. Die elektrischen Lichtreklamen, Straßenbeleuchtungen und Verkehrsampeln etc. verwandeln die Nachtruhe in der Stadt in ein quirliges Nachtleben.
Mit der Elektrizität taucht in dem Verhältnis von Mensch und Maschine zugleich ein neuartiges Zittern auf. Kafkas „Zittern“ des „Bettes“ wie der „Egge“ winkt hinüber zu jenen Schreib- und Zeiterfassungsapparaten kurz nach der Jahrhundertwende, mit denen z. B. psychologisch die Fabrikarbeit organisiert wurde. Mit der „Arbeitsschauuhr“ von Walther Poppelreuter kann seit 1918 das Arbeiten aufgezeichnet und gemessen werden.[14] Binnen weniger Jahre wurde die patentierte „Arbeitsschauuhr“ von Kienzle Taxameter und Apparate AG in großer Zahl gebaut und vertrieben.[15] Paradoxer Weise „zittert“ bei Kafka das „Bett“ „in winzigen, sehr schnellen Zuckungen gleichzeitig seitlich, wie auch auf und ab“. In den neuen arbeitspsychologischen Apparaten „zittern“ die Stifte über eine Papierrolle. Es ist, als transformiere der Angestellte der „Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt“ sein juristisches und technologisches Fachwissen in paradoxe Funktionen und Umschaltungen von Apparaten.
Kafka war beruflich mit den Technologien seiner Zeit wie „Automobilbetrieben“ und „landwirtschaftlichen Maschinenbetrieben“ vertraut, wie seine beiden Aufsätze im Jahresbericht der AUVA für 1908 vom April 1909 zeigen.[16] Im Wintersemester 1909 besuchte Kafka „zu seiner beruflichen Fortbildung an der deutschen technischen Hochschule die morgendlichen Vorlesungen von Prof. Mikolaschek über mechanische Technologie“.[17] Unter anderem veröffentlichte „Ing. Karl Mikolaschek“ 1919 den zweiten Teil seiner Maschinenkunde für Webschulen über „Motoren und elektrische Beleuchtung“. Der Offizier-Maschinist in der Erzählung verweist zwar auf „ähnliche Apparate in Heilanstalten“, wird aber nicht so konkret, die Unähnlichkeit zu bestimmen. Worum geht es bei den Technologien, die den Versicherungsbereich berühren und eine gewisse Sachkenntnis für die Berechnung von „Versicherungsbeiträgen“ erfordern?
Wir wissen nicht, welche Maschinen Kafka wie gut kannte. Immerhin hatte er durch den Besuch der Vorlesungen von Mikolaschek ein gewisses Fachwissen gehört. Doch die schier aberwitzige und imaginäre Konstruktion der Schreib-Tötungsmaschine mit ihrem „Zittern“ nach unten und oben sowie seitlich findet ein Echo in Poppelreuters Schrift Die Arbeitsschauuhr. 1918 hatte er bereits „mehrfache Abänderungen“ an seinen „18 Modelle(n)“ vorgenommen, um nun sozusagen endlich eine sprachliche Form für die Konstruktion zu finden. Denn was der Offizier-Maschinist vom Apparat, seiner Konstruktion mit den Nadeln, Räderwerk aus Zahnrädern wie der Mechanik und seiner Funktionsweise zu erzählen vermag, lässt sich mitlesen in der „Arbeitsschauuhr“, wenn Poppelreuter schreibt:
In der Arbeitsschauuhr, s. Abb. 10, sieht man die übliche Schreibtrommel eines Registrierapparates: ein 13 cm breites Papierband wird von einer Vorratsrolle abgewickelt und nach links in einer Führung herüber geschoben, sodaß also das ganze entstehende Bild stets sichtbar bleibt. Die Schreibtrommel bewegt sich ruckweise durch ein elektromagnetisch gedrehtes Klinkrad mit Schneckenübersetzung (I). Die Geschwindigkeit regelt die Zuführung elektrischer Kontaktstöße, die von einer Kontaktuhr geliefert werden, etwa alle 1 oder 3 Sek. ein Ruck von 1/20 mm. Zur Schreibtrommel senkrecht angeordnet befindet sich ein Schreibstift in einer vertikalen Führung. Befindet sich dieser in Ruhe, so liegt er unten und verzeichnet auf der sich bewegenden Trommel eine horizontale Grundlinie. Dieser Schreibstift bildet das untere Ende einer Zahnradstange. Diese Zahnradstange kann ebenfalls durch ein Zahnrad und ein auf derselben Achse befindliches Klinkrad elektromagnetisch ruckweise gehoben werden, (II) also etwa alle Sek. 1/3 mm. Dieses Steigen geschieht aber nicht immer, sondern nur dann, wenn eine besondere Einrückvorrichtung (bei III angedeutet) bedient wird, wodurch das Klinkrad (II) das Zahnrad des Steigschreibers mitnimmt. Wird diese Einrückung aber ausgerückt, nachdem der Steiger gestiegen war, so fällt er von jedem erreichten Punkte seiner Schwere folgend auf die Nulllinie zurück.[18]
Ich breche hier das Zitat ab.
Die sprachlichen, lexikalischen Eigenheiten und ihr imaginäres Potential in der Beschreibung von „Klinkrad“, „Zahnrad“, „Kontaktuhr“, „Schreibtrommel“, „elektrische(n) Kontaktstöße(n)“, „elektromagnetisch ruckweise gehoben“, „Schneckenübersetzung“, „Zahnradstange“, „Steigschreiber“, „Steiger“, „Schreibstift“, die laut Poppelreuter in einer winzigen, hier vergrößerten „Abb. 10“ zu sehen sein sollen, sind mindestens so auffällig wie die imaginär aufgeladenen „volkstümlichen Bezeichnungen“ von „Zeichner“, „Egge“ und „Bett“. Und es lässt sich durchaus denken, dass Walther Poppelreuter, der sich mit der „Arbeitsschauuhr“ quasi habilitierte, mit ähnlichem Enthusiasmus wie dem des Offizier-Maschinisten von seinem Apparat sprach. Doch worum geht es bei der längst nicht vollständigen Konstruktionsbeschreibung? Poppelreuter formuliert sein Programm mit dem ersten Satz seiner bahnbrechenden Publikation:
Menschliche Arbeit, die in der Hervorbringung objektiver Leistungen besteht, ist genau ebenso der messenden, zählenden und damit naturgesetzlichen Untersuchung zugänglich, wie die Arbeitsleistungen von Maschinen.[19]
Den Schrecken in dieser Formulierung mit der Adjektiv-Adverb-Konstruktion „genau ebenso“ muss man lesen können. Was heißt es, wenn sich „(m)enschliche Arbeit“ ebenso messen lässt, „wie die Arbeitsleistungen von Maschinen“? Die „objektive(n) Leistungen“ von Menschen sollen gemessen werden können. Mit der „Arbeitsschauuhr“ geht es 1918 darum, die Menschen in den Fabriken in intelligente Maschinen zu verwandeln. – Gewiss lässt sich um 1918 die „Arbeitsschauuhr“ dem amerikanischen Fordismus oder Taylorismus zuschlagen. Doch die elektromagnetische „Arbeitsschauuhr“, mit der die Arbeit des Menschen in der Fabrik sichtbar, anschaubar, berechenbar gemacht werden soll, schreibt nicht nur mit dem „Schreibstift“ eine betriebswirtschaftliche Schrift, vielmehr gräbt sie sich in die Körper des Menschen als Fabrikarbeiter ein. Derart auf betriebswirtschaftliche Effizienz des Menschen bedacht, gehörte Walther Poppelreuter zu den ersten Professoren, die der NSDAP vor der Machtergreifung beitraten. „Am 1. November 1931 trat er als erster Bonner Hochschullehrer in die NSDAP ein (Nr. 695.703).“[20] Er starb 1939.
Torsten Flüh
[1] Franz Kafka: In der Strafkolonie. Erzählung (1919). In: Juristische Zeitgeschichte Abteilung 6, Band 44. Berlin: Walter de Gruyter, 2015, S. 8. Und Wikisource.
[2] Janet Cardiff & George Bures Miller: The Killing Machine und andere Geschichen 1995-2007. Berlin: Hatje Cantz, 2007, S. 189. https://www.cardiffmiller.com/artworks/inst/killing_machine_video.html
[3] Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 808-813. (Zeno)
[4] Andrea Rother berichtet von einem Brief an Ernst Rowohlt, den Kafka zuerst in seinem Tagebuch per Hand formulierte, um ihn danach „fast wortwörtlich mit der Schreibmaschine“ abzutippen. Andrea Rother: Die Tagebücher von Franz Kafka. Ein literarisches Laboratorium 1909-1923. Berlin (Dissertation Technische Universität Berlin), 2007, S. 86.
[5] Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. München: C.H. Beck, 2005, S. 480.
[6] Ebenda S. 481.
[7] E. R. Davely: The Broken Engine: A Study of Franz Kafka’s In der Strafkolonie. In: Journal of European Studies; Dec 1, 1984; 14, 4; S. 280.
[8] Jacques Derrida: Kraft und Bedeutung. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1989, S. 25.
[9] Peter-André Alt: Franz … [wie Anm. 5] S. 486.
[10] Ebenda S. 485.
[11] Siehe Anm. 4.
[12] Reiner Stach: Kafka von Tag zu Tag. Dokumentation aller Briefe, Tagebücher und Ereignisse. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2018, S. 82.
[13] Siehe: Torsten Flüh: Nietzsches „intelligente Maschinen“. Zur Intelligenz und Maschine bei Nietzsche, dem Technikmuseum Berlin und dem Riesen-Dampfhammer. In: NIGHT OUT @ BERLIN 19. Juli 2019.
[14] Walther Poppelreuter: Die Arbeitsschauuhr. Ein Beitrag zur praktischen Psychologie. Langensalza: Wendt, 1918.
[15] ARBEITSSCHAUUHR 1928 – 1935. LVR-Industriemusum.
[16] Reiner Stach: Kafka … [wie Anm. 12] S. 89.
[17] Ebenda S. 95.
[18] Walther Poppelreuter: Die … [wie Anm. 14] S. 13-14.
[19] Ebenda S. 1.
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