Berührt – Zu Ondřej Adámeks Where are You? und Ludwig van Beethovens 6. Symphonie

rwḥ – Gott – Gefühl

Berührt

Zur gefeierten Aufführung von Ondřej Adámeks Where are You? und der Pastorale von Beethoven mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle

Welch ein Konzert zu Rosch Haschana, zum Neujahr 5782! שנה טובה, Schana Towa, ein gutes, neues Jahr! Möge das neue Jahr alle vor einem weiteren Lockdown bewahren. Denn die Uraufführung von Ondřej Adámeks Where are You? musste am 6. März 2021 ohne Publikum und in reduzierter Besetzung in der Philharmonie in Gasteig München im Rahmen von musica viva mit dem Symphonie Orchester des Bayrischen Rundfunks als Livestream stattfinden. Gerade wenn das Stück mit nichts als dem erst kaum hörbaren, dann immer mehr anschwellendem Atem von Magdalena Kožená beginnt, der wie das aramäische rwḥ, das Wind und Geist heißen kann und auch im Hebräischen als rûaḥרוּ rwḥ חַ – gebraucht wird, einsetzt, wird die Gegenwart der Künstlerin unverzichtbar. Where are You? wurde am 7. September 2021 beim Musikfest Berlin eine Anrufung des Göttlichen und ein Covid-19-Requiem.

Sir Simon Rattle kombinierte das Stück des tschechischen Komponisten und Dirigenten mit der Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 von Ludwig van Beethoven, die als Pastorale bekannt geworden ist und die eine Gefühlslandschaft entwirft. Beethoven: Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande. (…) Szene am Bach. (…) Lustiges Zusammensein der Landleute. (…) Gewitter. Sturm. (…) Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. Die Dramaturgie der Sechsten könnte durchaus auf den September 2021 zumindest in Europa zutreffen, wenn nicht bei wenigstens 40 Prozent der Bevölkerung „Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“ fehlen würden. Doch wer nicht gänzlich unempfindlich war, musste von Simon Rattles Dirigat mit dem London Symphony Orchestra berührt werden. Rattle, der große Zauberer, weckte wenigstens ab dem 2. Satz, Gefühle der Dankbarkeit – und Trauer.

© Adam Janisch

Bislang ist kein Konzert des Musikfestes Berlin 2021 – und auch dessen von 2020 – so sehr in die noch immer global wütende Covid-19-Pandemie verwoben gewesen. Im September 2020 gab es nach der ersten Welle der Pandemie keimende Hoffnungen auf einen Impfstoff, doch längst noch keine berechtigten Erwartungen. Heute gibt es nicht nur einen wirksamen Impfstoff, sondern fast ein Dutzend zwischen russischem Sputnik, chinesischem Sinovac, kubanischem Abdalla für den Iran und deutsch-amerikanischem Comirnaty, worüber wiederholt berichtet wurde. Die Wirksamkeit ist unterschiedlich hoch, doch bislang gab es nur unglückliche Einzelfälle, bei denen Menschen durch die Impfung geschädigt wurden oder gar gestorben sind. Trotzdem gibt es in Orchestern wie in der Bevölkerung so besondere Individuen, die sich durch vermeintlich alternatives Wissen auf keinen Fall impfen lassen wollen. Im Konzert aber ging es um Nähe, Atmen wie Atem und nach dem aramäischen Peshita Manuskript um Awoon dwashmeya – our Dearest, You are everywhere.

© Adam Janisch

Kožená zelebriert das Atmen gleich einer Priesterin. In einer Zeit, in der nichts als das lebensnotwendige Atmen zu einer tödlichen Gefahr geworden ist – außer den Bläser*innen tragen alle Orchestermitglieder schwarze FFP2-Masken und das Publikum muss diese ebenfalls in der Philharmonie Berlin aufbehalten –, wird Ondřej Adámeks Komposition zu einem Zeitstück und Versprechen. Obwohl Adámeks Komposition 2020 entstanden ist, erwähnt die Musikjournalistin Martina Seeber in ihrem Essay für das Abendprogramm mit keinem Wort Sars-Cov-2 und die Pandemie.[1] Dabei wurde Tschechien mit 1,68 Mio. Fällen und 30.413 Todesopfern (9. September 2021) ab Oktober 2020 besonders heftig von der Pandemie betroffen. Geht es Adámek nur um ein Komposition, die losgelöst ist von historischen und sozialen Entstehungsbedingungen?

© Adam Janisch

Das zweite von elf Liedern beginnt auf Tschechisch mit der Frage: „Kde jsi?“ Magdalena Kožená, die in Brno (Brünn) geboren wurde und wo sie am Konservatorium Mezzosopran studierte, spricht Tschechisch. – Wo bist Du? – Die Frage und Suche nach Gott hat nicht nur die christliche Menschheit seit jeher in schweren Krisen und Kriegen bewegt. Zweifelsohne wurde von manch einer Regierungschef*in wie z. B. Emmanuel Macron „Corona“ der „Krieg“ erklärt. In Italien, in Bergamo, starben im März 2020 die Corona-Kranken ohne Sterbesakramente und viele Priester gleich mit. Soll der Militärkonvoi mit den Toten vom 18. März 2020, der im Fernseher und in den Zeitungen um die Welt ging, Adámek nicht bewegt haben? Die Pandemie hatte Ausmaße angenommen, die die Frage nach der Abwesenheit Gottes nicht nur für religiöse Menschen aufdrängte.

© Adam Janisch

Adámek verarbeitet und kombiniert für seinen Liederzyklus in Aramäisch, Tschechisch, Mährischem Dialekt, Spanisch, Englisch und Sanskrit für großes Symphonieorchester mit 4 Posaunen und dreiundzwanzig Streicher*innen Lieder unterschiedlicher Herkunft. Aus dem Atem und dem Atmen gehen die Sprachen hervor, die mit dem Gebrauch und der Kombination der Worte Erzählungen generieren. Adámek setzt bei diesem gleichsam schöpferischem Prozess an, indem er sich von alttestamentarischen Texten wie dem ersten Buch der König 19:11 inspirieren lässt. Dafür wird der Vers transformiert, um die eröffnende Frage zu formulieren.
11Der Herr sprach: Geh heraus und tritt hin auf den Berg von den HERRN! Und siehe, der HERR ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben.“

Das apokalyptische Szenario eines Windes, „der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach“, und eines Erdbebens zugleich, erschüttert alle Sicherheiten und alles Wissen. Der elfte Vers im neunzehnten Abschnitt des Buchs der König nimmt gegenüber dem aramäischen Manuskript mit seiner Ambiguität der ersten Worte eine Differenzierung vor. Denn רוּחַ, der „Wind“, bezeichnet nunmehr nicht zugleich den Geist und Gott. Vielmehr war „der HERR aber (…) nicht im Winde“. Die Allgegenwart Gottes wird angesichts katastrophischer Ereignisse ausdifferenziert. Denn noch im aramäischen Peshita Manuskript – „Awoon dwashmeya“ (unser Liebster, Du bist überall) – war auf monotheistische Weise eben diese behauptet worden.
„… blíž …                … close …
… nejblíž …             … closest …
náš Nejbližší            our closest
náš Nejdražší          our dearest
náš Nejdveˇrneˇjší   our most loyal
náš Nejduveˇrneˇjší our most confidential
Zroditeli náš            our birther
Vdechovateli náš      our inhaler
Stvorˇiteli náš         our creator
Dárce náš života nášeho our giver of our life
Vesmíre náš            our universe
Otcˇe náš               our Father
Matko náše             our Mother
Sílo života našeho    force of our life
Dechu náš              our breath
Duchu náš              our spirit“

© Adam Janisch

Die Ambiguität der ersten Worte des Awoon-Manuskripts wird vom Komponisten zu einem ersten Lied verarbeitet. Damit wird das Wissen von Gott zugleich vielfältig und porös. Adámek listet, sozusagen, die Bedeutung der ersten Worte auf, um die anfängliche Mehr- und Vieldeutigkeit durch die Übersetzung ins Tschechische auditiv darzustellen. Das lässt sich sowohl als eine philologische Geste wie eine auditive Montage verstehen. Es geht um die Entstehung von Musik aus dem Atem. Dieser wird nicht nur von der Mezzosopranistin hörbar gemacht, er findet auch im Orchester auf einzelnen Instrumenten ein Echo. Wo beginnt die Musik? Der polylinguale Ansatz des Liederzyklus‘ lässt sich nicht nur als eine Kombinatorik auffassen, vielmehr gibt er einen Wink auf die Musik in mehreren Sprachen als Forschung. Adámeks Komposition präsentiert nicht einfach Wissen über das Göttliche, stattdessen forscht er ihm in mehreren Kulturen nach und spielt deren Elemente in den elf Liedern durch:
“I.      Slotha – setting a trap for divine
II.      Where are You?
III.     Peter sent me back
IV.      Sharp point
V.       Saeta
VI.      Confession
VII.    Ecstasy
VIII.   Levitation
IX.      You are not there
X.       Gentle whisper
XI.      Everywhere“  

Die elf Teile des Liederzyklus entwickeln eine Dramaturgie des Göttlichen. „Setting a trap for divine“ wird im Programmheft der Uraufführung mit „Das Göttliche einfangen“ übersetzt.[2] Doch wörtlich müsste man es eher mehrdeutig, mit dem Göttlichen eine Falle stellen, übersetzt werden. Was das Göttliche ist, bleibt in Ondřej Adámeks Where are You? offen. In der polylingualen Dramaturgie werden allerdings zwischen der Frage und dem „Everywhere“ Modi der göttlichen Erfahrung zwischen „Petrus schickte mich wieder fort“ über „Scharfe Spitze“ und „Pfeil“ über „Bekenntnis/Beichte/Geständnis“ (Confession) und „Ekstase“ und „Schwebe“ bis zu einem buddhistischen „Überall“ entfaltet. Insbesondere das mährische Volkslied über Petrus trägt komische, wenn nicht ironische Züge, wenn es heißt: „Wer Wein trinkt/und Musiker bezahlt,/der kommt in den Himmel,/heilige Engel, alle mit Hörnern, bringen ihn dorthin.“ Ironischer Weise greift die Sängerin auch gegen Schluss zu einem Megafon, als genüge ihr singen nicht, um verstanden zu werden. Adámek spielt insofern verschiedene Artikulationsweisen und Modi des Göttlichen durch. Levitation/Schwebe bleibt bezeichnenderweise rein instrumental, weil sie sich schwer artikulieren lässt. Um das Göttliche erfahrbar zu machen, kann Sprache eine Barriere sein.

© Adam Janisch

Wenn Sir Simon Rattle dirigiert und Magdalena Kožená singt, dann darf man von einer hohen Intensität ausgehen. Ob Bachs Matthäus Passion[3] oder das finale Waldbühnenkonzert[4], nie wird das Konzert etwa nur unterhaltend. Rattle analysiert die Werke, die er dirigiert, genau. Und Where are You? ist sogar ihm und Magdalena Kožená neben Iris vom Komponisten gewidmet. Hatte er bei der Uraufführung im März mit dem Symphonieorchester des Bayrischen Rundfunks Olivier Messiaens Et exspecto resurrectionem mortuorum als Auferstehungsversprechen Where are You? zur Seite gestellt, so folgte nun Beethovens Pastorale, die eine ganz andere Form des Göttlichen in der Landschaft und den Gefühlen ankündigt und zelebriert. Während es bei Adámek um eine intensive Befragung und ein Suchen nach dem Göttlichen geht, entwirft Ludwig van Beethoven eine panoramatische Landschaft der Klänge, Signale etwa der Jagd und Gefühle als Seelsorge.

Die bürgerliche Seele soll im Konzertsaal erheitert, beruhigt, aufgewühlt und befriedet werden. So ließen sich Beethovens Satztitel lesen. Das „Land“ wird 1807/08 bei Beethoven zum Sehnsuchtsort einer bürgerlichen Stadtgesellschaft, die gleichwohl mit den Widmungen an den Fürsten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz und dem russischen Grafen Rasumowski anempfohlen wird. Gefühle machen Geschichte und Gefühle haben Geschichte, wie Benno Gammerl in Anknüpfung an Ute Frevert sagen würde.[5] Gefühle sind nicht geschichtslos oder immer die gleichen. Die Geschichten können sehr persönlich und kaum artikulierbar, erzählbar sein oder sie werden in einem bestimmbaren Zeitraum, durch bestimmte, oft neuartige Medien geweckt wie der Hass in sogenannten sozialen Medien. Gefühle müssen allerdings auch geweckt und angesprochen werden. Beethoven verwandelt 1807/08 Landschaften in Empfindungen und „Frohe und dankbare Gefühle“. Das gelingt ihm durch Klangfarben und Melodien.

Allerdings bedarf es eines Dirigenten und eines Orchesters, der die Klangfarben und Melodien intensiv herauszuarbeiten versteht. Schon im zweiten Satz – „Szene am Bach“ – übermannte den Berichterstatter ein durch und durch geschichtliches Gefühl der Dankbarkeit vermischt mit einem Glücksgefühl, die Musik so konzentriert hören zu dürfen und zu können. Zum ersten Mal seit über 18 Monaten hörte er in der Philharmonie wieder ein großes und großartiges Symphonieorchester. Wie sehr er es vermisst hatte, was genau er vermisst hatte und warum es gerade Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra gelang, diese Gefühlsschicht so intensiv anzusprechen, lässt sich schwer sagen. Denn er hatte die 6. Symphonie von Beethoven schon oft gehört. Doch niemals weckte sie derart intensive Gefühle. Ein Geschenk.

Torsten Flüh

Musikfest Berlin 2021
bis 20. September 2021


London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle
Adámek | Beethoven
On Demand bis 18. September 2021, 16:00 Uhr    


[1] Martina Seeber: Die Suche nach dem Göttlichen jenseits der Religionsgrenzen. In: Musikfest Berlin (Hg.): London Symphony Orchestra – Sir Simon Rattle – Adámek | Beethoven 07.09.2021.

[2] Bayrischer Rundfunk/musica nova (Hg.): Philharmonie im Gasteig, Samstag, 6. März 2021, S. 16.

[3] Siehe Torsten Flüh: Ein Licht in der Dunkelheit. Zu Bachs Matthäus-Passion als Eröffnung der Festtage in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN Oktober 21, 2013 00:16.

[4] Siehe Torsten Flüh: Zum Finale ein Feuerwerk der Ironie. Das Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker als Finale der Ära Rattle. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juni 27, 2018 21:18.

[5] Siehe Torsten Flüh: Gefühlsechte Geschichte/n. Zur Queer Lecture und Buchvorstellung von ANDERS FÜHLEN im taz TALK mit Jan Feddersen und Benno Gammerl. In: NIGHT OUT @ BERLIN 23. April 2021.

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