Luft – Konzertpraxis – Fanfare
BärCODE für die Berliner Luft
Zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne
Wenn der Berliner Bär losgelassen wird, dann hält das Publikum des Waldbühnenkonzertes der Berliner Philharmoniker nichts mehr. Als zweite Zugabe wird alljährlich „Ja jaa, ja jaa, ja ja ja ja / Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft / So mit ihrem holden Duft, Duft, Duft / Wo nur selten was verpufft, pufft, pufft“ angestimmt. Obwohl die Freiluftbühne nur mit 6.150, einem Bruchteil der 22.000 Plätze wegen der Covid-19-Pandemie besetzt werden durfte, stimmten ein paar Tausend Konzertbesucher*innen am 26. Juni 2021 gegen 22:00 Uhr wieder den Gassenhauer leidenschaftlich an. Das Waldbühnenkonzert ist ein soziokultureller Seismograph. Was passiert gerade in der Gesellschaft? 2020 musste es abgesagt werden. Jetzt ließen sich wenigstens Hunderte zu einem aerosolträchtigen „verpufft, pufft, pufft“ hinreißen. Die wiederholten Plosive p und t kombiniert mit dem wiederholten Frikativ f versprühten bei der Artikulation enthusiasmiert ganze Aerosolwolken, um nicht von Aerosolbomben zu sprechen.
Die Menschen kommen wegen der hochkarätig aufgeführten Musik zum Saisonabschlusskonzert der Berliner Philharmoniker. Ein Stardirigent, in diesem Jahr Wayne Marshall, dirigiert eines der besten Orchester der Welt, eine Weltmarke nicht zuletzt mit der Digital Concert Hall, die schon lange vor der Covid-19-Pandemie eingerichtet wurde, mit einer herausragenden Solist*in, Martin Grubinger am Schlagzeug. Damit war schon einmal alles anders, weil noch nie ein Schlagzeuger von Weltformat Solist eines Saisonabschlusskonzertes gewesen war. Jazz statt Romantik, Amerika und das Weltall statt z. B. Italien standen mit Leonard Bernstein, John Williams und George Gershwin auf dem Programm. Weltklasse war garantiert dank „BärCODE only“. Bei der letztlich doch durch die Antigentests ein Restrisiko von 2% bis 20% blieb. Vor dem Einlass mahnte an George Orwells Zukunftsroman 1984 erinnernd eine Stimme: „Kein Zutritt für Personen mit Krankheitssymptomen wie Fieber, Schnupfen oder Husten.“
Bei keinem vom öffentlich-rechtlichen RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg) übertragenen und aufgezeichneten Waldbühnenkonzert vor 2020 wurde jemals an Aerosole gedacht – „verpufft, pufft, pufft“. Ihretwegen musste das Waldbühnenkonzert 2020 abgesagt werden, weil im Juni noch Reisebeschränkungen galten. Am 25. Juni 2020 galt laut Google für Schleswig-Holstein: „Urlauber aus deutschen Corona-Hotspots müssen nach Einreise in Schleswig-Holstein für zwei Wochen in Quarantäne – es sei denn, sie können einen negativen Corona-Test vorlegen.“ Natürlich ist das Saisonabschlusskonzert ein internationales, nicht zuletzt touristisches Großereignis, das i.d.R. restlos ausverkauft ist. Mit Bussen werden normalerweise tausende Konzertbesucher*innen aus ganz Deutschland, Europa und der Welt herangefahren. Deshalb war das Konzert nun ein Ereignis, das global gesehen immer noch unvorstellbar ist. Touristen aus z. B. Japan, Taiwan oder den USA gibt es immer noch nicht wieder, weil Deutschland bis vor kurzem als Hochrisikogebiet galt. Ganz Europa gilt für z. B. Taiwaner*innen weiterhin als Hochrisikogebiet. Erst am 17. Juni konnte durch „BärCODE only“ die Veranstaltung sichergestellt werden.
Es kamen überwiegend Menschen aus Berlin und Brandenburg mit personalisiertem Ticket und vollem Impfnachweis bzw. negativem Antigentest zur Waldbühne. Die Waldbühnenkonzerte sind in den letzten Jahren zu einer Hochsicherheitsveranstaltung geworden. Das ist nicht nur soziokulturell interessant, vielmehr lässt sich an dem Veranstaltungsformat Waldbühne ablesen, wie sich wenigstens in den letzten 10 Jahren durch Künstliche Intelligenz als digitales Wissen von der Schwarmintelligenz bis zum „BärCODE“ das Veranstaltungsformat verändert hat. Nicht nur das Konzertprogramm hat sich verschoben, vielmehr hat sich auch dessen Rahmung medial verändert. Gebots- und Verbotsschilder wie die „Hygieneregeln“ begleiten heute die Besucher*innen zu ihren Plätzen, während noch vor nicht einmal 10 Jahren mit großem Picknickkorb und Plaid einem englischen Lifestyle nachgeeifert wurde.
„Saisonabschlusskonzert
Berliner Philharmoniker
Halten Sie bitte folgendes für die Einlasskontrolle bereit:
Testergebnis-BärCODE oder
digitaler Impfnachweis oder
Impfnachweis-BärCODE
personalisierte Eintrittskarte
gültigen Personalausweis
Taschen nicht größer als DIN A4
Vielen Dank und viel Vergnügen!“
2011 wurde in Anknüpfung an die Verhaltensforschung mit dem digitalen Wissen von der Schwarmintelligenz gesprochen. In letzter Minute musste das Konzert abgesagt werden, weil Regengüsse die Zuschauer, Musiker und ihre Instrumente gefährdeten. 10.000 oder mehr bereits eingelassene Konzertbesucher*innen in Regencapes mussten unter Einsatz von Schwarmintelligenz sicher aus der Waldbühne entfernt werden.[1] Nach mehreren terroristischen Anschlägen wie denen vom 13. November 2015 auf das Stade de France während des Freundschaftsspiels Frankreich gegen Deutschland und das Bataclan sind seit 2016 Picknickkörbe und Taschen über einem Format DIN A4 beim Konzert der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne verboten. Der Stardirigent Yannick Nézet-Séguin, mittlerweile Chef der New Yorker Met, posierte mit der Stargeigerin Lisa Batiashvili für sein Facebook-Konto vor der beeindruckenden Kulisse und trat im Trikot der deutschen Nationalmannschaft während der Europameisterschaft auf die Bühne, während ein Teil des Publikums erstmals in der Manege picknickte ohne größere Picknickkörbe.[2] Selbst bei Regen waren 2017 beim Konzert mit Gustavo Dudamel als Dirigent keine Sitzreihen in der Manege vor der Bühne aufgebaut.[3] In diesem Jahr standen erstmals aus Sicherheitsgründen Stuhlreihen in der Manege. Eine Pause für die Erdbeerbowle gab es nicht.
Das soziokulturelle Sicherheitskonzept 2021 hieß als Pilotprojekt „BärCODE only“. Die Covid-19-Pandemie hat die Konzert-, Opern- und Theaterkultur mehr verändert als 9/11 und Bataclan zusammen. Das ist nicht unbegründet, vielmehr sehr genau konzipiert. Es gibt zur Zeit keine Pause in den Theatern, während doch die Pause mit oder ohne dem reservierten Stehtisch zum Opernabend gehört wie der Dirigent*innenstab. Damit „man“ gesehen werden kann und die anderen sieht, gehört die Pause spätestens seit dem 19. Jahrhundert zur kulturellen Praxis z.B. eines Konzertbesuchs. BärCODE only spielt auf das Wappentier von Berlin, dem Bären, an, popularisiert den technisch-digitalen Barcode und führt ein engmaschiges Sicherheitskonzept für Veranstaltungen ein.
„Der BärCODE ist eine digitale Version von „Siegel und Unterschrift“, der für jeden negativen Corona-Test in Berlin digital erstellt und mittels eines Barcodes einfach mit Mobilgeräten geprüft werden kann“, erklärt Roland Eils. Harald Wagener ergänzt: „Mithilfe der Proof-of-No-Covid Infrastruktur („PoNCi“) werden die BärCODEs auf Basis der Testdaten und dem Signaturschlüssel in den Teststellen erzeugt und digital fälschungssicher als Grafik auf dem Befund eingebunden. Bei der Einlasskontrolle scannt der Veranstalter den BärCODE mittels einer Prüf-App und erhält die Bestätigung, dass die Informationen korrekt und digital signiert sind.“[4]
Bislang – Dienstagnachmittag – sind keine Infektionen im Zusammenhang mit dem Waldbühnenkonzert bekannt geworden. Per E-Mail-Umfrage wird das Event ausgewertet. Das Berliner Pilotprojekt, das der Senator für Kultur und Europa, Dr. Klaus Lederer, unterstützt, ist mit einem anderen Wort eine digitale Versuchsanordnung. Lederer bedankte sich bei den Kolleginnen und Kollegen von BIH und Charité dafür, dass „sinnvolle, sichere und verlässliche digitale Infrastruktur geschaffen werden kann, die den Berlinerinnen und Berlinern nicht noch eine neue App aufbürdet und dennoch mehr Sicherheit im Umgang mit der Pandemie bietet“.[5] Zusätzlich wurde ein genauer Konzertablauf entwickelt. Abgesehen von der FFP2-Maskenpflicht auf dem Gelände der Waldbühne, die nur auf dem Sitzplatz selbst entfiel, wurde ein Nester-Konzept entwickelt, das sich z.B. in den Stadien der UEFA nicht beobachten und beim ziemlich gefüllten Wembley-Stadion doch ein wenig erschauern ließ.
„Es werden 1er-, 2er-, 3er- und 4er-Sitzplatz-Nester angeboten, die Sie nach Anzahl Ihrer Besuchergruppe buchen können. In jedem Sitzplatz-Nest dürfen nur Personen aus dem engsten Angehörigenkreis Platz nehmen. Mit der Buchung der Sitzplatz-Nester erklären Sie verbindlich, dass sämtliche Personen eines Sitzplatz-Nests auch zu einem engsten Angehörigenkreis gehören.“[6]
Das Sitzplatz-Nest wird bestimmt in die Liste der Corona-Wörter bzw. das Glossar zu COVID-19 eingehen, das bereits im Februar vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache für 2020 auf 1.200 veranschlagt wurde.[7] BärCODE, Proof-of-No-Covid (PoNCi), Prüf-App und Sitzplatz-Nest dürften das Glossar erweitern. Wahrscheinlich wurden in der Menschheitsgeschichte nie zuvor so schnell und so viele Begriffe neu formuliert, kombiniert oder umgewandelt wie in den letzten 16 Monaten. In den soziokulturellen Bereich fällt auch die erstaunliche sprachliche Dynamik, die das Paradox eines 1er-Sitzplatz-Nestes nicht ausschließt. Denn ein Nest wird mindestens mit einem anderen Lebewesen der gleichen Gattung geteilt. Doch bei dem neuen Kompositum Sitzplatz-Nest geht es wohl gar nicht so sehr darum, dass sich mehrere Personen aus dem engsten Angehörigenkreis ein Netz gemütlich teilen, als vielmehr darum, dass der Begriff Nest Geborgenheit und Sicherheit vermittelt. Die aufgestellten und im kostenlosen Programm abgedruckten „Hinweise für Ihren Konzertbesuch“ umfassen 6 Punkte, die ein umfassendes Reglement für diesen vorschreiben. Nie zuvor wurde eine Praxis des Konzertbesuchs stärker umgeschrieben und reglementiert.
„Der Verzehr von Speisen und Getränken ist nur am Sitzplatz gestattet.“[8]
Wayne Marshall begrüßte den Ersten Geiger noch mit einem verzögerten Handschlag, nachdem vom Geiger der Faustgruß als seit der Pandemie hygienischerer Begrüßungspraxis angedeutet worden war.[9] Martin Grubinger besteht hingegen bei seinem Auftritt auf den Faustgruß mit dem Orchestervertreter. Doch vielleicht liegt dem Ausnahmeschlagzeuger der Faustgruß auch mehr, der nicht erst für die Pandemie entwickelt wurde. Vielmehr wurde der „Fist bump“ nach einigen Quellen schon von Barack Obama als Präsident vor 2016 quasi salonfähig gemacht, wie es Obama’s finest fist bumps von CNN zeigt.[10] Der Faustgruß hat somit durch die Covid-19-Pandemie einen Bedeutungswandel erfahren. Die Eröffnungsszene der Begrüßung mit Wayne Marshall gibt einerseits einen Wink wie die pandemischen Wissensformationen, die unser Handeln immer noch zutiefst strukturieren, zu kleinen, kaum wahrnehmbaren Wissenskollisionen führen. Andererseits fühlt sich Marshall so sehr den Begrüßungspraktiken des internationalen Konzertbetriebes verhaftet, dass er den Faustgruß nicht erwidert.
Zwei Stücke von Leonard Bernstein – Three Dance Episodes aus dem Musical On the Town (1944) und On the Waterfront, Symphonische Suite (1955) – rahmten die Suite Special Edition mit Musik von John Williams für Solopercussion und großes Orchester (2021) von Martin Grubinger senior und der Rhapsody in Blue für Klavier und Orchester von George Gershwin (1924). Bei der Special Edition mit großem Orchester handelte es sich um eine Deutsche Erstaufführung. Angekündigt wurde die Suite mit ca. 20 Minuten. Doch Martin Grubinger trommelte, spielte Marimbaphone und Pauke gut 32 Minuten. Grubinger legte sich mit Orchester und seinem Percussion-Ensemble sozusagen mächtig ins Zeug. Doch zunächst ließ sich mit den Three Dance Episodes von Bernstein unter der Leitung von Wayne Marshall die hohe musikalische Qualität in der Komposition des jungen Komponisten beobachten. In der Komposition knüpft der 26jährige Bernstein insbesondere in Times Square 1944 an die Großstadt- und Maschinenmusik von Edgar Vareses Amériques von 1926 an.[11]
John Williams Filmmusik hat die Fanfare zur symphonischen Form ausgebaut. Zwar bestehen seine Filmmusiken nicht ausschließlich aus Fanfaren, aber Williams hat auffällig häufig, wenn nicht gar einzigartig oft in der Musikgeschichte Fanfaren komponiert. Die Fanfare für die Blockbuster-Filme der Star Wars-Episoden gehört sicher zu den bekanntesten. Sie kündigt die Kriege im Universum an. 2020 erhielt Williams einen Grammy für Star Wars: Galaxy’s Edge Symphonic Suite. Die Fanfare zeichnet sich instrumental durch die Kombination von meistens Trompeten und Schlagzeug, sehr oft Pauken aus. Offizielle Anlässe und Feiern werden durch eine Fanfare angekündigt und gerahmt. Sie sollen sich zur Wiedererkennung ins Gedächtnis einbrennen. Williams hat nicht nur für die Olympischen Spiele in Los Angeles, Seoul, Atlanta und Salt Lake City die Fanfaren komponiert. Vielmehr schrieb er seit 1980 ebenso die Jubilee 350 Fanfare, die Liberty Fanfare, die Fanfare für Michael Dukakis und 2012 die Fanfare for Fanway. Musikhistorisch ist es fast zwangsläufig, dass Martin Grubinger senior John Williams‘ fanfarenreiches Musikwerk entdecken musste, um für seinen Sohn die Suite John Williams: Special Edition zu schreiben, mit der dieser sein nicht nur musikalisches, vielmehr noch akrobatisches Können am Schlagzeug abfeiern kann.
Martin Grubinger brilliert nicht nur mit John Williams: Special Edition, er versetzte das Waldbühnenpublikum in rasende Begeisterung mit Zwischenapplaus. Virtuos wechselt Grubinger zwischen den unterschiedlichen Schlagzeugen, die aus verschiedenen Kulturkreisen stammen, um mit den verschiedenen Klangfarben ein rhythmisches Feuerwerk zu entfachen. Das große Orchester, die Berliner Philharmoniker, gerät in den Hintergrund, um allein dem Solisten seine Möglichkeiten zu bieten. Das Crescendo als musikalische Steigerung wird ebenso häufig eingebaut wie ein Anstieg zu atemberaubender Schnelligkeit der Schlagzahl. Wechselnde Rhythmen dominieren die Suite bis zur Ekstase, wobei gerade der Rhythmuswechsel eine besondere technische Herausforderung für den Percussionisten darsellt. Martin Grubinger senior hat nicht einfach die Kompositionen von John Williams arrangiert, um Wiedererkennung zu ermöglichen. Vielmehr hat er die verschiedenen Kompositionen hinsichtlich ihrer Dynamik gesteigert, so dass nur noch ein Bravo-Ausbruch des Publikums bleibt.
Mit über 30 Minuten setzt die Suite recht hohe Maßstäbe. Denn die Dauer muss erst einmal mit ihren ständigen Steigerungen und Wechseln durchgehalten und gefüllt werden. Die Suite als musikalische Form ist lediglich eine Abfolge jener Musikstücke von John Williams, die auf das Schlagzeug fokussiert werden. Es gibt in der Suite keine thematischen Bezugnahmen und Variationen. Darauf setzt Martin Grubinger senior mit seiner Komposition. Die fanfarenreiche Musik ist letztlich auf eine fast schon manipulative Wirkung angelegt. Gleichzeitig strukturiert die Form der Fanfare heutzutage nahezu jeden Computer- und Mobile-Start als Jingle oder markenrechtlich geschützte Klangmarke. Denn die Fanfare funktioniert nicht nur als ein akustisches Erkennungszeichen, vielmehr noch führt sie seit ihrer Verwendung bei der Jagd die Jäger zusammen, um eine Gemeinschaft zu bilden. Die Fanfare hatte denn auch eine gewisse Blüte im Rundfunk des Faschismus und des Deutschen Reichs. Sie soll Gefühle des Aufbruchs und der Jagd wecken. Um nicht zu nah an diesen problematischen Gebrauch der Fanfare zu geraten, achtet Grubinger auf eine deutliche Nuancierung. Die Fanfare, wie sie von John Williams immer wieder neu kombiniert und komponiert worden ist, erzeugt letztlich genau jenen Jubel für den Virtuosen, der dem Akrobaten gilt. Denn nicht zuletzt wird die Fanfare besonders gern im Zirkus eingesetzt.
Die Rhapsodie in Blue von George Gershwin dirigierte Wayne Marshall vom Flügel aus, den er auch spielte. Gershwin kombiniert Jazz mit Blues und Sinfonik für seinen weltbekannten Hit. Damit werden 1924 nicht zuletzt der Jazz und Blues in die Form der Sinfonik überführt und für die Konzertbühne legitimiert. Nach dem mittlerweile umfangreichen Stand der Forschung zur Rhapsodie sind es vor allem praktische Experimente, die letztlich zur Partitur für Klavier und Orchester führten. Die Kompositionspraxis folgt insofern keinem Kompositionsschema, sondern einem Ausprobieren und Kombinieren. Schon 1942 fand die Rhapsodie in Blue mit der Bearbeitung für Symphonieorchester von Ferde Grofè Eingang in die Musikliteratur für den Symphoniesaal. Insofern lässt sich mit der Komposition unterschiedlicher Musikpraktiken an diesem Stück eine oft als kitschig kritisierte Popularisierung von Symphoniemusik durch die Musikpraxis des Jazz und umgekehrt beobachten. Die Rhapsodie in Blue belegt eine Schnittstelle von Gefühlsmusik und kompositionstechnischer Ausarbeitung. Wayne Marshall widersteht in seiner Interpretation mit den Berliner Philharmonikern den allzu starken Gefühlen, obwohl die Bühne zu allem Überfluss in blaues Licht getaucht wurde.
Die Symphonische Suite On the Waterfront von Leonard Bernstein von 1955 ist eine Transformation seiner Musik zum gleichnamigen, preisgekrönten Film von Elia Kazan mit Marlon Brando, der 1954 in die Kinos kam.[12] Marlon Brando erhielt für seine Rolle des Tenny Malloy als männlicher Hauptdarsteller den Oskar für den Film, der als Faust im Nacken bekannt wurde. Die Symphonische Suite wurde 1955 von Bernstein in Tanglewood uraufgeführt. Einmal mehr ließ sich die besondere Qualität der Filmmusik hören. Doch deutlich anders als beim fanfarenfreudigen John Williams setzte Leonard Bernstein auf eine symphonische Klanglandschaft, die Gefühlstiefen auslotet – und zugleich musikalisch erzeugt. Das Thema der Ambivalenz und Zerrissenheit von Familie in der Konstellation von zwei Brüdern und einem Priester als Vaterfigur wird hier bereits angelegt und ausprobiert, um in dem Familiendrama A Quiet Place, das erst im November 2013 mit dem Ensemble Modern unter der Leitung von Kent Nagano im Konzerthaus postum zur Uraufführung gelangte, ausgearbeitet zu werden.[13] On the Waterfront nimmt in mancher Hinsicht voraus, was erst in A Quiet Place 1983 musikalisch stärker ausgespielt wird. Was im Film leicht als Untermalung überhört wird, kommt als Symphonische Suite ohne Worte zur Geltung.
Wayne Marshall hat sich als Dirigent von Stücken Leonard Bernsteins einen Namen gemacht. Denn noch immer wird Leonard Bernstein als einer der innovativsten Komponisten des 20. Jahrhunderts unterschätzt. Anders gesagt: Das waren keine leichten Amerikaner wie das Programm manchen erwarten ließ, sondern Symphoniemusik auf aller höchstem Niveau in Komposition wie Aufführung mit all jenen Innovationen, die ihr aus dem Jazz und Blues geschenkt wurden. In gewisser Weise gelingt es den Berliner Philharmonikern so zusammen mit der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt, dem auf die Berliner Luft fixierten Teil des Publikums ein fettes Bildungsprogramm unterzujubeln. Das darf man natürlich so nicht sagen. Doch die Faszination des Saisonabschlusskonzertes der Berliner Philharmoniker liegt in der intelligenten Kombination aus Großveranstaltung und untrüglichem Qualitätsanspruch. Das Waldbühnenkonzert hat mich bislang nie enttäuscht. Dieses war grandios!
Torsten Flüh
3SAT Mediathek
Die Berliner Philharmoniker live in der Waldbühne 2021.
bis 26.07.2021
Oder in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker
[1] Siehe: Torsten Flüh: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 4, 2011 20:54.
[2] Siehe: Torsten Flüh: Tschechische Klassik neu formatiert. Yannick Nézet-Séguins und Lisa Batiashvilis höchst bemerkenswertes Waldbühnenkonzert mit den Berliner Philharmonikern. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 2, 2016 20:48.
[3] Siehe: Torsten Flüh: Natur und Intelligenz bei Menschen, Göttern und Schwärmen. Gustavo Dudamel dirigiert Schumann und Wagner mit den Berliner Philharmonikern in der Waldbühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN Juli 13, 2017 15:22.
[4] BärCODE: Philharmonie-Konzert in der Waldbühne mit BIH BärCODE. BÄRCODE 17.06.21 10:15.
[5] Ebenda.
[6] Berliner Philharmoniker: Saisonabschluss der Berliner Philharmoniker in der Waldbühne: So läuft das Konzert ab. Online.
[7] Siehe: Torsten Flüh: Die Kontaktperson als Schnittstelle der Pandemie. Zu Thomas Oberenders Text Die Liste eines Jahres im Lichte einer kurzen Begriffsgeschichte. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Februar 2021.
[8] Berliner Philharmoniker: Waldbühne Berlin 26. Juni 2021. Berlin 2021.
[9] Siehe 3SAT Kultur: Die Berliner Philharmoniker live in der Waldbühne 2021. Mediathek bis 26.07.2021.
[10] CNN: Obama’s finest fist bumps 30.11.2016.
[11] Zu Amériques von Edgar Varese siehe: Torsten Flüh: History – berauscht von Geschichte. Edgar Varèses Amèriques und John Adams Nixon in China beim Musikfest 2012. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 12, 2012 17:28.
[12] Leonard Bernstein Office: Works | Film | On the Waterfront (1954) (online)
[13] Siehe zur Uraufführung: Torsten Flüh: Familientreffen amerikanisch. Zur Uraufführung von Leonard Bernsteins A Quiet Place im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 30, 2013 22:02.
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