Audiovisuelle Entgrenzung zur Verantwortung

Planetarium – Galerie – Immersion

Audiovisuelle Entgrenzung zur Verantwortung

Zu The New Infinity im Fulldome auf dem Mariannenplatz in Kreuzberg

Im Rahmen des Sonderprogramms Immersion der Berliner Festspiele ist ein mobiler Fulldome vor dem Künstlerhaus Bethanien gelandet, möchte man sagen. Der klimatisierte Fulldome, inflatable, doppelwandig, luftgefüllt aus schwer entflammbarer Zeltware mit mittiger Liegefläche und Liegeschalen in zwei Kreisen lädt ein zum Gemeinschaftserlebnis. Hier darf gekuschelt und geträumt werden. Auf die Innenhaut werden neue Filme von Agnieszka Polska, Metahaven und Robert Lippok & Lucas Gutierrez projiziert. Eintauchen. Schwerelos, ein wenig high werden. Hightech Animationen und Digital Arts entführen in die Gehirne der Künstlichen Intelligenz. Stay tuned, das Mischpult ist auf Entgrenzung eingestellt.

Die Liegehaltung ist wichtig. Stehend funktioniert die Kuppelschau nicht. Ich soll mich entspannen. Das gehört dazu. Eine sanfte Stimme in Agnieszka Polskas The Happiest Thought sagt, dass ich mich entspannen soll. Relax! Von der Stimme werden ich und die anderen mit den fließenden Filmbildern an die Grenze zur Halluzination geführt. Wir sind hier nicht in der Gemäldegalerie vor einem Bild, zu dem eine betrachtende Haltung aufgebaut werden kann. Das ist hier nicht die richtige Sehpraxis. Die passt nicht in den Kuppelraum. Selbst dann nicht, wenn Thomas Oberender im Programmheft die Frage formuliert „Sind Planetarien die Galerien der Zukunft?“. Die Liegehaltung macht einen Unterschied zur Sehpraxis in einer Galerie, in der wir aufrecht umherschlendern. The New Infinity auf dem Mariannenplatz findet an der Schnittstelle von Kunst, Technologie und Wissenschaft statt.    

Ein Foto, ein Still aus dem Film kann nicht die audiovisuell fallenden Schneeflocken in Metahavens Elektra vermitteln. Die beharrlich vom blauen (sic.) Himmel fallenden Schneeflocken schweben auf mich in der Liegeschale nieder. Sie fallen die ganze Zeit. Ich sehe, wie sie aus der Kuppelprojektion herunterfallen. Aber ich spüre sie nicht, sie fallen mir nicht auf das Gesicht. Ich werde nur audiovisuell eingeschneit. Wie sie erst winzige, unscharfe, weiße Punkte sind, um im Fallen größer zu werden, kann kein Foto zeigen oder vermitteln. Dabei ging es mit der Technologie des Zeiss-Planetariums vor 100 Jahren bereits darum, meinen Gesichtskreis in zunächst sitzender Position einzuhüllen. Neue Kunst für Planetarien lässt mit dem Kuppelraum die Datenbrille zum kollektiven Erlebnis werden.

Was ist ein Planetarium? Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, weil sich mehere Ebenen von Wissen, Maschine und von Anfang an audiovisuelle Inszenierung überschneiden. 2013 fand im Zeiss-Planetarium am Insulaner und in der Archenhold Sternwarte in Treptow die Tagung Weltinnenraum statt, worüber berichtet wurde. 2018 erschienen die „Wissensgeschichtliche(n) Studien“ Zum Planetarium von Boris Goesl, Hans-Christian von Herrmann und Kohei Suzuki als Herausgeber. In einem umfangeichen, gleichnamigen Artikel hat Hans-Christian von Herrmann vor allem auf die Überlagerung der „experimentelle(n) und (der) maschinellen Funktion im Projektionsplanetarium“ aufmerksam gemacht.[1] Das Planetarium ist auch eine Maschine. In Anknüpfung an den Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson schlägt er vor, dass „das Projektionsplanetarium als ein artifizieller ökologischer Raum beschrieben werden (kann), insofern es den Sternenhimmel um einen Beobachtungspunkt herum arrangiert, der von wirklichen Beobachtern eingenommen werden kann.“[2] Der „Beobachtungspunkt“ hat im Kuppelraum die Fläche, auf der sich die Besucher*innen liegend einfinden.

Das Sehen im Kuppelraum wird hinsichtlich der Körperhaltung in Zum Planetarium nicht näher thematisiert. Hans-Christian von Herrmann erwähnt sie nicht. Im Planetarium Hamburg saß man offenbar auf Stühlen bei der Eröffnung am 22. April 1930.[3] Das heißt auch, dass die Besucher*innen eine Haltung wie bei einem Vortrag um den Projektionsapparat einnahmen. Ein Dozent ausgestattet mit dem Zeiss-Projektor führte den Himmel mit seinen Sternen, Planeten und Sternbildern vor. Um den Sternenhimmel zu sehen, musste das Publikum den Kopf in den Nacken beugen. Die Mitte des „Beobachtungspunkt(s)“ war dem Projektor vorbehalten, doch die „Wahrnehmungssituation“ hatte sich im Vergleich mit früheren Planetarien verändert.

Mit der durch die Projektion ermöglichten Trennung von Mechanik und Bild, auf der das Zeiss-Planetarium basiert, wurden die ästhetischen Effekte der Atwood Sphere zugleich aufgegriffen und überboten. Man hatte es nun nicht mehr allein mit der technischen Reproduktion einer natürlichen Wahrnehmungssituation zu tun, sondern mit der Simulation von beliebigen, nach Raum und Zeit variablen Situationen für ein Betrachtersubjekt.[4]

Im Fulldome auf dem Mariannenplatz können die „Betrachtersubjekt(e)“ nun auf dem Rund in der Mitte entspannt liegen und wie Liebende in den (digitalen) Himmel blicken. Dieses Blicken wird tendenziell zu einem ohne Blick, d.h., ohne ein Wissen über die digital generierten Bewegungsbilder. Die Maschine der Kinematographie wie ϰίνημα kínēma, „Bewegung“, auch „Erschütterung“ und γράφειν gráphein, „schreiben“ hüllt das Gesichtsfeld ein. Ein astronomisches Wissen von den Sternen und Sternbildern ist nicht nur nicht erforderlich, vielmehr ist es geradezu unerwünscht. Denn die Orientierung, zu der die Unzahl der Sterne in Bilder gemustert wurde, soll, wie von Hermann schreibt, verloren gehen:

Über die Frage von Orientierung und Desorientierung bestimmt sich das Planetarium somit als ein künstliches Environment, das neben der Vermittlung von astronomischem Wissen immer auch die Immersion von Menschen (und Tieren) in eine optische Anordnung betrifft. Es ist, mit anderen Worten, ein Ort, an dem die (visuelle) Umwelt ihre Selbstverständlichkeit verliert und das, was zuvor in der Latenz verblieb, sich als experimentell explizierbar und technisch irritierbar erweist.[5]

Geht es bei The New Infinity um Orientierung? Die vermeintlich nebensächliche Frage nach der Körperhaltung im Fulldome, die sich erstens deutlich von den ersten Planetarien unterscheidet und zweitens hinsichtlich der Bestuhlung beharrlich in Richtung komfortabler, gepolsterter Liegesessel entwickelt hat, gibt zumindest einen Wink auf das Verhältnis von Wissenswunsch und Immersion. Die chefsesselartige Bestuhlung beispielsweise im Zeiss-Kleinplanetarium „Typ ZKP 2“ der Archenhold Sternwarte von 1982, also aus Zeiten der DDR, sollte nicht nur bequem sein.[6] „Typ ZKP 2“ als Name überschneidet sich offenbar nicht ungewollt mit „ZK“ wie Zentralkomitee. Die Bestuhlung vermittelt eine Teilhabe am machtvollen Wissen der Astronomie, das die Besucher*innen ebenso das Projekt der sowjetischen Raumfahrt imaginieren lässt.

Das ergonomische und audiovisuelle Design des mobilen Fulldome verschiebt den Wissenswunsch nicht nur in Richtung der Immersion, vielmehr wird er auch in Richtung einer Teilhabe am audiovisuellen Ereignis verrückt. Damit wird durchaus ein „astronomisches Wissen“ von einer „kollektive(n) Erlebnisform“[7] abgelöst. Die Bestuhlung als Design vermittelt insbesondere im „ZKP 2“ der Archenhold Sternwarte eine Exklusivität des astronomischen und astronautischen Wissens. Wer hier sitzt, gehört zur Elite der DDR oder weiß zumindest wie diese sitzt. Gleichzeitig wird der dreh- und neigbare Sessel zum Prototyp der heutigen Gaming Chairs. Das Design des inflatable Fulldome ist dagegen hierarchiefrei. Oder mit den Worten Jean Baudrillards:

Es gibt keine Bühne, keinen Abstand, keinen „Blick“ mehr: dies ist das Ende des Spektakels, des Spektakulären, es gibt nur noch das totale, fusionierende, taktile, ästhesische (und nicht mehr ästhetische) Environment.[8]

„The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“: Innenansicht des Domes auf dem Mariannenplatz
Foto: © Mathias Völzke

Trotzdem knüpfen die Künstler*innen an Wissensformationen an, die nicht gewusst werden müssen, um das audiovisuelle Ereignis zu genießen. Doch die Neuartigkeit des Ereignisses unterliegt trotzdem einem Wissen und seiner maschinellen Konstruktion. Allein schon die Bilder verdanken sich nicht nur der Rechner und Künstlichen Intelligenz, sondern knüpfen wie Agnieszka Polska mit dem „glücklichste(n) Gedanke(n)“ an Albert Einsteins „Grundgedanken“ der Relativitätstheorie an. Bettina Steinbrügge hat in ihrem Essay zu Agnieszka Polskas The Happiest Thought eine ganz eigene Textgattung der Kunstbetrachtung bzw. Kunstbeschreibung entwickelt, wenn sie schreibt:

Wie eine Hypnose führt uns die immersive Umgebung von einer Landschaft zur nächsten. Dasselbe lässt sich in gewissem Maße von allen Planetarien sagen, die jeher Tore zur Unendlichkeit der Sternenhimmel waren, indem sie einen Raum für das entgrenzte, gemeinschaftlich eintauchende Erleben der unendlichen Sternenhimmel erzeugten. So entfaltet auch Agnieszka Polskas Video in der Kuppel ein Moment, das uns über die Grenzen unserer Wahrnehmung hinaus und zur Unendlichkeit treibt.[9]

Agnieszka Polska: “The Happiest Thought”
Foto: © Agnieszka Polska

Die Videobeschreibung als Transformation der Bildbeschreibung knüpft zugleich an ein verkürzend popularisierendes Wissen vom Planetarium an. Denn es lässt sich keinesfalls mit Hans-Christian von Herrmann „in gewissem Maße von allen Planetarien sagen“, dass sie auf Immersion angelegt waren, weil sie wie „ZKP 2“ vor allem einem staatlich sanktionierten Wissen der Astronomie galten. Auf besondere Weise findet sich in der Archenhold Sternwarte die Schnittstelle von Berliner Gewerbeausstellung, Astronomie, seit 1970 die Forschungsabteilung für Astronomiegeschichte, Raumfahrt, Schulunterricht und Unterhaltung. Die besondere Kombinatorik von Projektion bzw. die optischen Zeiss-Projektoren und einem größeren Kuppelbau ermöglicht allererst Immersion als Vergessen einer geschulten Wahrnehmung. Im Hamburger Planetarium wird gar der Kuppelbau auf dem Wasserturm für das Wasserbassin in die Projektionsfläche für den „Himmel“ verwandelt.

Agnieszka Polska: “The Happiest Thought”
Foto: © Agnieszka Polska

Bettina Steinbrügge beschreibt Agnieszka Polskas Videokunst als eine Verknüpfung nicht nur audiovisuell ästhetischer Wissensfelder, sie macht vielmehr die Immersion zum Schauplatz von Politik und Gesellschaft. Insofern geht die Wahrnehmung und „Orientierung“ nicht nur tendenziell verloren in Hypnose und Immersion, sondern sie wird für andere Felder sensibilisiert. Das ist eine artifizielle Erweiterung der Möglichkeiten von Immersion. Denn nun soll über „Verantwortung“ nachgedacht werden. Es geht geradezu um eine Umlenkung der Wahrnehmung und ihrem Wissen durch Immersion, die in der Fulldome-Projektion indessen nicht so einfach mit dem „hypnotischen Gesang“ des US-amerikanischen Performancekünstlers Geo Wyeth wahrgenommen werden kann.

Als bildende Künstlerin nutzt Agnieszka Polska computergenerierte Bilder und digitale Medien, um über die Verantwortung nachzudenken. Sie versucht, den ethischen Zwiespalt unserer Zeit in halluzinatorischen Filmen und Installationen darzulegen. Dieser Gesamteindruck von ihrem Werk bestätigt sich auch in „The Happiest Thoughts“ – einer Betrachtung der Unfähigkeit unserer politischen Welt, Lösungen für unsere größten Bedrohungen zu finden, die das Ende der Menschheit bedeuten könnten, und zugleich Erörterung von Möglichkeiten, die uns tatsächlich gegeben sind, mit ihnen fertigzuwerden.[10]    

„The New Infinity. Neue Kunst für Planetarien“, Kuppelprojektion mit Metahavens Arbeit „Elektra“
Foto: © Mathias Völzke

Es können hier nun nicht alle planetar-immersiven Videokunststücke von The New Infinity besprochen werden. Obwohl sie im gleichen Design vorgeführt werden, unterscheiden sie sich sehr deutlich in ihren Produktionsweisen. Metahaven verknüpft in seinem „Videoessay“ Elektra „Animation und Realfilm“, während Kara-Lis Coverdale eine eigene Musik komponiert hat. Es schneit digital, sozusagen, ununterbrochen im Videoessay von Metahaven. Schnee im Bild lässt sich zumindest als eine permanente Irritation des Blicks beschreiben. Es schneit weiß, aber auch in einzelnen Einstellungen rot und grau.

In Metahavens jüngstem Werk „Elektra“ wird das Katzenwiegen- oder Abnehmspiel, bei dem man mit einem Faden zwischen den Fingern, Händen und Handgelenken eine Folge von Figuren flicht, zum Sinnbild der vergänglichen, verknoteten und provisorischen Natur unserer ineinander verflochtenen Lebensgeschichten, Gegenwarten und Zukünfte. Das Abnehmspiel ist zwar überall verbreitet, doch es fehlt ihm interessanterweise jeder universelle Anspruch.[11]

Metahavens Videoessay Elektra wird zu einem philosophischen und hoch artifizellen Bildklanggeflecht unter Anknüpfung an Donna Haraway, die das „Abnehmspiel“ zu einer Art sozialistisch-feministischen Welt- und Internetmodell transformiert hat, wenn sie schreibt, dass es „eine Art schreiben, zu spielen; ein spekulatives, fabulierendes Tun, eine Vorführung (ist), und immer spielen viele dabei mit. Es ist kollektives Schaffen-Mit.“[12] Cyber Theory und Gender Studies überschneiden sich auf solche Weise in Elektra. Wenn Luiza Prado im Programm Donna Harraways Internet-Credo der 90er Jahre „It cannot be owned, it can only be shared“ (S. 24) fett drucken lässt, dann schießt dieses doch um Lichtjahre am hochkommerzialisierten und durch Cyberkrieger durchfrästem Internet 2019 vorbei. Elektra wird zu einer ästhetischen Utopie, die den mittlerweile permanenten Angriffsmodus in den Galaxien des Internets verdeckt. – Oder ließe sich der sanft fallende Schnee als das Kriegsrauschen im Internet lesen?

Torsten Flüh

The New Infinity
Neue Kunst für Planetarien
Mariannenplatz
bis 22. September 2019  


[1] Hans-Christian von Herrmann: Zum Planetarium. In: Boris Goesl, Hans-Christian von Herrmann, Kohei Suzuki (Hg.): Zum Planetarium. Wissensgeschichtliche Studien. Paderborn: Wilhelm Fink, 2018, S. 25.

[2] Ebenda S. 28.

[3] Siehe Foto zu 1924-1930: Die Geschichte des Planetarium Hamburg. (Planetarium Hamburg)

[4] Hans-Christian von Herrmann: Zum … [wie 1] S. 21-22.

[5] Ebenda S. 32.

[6] Siehe: Foto zu „1980er Jahre |  Modernisierungen und Neubau des Zeiss-Großplanetariums in Prenzlauer Berg“ In: Geschichte Archenhold Sternwarte.

[7] Thomas Obereder, Thomas W. Kraupe: Sind Planetarien die Galerien der Zukunft? In: Berliner Festspiele: The New Infinity. Berlin 2019, S. 2.

[8] Jean Baudrillard zitiert nach ebenda S. 5.

[9] Bettina Steinbrügge: Am Horizont des Möglichen. In: Ebenda S. 11.

[10] Ebenda S. 14.

[11] Luiza Prado: Zarte Katastrophen. In: Ebenda S. 23.

[12] Donna Harraway: Modest_Witness@Second_Millennium.FemaleMan©_Meets_Oncomouse™. Routledge, New York 2018 (Zuerst 1996), S. 39.

2 Kommentare

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert