Maximalistic Queerness Mythology

Mythos – Queerness – Show

Maximalistic Queerness Mythology

Zu Taylor Macs & Matt Rays Europapremiere der umwerfenden Show Bark of Millions bei der Performing Arts Season

Die Europapremiere von Bark of Millions am 9. Oktober im Haus der Berliner Festspiele wurde frenetisch gefeiert. Taylor Mac und Matt Ray zauberten eine vierstündige, vielschichtige und funkelnde Show mit 54 Songs ohne Pause auf die Große Bühne des Hauses. Als begnadeter Entertainer moderierte Taylor Mac die Show zum Piano von Matt Ray als eine Show von queer lovers an. Das Publikum dürfe sich frei fühlen, während der Show den Zuschauerraum für einen Drink oder eine Zigarette verlassen oder zum Pinkeln gehen. Die Show sollte gleichsam eine Übung der Befreiung von einengenden Regeln sein. Queerness als Freiheitsversprechen. Bark of Millions wurde vom Sydney Opera House und von den Berliner Festspielen in Auftrag gegeben und von weiteren Stiftungen und Institutionen unterstützt. Im Oktober 2023 fand die Weltpremiere im ikonischen Sydney Opera House statt.

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Taylor Mac mit dem Pronomen Judy und die anderen Drag Queens der Show, Chris Giarmo, Dana Lyn, El Beh, Gary Wang, Greg Glassman, Jack Fuller, Joel E. Mateo, Machine Dazzle, Mama Alto, Matt Ray, Mel Hsu, Sean Donovan, Shirazette Tinnin, Steffanie Christi’an, Stephen Quinn, Taylor Mac, Viva DeConcini, Wes Olivier, machen dem Pronomen drag der Queens alle Ehre. Denn das mehrdeutige to drag heißt auch mitreißen. Sie reißen in ihren Roben von Machine Dazzle, was sich mit Glitzermaschine übersetzen ließe, und den Songs von Matt Ray das Publikum mit. Sie springen ins Publikum und verteilen Songtexte wie Bark of Millions: „The Bark of Millions/Brings the sun/Victorious Again.“ Das heißt zugleich, dass es nicht um das Bellen (bark) von Millionen, sondern um eine Barke für Millionen aus der ägyptischen Mythologie geht. Queerness als Mythologie für Millionen nach dem Gott Atum.

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Das Glitzern und die Sonne gehören in der revueartigen Show Bark of Millions zusammen. Damit die Kostüme, die Schminke und Strasssteine glitzern können, braucht es die Sonne oder wenigstens die künstlichen Sonnen der Scheinwerfer. Der zweite, titelgebende Song nach dem eröffnenden Atum – „I make myself … Crossing heaven on a vessel/Called the Bark of Millions” – rückt die Sonne ebenso wie die Selbstkreation programmatisch ins Interesse. Taylor Mac und Matt Ray verwerfen zwar den Anspruch Historiker, Lehrer oder Wissenschaftler sein zu wollen, aber sie schreiben, singen und performanen nicht weniger als eine unterhaltsame Mythologie der Queerness. Aus was schafft sich Atum, der später Re heißen und als Auge durch die Hieroglyphenschrift wandern wird?

© Fabian Schellhorn

Die Skizze im Fan Deck[1] mit allen Songs zeigt eine ägyptisch gewandete Person, Atum, mit einer Schlange auf sein Smartphone blickend. Obwohl sich Atum wohl eher aus Nichts als „genderneutrale Gottheit“ erschuf, sitzt er für Taylor Mac am Smartphone und scrollt sich durch Instagram, TicToc etc. Geschlechter und Vorbilder werden für die jungen Generationen über Social Media generiert. Geschlechterwechsel, Pronomen, Transformationen und Namensänderungen werden z. B. auf Facebook publiziert, debattiert und mit Likes versehen. Je nach Community und Grad der Öffentlichkeit kann es auch zu Hassattacken kommen. Atum am Smartphone gibt einen Wink auf Praktiken der Queerness und Feindseligkeiten gegen sie.

© Fabian Schellhorn

Die Übersetzungen der Hieroglyphe für Atum aus dem Alten Reich 2.700 bis 2.200 vor Christus variieren von Sprache zu Sprache. Im Deutschen wird ihm der Beiname „der sich selbst erschaffen hat“[2] gegeben, wobei bereits eine männliche Geschlechtung vorausgesetzt wird. Im Englischen wird die Hieroglyphe mit „to complete or to finish“[3] übersetzt und im Französischen wird die Genese ex nihilo verworfen und Atum als Masturbierer[4] beschrieben, ohne auf das Problem der Hieroglyphen einzugehen.  Die Darstellungen oder Verkörperungen des Atum reichen vom pharaonischen Gott über Schlange, Ichneumon, Widder, Löwe und Affe bis zum Skarabäus, Auge und Vogel. Erst durch seine Teilung entstehen die Geschlechter. Insofern wäre seine Genderneutralität eine Vorgeschlechtlichkeit. Die Vielgestaltigkeit gibt einen Wink auf das Problem der Geschlechtung, die mit Judys (Taylor Mac) queerer Geschlechtung durch Glatze und Glitter korrespondiert. Atums Herkunft aus nichts als aus sich selbst lässt sich ebenso mit der Ausdifferenzierung der Hieroglyphen über die Jahrtausende bedenken. Je weiter sich die Hieroglyphenschrift des Alten Reiches mit der 3. bis 6. Dynastie im Neuen Reich und bis zur 26. Dynastie ausdifferenziert, desto mehr Verkörperungen entstehen.[5]   

© Fabian Schellhorn

Atum ist durch unzählige Pharaonenfilme seit Beginn der Filmindustrie längst zu einem Popstar geworden. Taylor Mac knüpft insofern an einen Ägyptenmythos der Moderne an, mit dem seit Napoleons Ägyptenfeldzug von 1798 als Gegennarrativ zum monotheistischen Schöpfergott eine Schöpfung aus sich selbst ermöglicht wird.[6] Die Kostüme von Machine Dazzle machen aus den Drag Queens nicht einfach weibliche Göttinnen oder Hyperwomen, vielmehr werden die weiblichen Attribute der toupierten Frisuren, der aufgeklebten Wimpern, der ultraroten Lippen, der Mieder und Rüschen bis ins Groteske verstärkt und mit Schnurrbärten konterkariert. Die mythologische Barke, mit der seit Stonewall 1969 durch 54 Jahre queere Songs gesegelt und gesungen wird, erinnert nicht zuletzt an ein Narrenschiff der abweichenden Sexualitäten. Das Narrenschiff und die Parade als queere Aktionen ziehen sich durch die Show. Das lässt sich durchaus mit dem Untertitel der Show lesen:
„A Parade Trance Extravaganza for the Living Library of the Deviant Theme”

© Fabian Schellhorn

Von Atum bis Oscar Wilde und You & Me werden „queere Personen“ oder einfach Queers aufgerufen und in Songtexten verarbeitet, die eine große Bandbreite von Queerness vorschlagen. Mit Taylor Mac: „Something you heard/will hear in the show (but in case you miss it) is that each song in the piece was inspired by a different queer person from world history. Some you’ll know. Some you won’t. Sometimes we tell you the names. Sometimes we don’t. The intention is not to teach you about them, represent them, honour them (some are real assholes), or even acknowledge their existence. The intention is to ground our considerations (and songwriting) in queerness.”[7] Queerness wird auf diese Weise zu einer Praxis, Überzeugungen und Liedtexte zu generieren. Queerness muss nicht verstanden werden. Es kann sogar sein, dass sie Wissensformationen unterläuft. Die Namen der Queers aus der Weltgeschichte wie James Baldwin, Giovanni di Giovanni, Mary Shelley, Audre Lorde, Yukio Mishima oder Leonardo DaVinci werden in verschiedenen Liedgenres von Pop über Country und Arie etc. besungen.

© Fabian Schellhorn

Selbst mit 54 Songs in 4 Stunden non stopp bleibt die Weltgeschichte (world history) zwischen USA (Herman Melville & Nathaniel Hawthorne), Italien (Leonardo DaVinci), Burma (Shwe Shwe), Griechenland (Sappho & the Amazonians) etc. fragmentarisch und ausbaufähig. Da in der Show die Namen, sofern sie nicht im Liedtext vorkommen, nicht genannt werden, entweder das Wissen einer Weltgeschichte der Queers vorausgesetzt oder ein solches Wissen zumindest mit den Liedtexten generiert wird, bleibt das Wissen im Vagen. Taylor Mac sieht das Wissen nicht als Voraussetzung für den Unterhaltungsgenuss der Show und der Liedtexte. Doch im Vorbeiziehen der Songs könnte der eine oder andere explizite Hinweis helfen. Dass der Roman Moby Dick etwas mit dem Dick (Penis) von Nathaniel Hawthorne zu tun haben könnte, war mir zuvor nicht bekannt.
„Is there a reason Moby Dick’s so long and the middle,
with such excessive fishing like a man who’s lost at
sea when the days are all a’blending
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Is there a reason when a love won’t be returned
Though he peppers you with such unspoken longing
Is there a reason
Oh
There’s a reason
Nathaniel
Unrequited
You fucker
Nathaniel
So I’m lost at sea
In the cold
In the cold
Masterpiece.“[8]

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Von Herman Melville sind leidenschaftliche Liebesbriefe an Nathaniel Hawthorne erhalten, die über ein freundschaftliches Verhältnis unter Schriftstellern hinausgehen.[9] Taylor Mac verwandelt die Liebesbriefe in ein queeres Verhältnis von Melville zu Hawthorne, wobei Nathaniel seinem Familiennamen Hathorne das sinnstiftende w hinzufügte. Hawthorn, zu Deutsch Weißdorn, ist mythologisch hoch aufgeladen und wird mit besonderer Stärke assoziiert. Die Queerness des Nathaniel Hawthorne gewidmeten Romans Moby Dick, in dem es bei der Erstpublikation kritisierte homoerotische Sequenz zwischen Ishmael und Queequeg mit der Umschreibung „marriage bed“ gibt, wurde nicht zuletzt von Benjamin Britten in Melvilles Erzählung Billy Budd gelesen, so dass er daraus seine Oper komponierte.[10] Queerness entsteht mit anderen Worten durch eine Überschreitung heteronormativer Narrative und den abweichenden Gebrauch von Worten und Formulierungen.

© Fabian Schellhorn

Bark of Millions lässt ein neues Format der Show entstehen. Die Queerness wird in den Lyrics oder Songtexten auf vielfältige Weise durchgespielt und bleibt doch unbestimmt. Die Show bleibt offen für weitere Songs, die mit jedem neuen Jahr hinzugefügt werden können. Das Kollaborative und die Offenheit werden von Taylor Mac und Matt Ray besonders als Konzept hervorgehoben. Queerness wird zu einem Prozess, der immer wieder neu angestoßen werden kann. Für die Performer*innen sind die vier Stunden Show eine Herausforderung, weil sie eben nicht wie das Publikum kurz einmal die Bühne verlassen können. Nur durch den Applaus nach den Songs unterbrochen reiht sich ein Song an den anderen in ständig wechselnden Liedgenres. Das Timing und die Abfolge der Songs sind perfekt.

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Torsten Flüh

Taylor Mac
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[1] Fan Deck: Bark of Millions (Vollansicht)

[2] Wikipedia: Atum.

[3] en.wikipedia: Atum.

[4] fr.wikipedia: Atoum.

[5] Zur Frage der Hieroglyphen und Schriften im alten Ägypten siehe auch: Torsten Flüh: Vom Vorteil des Schlafens auf der Nilinsel Elephantine. Zur begeisternden Ausstellung Elephantine. Insel der Jahrtausende in der James Simon Galerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Juli 2024.

[6] Siehe zum Ägyptenfeld 9 Jahre nach der Französischen Revolution: Torsten Flüh: Vor und nach dem Schlaf. Zu den Mosse-Lectures von Samantha Harvey und Michael Hochgeschwender sowie zur Berliner Missionsbewegung als Erweckung. In: NIGHT OUT @  BERLIN 21. Februar 2024.

[7] Taylor Mac: A Note from Taylor Mac. In: Berliner Festspiele: Taylor Mac & Matt Ray Bark of Millions 9., 11. & 12.10.2024. Berlin 2024, Seite 7 und 9.

[8] Fan Deck: Bark … S. 40.

[9] U.a. Maria Popova: Herman Melville’s Passionate, Beautiful, Heartbreaking Love Letters to Nathaniel Hawthorne. In: The Marginalian 2019/02/13.

[10] Torsten Flüh: Der Terror des Gesetzes und das Versprechen des Rechts. Donald Runnicles und David Aldens grandioser Billy Budd von Benjamin Britten an der Deutschen Oper (6. Juni 2014)

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