Kriegserfahrungen und die Frage der Indentitäten

Nachkrieg – Gefangen – Freiheit

Kriegserfahrungen und die Frage der Identitäten

Zum Musikfest Berlin 2022-Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Kirill Petrenko mit Werken von Iannis Xenakis, Bernd Alois Zimmermann und Luigi Dallapiccolas Oper Il prigioneiro

Die Berliner Philharmoniker haben das Thema Identitäten zu ihrem Saisonschwerpunkt gemacht. Sie rekurrieren mit der „Frage des Standpunkts“ auf Ludwig van Beethoven, „der dem Wiener Adel ins Gesicht“ gesagt habe, „er halte sich selbst für etwas Besseres“.[1] Sucht die Musik, suchen Komponist*innen seit Beethoven alle nach Identitäten? In Beethovens Kompositionen wird die Frage keineswegs einfach beantwortet, wie es nach der kolportierten Anekdote scheinen könnte. Wo bleibt beispielsweise bei der Missa solemnis der „Standpunkt“? Wenn er denn so klar wäre, suchte nicht jede nennenswerte Interpretation einen anderen herauszuarbeiten, wie erst kürzlich besprochen wurde.[2] Der Gefangene (Il prigioneiro) wird im Programm besonders mit dem Saisonschwerpunkt in Verbindung gebracht. Doch spielt er nicht schon bei den kurzen Kompositionen von Xenakis und Zimmermann eine Rolle?

Die konzertante Aufführung von Luigi Dallapiccolas einaktiger Oper mit einem Prolog von 1950 im Nachkriegsitalien wurde von den Berliner Philharmonikern zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Iannis Xenakis‘ Empreintes und Bernd Alois Zimmermanns Sinfonie in einem Satz von 1953 waren dagegen vom Orchester schon früher einmal aufgeführt worden. Alle drei Kompositionen lassen sich mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit hören. In der Musik werden Spuren von Krieg und Unterdrückung hörbar. Es gibt akustische Zeitspuren. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Faschismus und der Zweite Weltkrieg in Italien und Deutschland mit Identitäten operierten, sie einschüchterten und zerstörten. Nach dem Krieg erlebte Il prigioneiro in Italien kurzzeitig vielfache Aufführungen. In der Philharmonie Berlin wurden nun Kirill Petrenko, Wolfgang Koch, Ekaterina Semenchuk und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke sowie der Rundfunkchor Berlin und die Berliner Philharmoniker an drei Abenden gefeiert.

Das zehnminütige Stück für ein Orchester mit 85 Musiker*innen Empreintes aus dem Jahr 1975 von Iannis Xenakis eröffnete das Konzert mit Wucht. Zerlegt Xenakis mit der Komposition das Formenrepertoire der Orchestermusik? Erforscht er das Klangspektrum des Orchesters an den Grenzen der Spielpraktiken? Heult der lange Ton G am Anfang schon? Kirill Petrenko legt mit den Berliner Philharmonikern größte Sorgfalt, um Abdrücke oder Spuren bei den Hörer*innen zu hinterlassen. Oder geht es um eine Aktualisierung von Empreintes als Ein- wie Abdrücke und Spuren, die sich dem, um es einmal so zu sagen, schwerverletzten Kriegsveteran Iannis Xenakis akustisch aufdrängten? Die gestaffelten, markanten Blechbläser – vier Hörner, vier Trompeten, vier Posaunen, eine Tuba – drohen mit kriegerischen Fanfaren nahezu apokalyptisch.

Der Krieg als akustisches Angriffsszenario drängt sich beim Hören auf. Das widerspricht einerseits der von Xenakis praktizierten stochastischen Kompositionsweise, die berechnete, visuelle Klangbilder schaffen will. Andererseits blickte der Komponist jeden Morgen in eine zertrümmerte linke Gesichtshälfte als Kriegsverwundung. Iannis Xenakis wurde im Dezember 1944 nach der Befreiung von den italienischen und deutschen Besatzungstruppen unter britischem Kriegsrecht in Straßenkämpfen gegen britische Panzer schwer in der linken Gesichtshälfte verwundet.[3] Er verlor das linke Auge und musste mit einem Glasauge leben. Die Narben als Spuren des Krieges und der politischen Haltung waren nicht nur sichtbar, sondern hatten den Komponisten mit 22 Jahren auch entstellt. Auf den Portraitfotos wählen die Fotografen zunächst Blickwinkel, die die linke Gesichtshälfte im Halbprofil verstecken.

Iannis Xenakis, geb. 1922 in Brăila, Rumänien, wuchs ab 1932 in Griechenland auf und studierte ab 1940 in Athen an der Technischen Nationaluniversität. 1941 wurde Griechenland von den sogenannten Achsenmächten okkupiert und die deutsche Besatzungsmacht begann mit einer umfangreichen Deportation griechischer Juden z.B. aus Thessaloniki[4], politischer Gegner*innen und Zwangsarbeiter*innen. Im April 1941 brachte die deutsche Luftwaffe Flak-Geschütze auf der Akropolis über Athen in Stellung.[5] Iannis Xenakis kämpfte im Widerstand der ELAS gegen die Besatzungsmächte. Wie Plousia Liakata über ihren Widerstand als junge Frau in der ELAS im Zeitzeug*innen-Projekt MOG der Freien Universität Berlin erzählt, wurde ihre Einheit in Karpenisi bombardiert.[6] Das ist das Umfeld, in dem Iannis Xenakis die Besatzung erlebte. Neben der Verwundung durch die britische Armee hatten sich bei Xenakis die weniger bekannten Kriegserlebnisse aus dem Widerstand eingebrannt. Zu denen gehörte offenbar die Bombardierung durch die deutsche Luftwaffe.

Empreintes lässt sich in der Interpretation von Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern als eine Art Fliegerangriff hören. Der lange Ton G erinnerte den Berichterstatter an eine Sirene.[7] Die gestaffelten Fanfaren und Cluster in den Streichern rufen die sogenannten Jericho Trompeten ins Gedächtnis, die als Sirenen zur Einschüchterung des Gegners an den Fahrwerksbeinen der Sturzkampfflugzeuge vom Typ Junkers 87 angebracht wurden.[8] Es handelte sich deshalb, um ein Mittel der akustisch-psychologischen Kriegsführung. Die Tendenz zum Geräusch im Stück korrespondiert mit der Akustik des Krieges. Insofern lässt sich Empreintes als eine Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse aus dem Widerstand der ELAS hören. Über dreißig Jahre nach dem Krieg komponiert Xenakis ein kurzes Musikstück, das die Akustik des Krieges wachruft, die zweifelsohne für ihn traumatisch gewesen war. Das Kriegstrauma gehörte zur Identität des Komponisten.

Das akustische Szenario, das Bernd Alois Zimmermann mit seiner Sinfonie in einem Satz entfaltet, ist ein anderes. Eine Sinfonie in einem Satz ist hinsichtlich der Form ein Paradox. Denn erst die Durcharbeitung der Themen in mehreren Sätzen einer Sinfonie bringt eine solche hervor. Bernd Alois Zimmermann hat sich mehrfach zu seiner einzigen Sinfonie geäußert, indem er die „Nachkriegszeit“ klanglich beschrieb oder noch während des Komponierens von einer „>Symphonia Apocalyptica< oder >Visionen des Johannes von Patmos<“ sprach.[9] Als Angehöriger des Jahrgangs 1918 wird auch in der Werkeinführung von „den mehrfach geschädigten Jahrgängen, der Entfaltungsmöglichkeiten erst durch die ästhetische Blickverengung der NS-Zeit und dann durch den Krieg – mit Verwundungen, Gefangenschaft, Traumata – enorm beschränkt wurden“, gesprochen.[10] Traumata sind zumindest eine Herausforderung für Identitätsbildung. Es muss mit ihnen auf die eine oder andere Weise umgegangen werden.
„Die Sinfonie entstand in der Nachkriegszeit […], die wohl wie kaum eine andere geartet war. Es gab kein Entrinnen; Ungeborgenheit, Unsicherheit, Angst: Symptome, die nicht zu übersehen waren, das drängte zur Darstellung, zur Aussage.“[11]

Bernd Alois Zimmermann komponiert durchaus auf eine Darstellung hin. Eine thematische Entwicklung gibt es nicht. Vielmehr setzt die Sinfonie mit einer Art Einschlag oder Explosion ein, die akustische Zerstörung und Ödnis hinterlässt. Wie verhält sich die Komposition zur inneren wie äußeren Trümmerlandschaft? Mit einer Spieldauer von ca. 15 Minuten scheint in der Fassung von 1953 bereits alles gesagt. Und doch ist die Fassung von 1953 nicht einfach ein Zeitgefühl der „Ungeborgenheit“, wie es Zimmermann später sagt. Die Radikalität der Sinfonie in einem Satz bezieht sich eher auf 1947 vor Gründung der Bundesrepublik als auf einen bzw. zwei bereits gegründete deutsche Staaten. Die unmittelbare Nachkriegszeit von 1947 lässt sich anscheinend schwer in ihrer Unbehaustheit und Ödnis in Klänge übersetzten. Doch wie vielleicht keinem anderen Komponisten gelingt es Zimmermann, das Schleichen in den Trümmerstädten musikalisch umzusetzen. Wie von Fern klingen ein paar Takte Marsch an und werden sogleich wieder verworfen. Der Krieg hinterlässt nicht nur Traumata bei Zimmermann, er reicht auch länger in die Zeit hinein. Der Berichterstatter fühlt sich daran erinnert, dass es bis in die jüngste Zeit dauerte, dass Kriegslücken im Stadtbild von Berlin Wedding mit dauerhaften Neubauten geschlossen wurden. Zimmermanns Sinfonie ist ein Zeitstück.

Die Biographie von Luigi Dallapiccola hinsichtlich seiner Kriegs- und Unterdrückungserfahrungen mit Bezug auf Il prigioniero wird bislang weniger beachtet. Vielmehr werden die literarischen Quellen für seine Oper ins Interesse gerückt. Doch Luigi Dallapiccola musste sich nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht 1938 mit seiner jüdischen Ehefrau, die in Florenz als Bibliothekarin gearbeitet hatte, auf dem Land bis zum Abzug der Deutschen verstecken. Als Lehrer am Luigi Cherubini Konservatorium in Florenz musste Dallapiccola nicht nur an bessere Zeiten glauben, vielmehr entschied er sich, bei seiner verfolgten Ehefrau zu bleiben. Insofern war er als Komponist seiner Oper zutiefst in „die Tragödie der Verfolgung“ verwickelt. Geht es insofern mit Il prigioniero um Werte und eine Kraft des Glaubens an die Freiheit? Lässt sich dieser Glaube im literarisch offenen Handlungsverlauf der Oper als Identität verstehen? Oder wäre das unterkomplex?
„Es wurde mir immer klarer, dass ich eine Oper schreiben müsste, die […] sowohl ergreifend als auch aktuell war; ein Werk, das die Tragödie unserer Zeiten, die Tragödie der Verfolgung, die Millionen von Individuen fühlten und erlitten, schildern sollte.“[12]   

Die konzertante Aufführung der mit 45 Minuten kurzen Oper durch ein hochkarätiges Ensemble mit Wolfgang Koch als „Der Gefangene“ und Ekaterina Semenchuk als „Die Mutter“ hatte den Vorteil, dass weder Bühnenbild noch Inszenierung, sondern allein die Musik im Vordergrund standen. Das ist nicht ganz unwichtig beim sonst ebenso visuellen Genre Oper. Sie beginnt mit der Traumerzählung der Mutter, einer „Ballata“ als Prolog. Die Traumerzählung stellt der Komponist der Oper voran, weil am Schluss wiederum von einem Traum gesungen wird, der sich in die Realität eines Autodafé verkehrt – oder auch nicht. Wird der Gefangene „wirklich“ verbrannt, um seine Freiheit zu erkennen? Die Traumerzählung wird eher als dramatischer Sprechgesang denn als Lied oder Arie und doch hoch emotional von Ekaterina Semenchuk vorgetragen:
„Inzwischen sind sie aufgegangen
die Nebel meines Schlafes.
Allmählich die Eule (Gufo)
ändert seine Eigenschaften:
Die Augen verschwanden, fast wie von Zauberhand,
Die dunklen Kreise bleiben weiß und leer …
Sie graben ihre Wangen und Haare
sie fallen … Ganz plötzlich
König Philip starrt mich nicht mehr an:
es ist der Tod!
Bestürzt stieß ich einen Schrei aus:
„Mein Kind! Mein Kind!““[13]

Der, sagen wir, Wahrnehmungsmodus Traum ist zugleich ein unsicherer, weil sich das Gesehene mehrfach verwandelt. Die Mutter deutet ihren Traum an der Schwelle zum Erwachen selbst und stößt einen Schrei aus. Weiß sie im Voraus von der Verfolgung und tödlichen Bedrohung des Sohnes? Das Wissen des Traumes wird durch visuelle Verwandlungen generiert. Dabei spielt die „Eule“ – „Allmählich die Eule/ändert ihre Eigenschaft“ – eine weitreichende philosophische Rolle. Denn sie spielt bei dem literarisch und philosophisch gebildeten Komponisten, der sein eigener Librettist ist, auf Hegel an. Genauer auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts mit der rätselhaften Formulierung: „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ Geschichtsphilosophisch ließe sich damit die Nachträglichkeit des Wissens über ein Ereignis bzw. das Ereignis der Verfolgung bedenken. Die Philosophie konnte und könnte demnach die Tragödie nicht verhindern.
„Religion brings little comfort here. Dallapiccola is indeed close to Sartre, for whom man is ‘absolute’ only ‘in his time, in his surroundings, on his parcel of earth’. To put it another way: in so far as Dallapiccola’s work is ‘committed’, it aspires to the quality of the dialectic.
Unmistakably Hegelian in its metaphysical ambition, Sartre’s argument is also Hegelian in structure.“[14]

Wie Ben Earle kürzlich in seiner Studie zu Luigi Dallapiccola und Il prigioniero formuliert hat, funktioniert der Glaube an die Religion in der Oper nicht mehr. – „Religion brings little comfort here.“ – Vielmehr wird mit dem spanischen König Philip und seiner Inquisition die Religion desavouiert. Im katholischen Italien der Zeit zwischen 1944 und 1948 war diese Dialekt mit dem Handlungsrahmen um 1550 im spanischen Saragossa kein geringes unterfangen. Auf dialektisch verschlüsselte Weise wird dem katholischen Italien ein Spiegel vorgehalten. So ganz verstand man Dallapiccolas Textcollage in Italien wohl nicht. Der Wink mit der Eule/Gufo und ihre Tragweite blieb weithin unbeachtet. Selbst Earle schenkt ihr keine Aufmerksamkeit. Vielmehr liest er die Partitur in einer traditionellen Weise. Der Traum endet in einem Vorwissen.
“At the point where the Mother reaches the word ‘Morte!’ (bar 117), the orchestra, which has been at pianissimo or below for some time, breaks in, fortissimo, with the strident three-chord motive of the A section. In Abbate’s terminology, ‘phenomenal’ and ‘noumenal’ regions collide. The three-chord motive becomes a harbinger of ‘fate’, returning at crucial points in the opera: most notably as the Prisoner is about to ‘escape’ (bars 794–801).”[15]

Die Frage nach dem Schicksal (fate) in der Musik als Vorbote (harbinger) und Vorwissen kollidiert mit der „Gufo“. Oder: der Traum endet in der gleichen Ungewissheit, mit der die Oper endet. Wir wissen anhand des Libretto-Textes nicht, ob der Gefangene aus seinem Traum erwachend auf dem Scheiterhaufen verbrennt.
“DER GEFANGENE (fast bewusstlos; geflüstert)
Die Freiheit…
KAMMERCHOR
O Domine Deus!
Languendo, gemendo et genuflectendo…
[Oh, Herr Gott!
Schmachten, Stöhnen und Knien …]
DER GROSSINQUISITOR
Bruder… lass uns gehen…
(nimmt den Gefangenen bei der Hand und geht mit ihm zum hinteren Teil der Bühne).
DER INTERNE CHOR
Et os meum annuntiabit Iaudem tuam…
[Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …]
DER GEFANGENE (fast bewusstlos; flüsternd. Aber dieses Mal in einem Ton deutlich fragend.)
Freiheit?“[16]

Welche dramaturgische Rolle spielt der Chor in der Oper, der groß besetzt mit dem Rundfunkchor Berlin besonders viel Beifall erhielt? Der Chor bzw. die beiden Chöre nutzen ausnahmslos die Kirchensprache Latein. Der Chor erhält nicht nur viel Aufmerksamkeit, er wird als Macht komponiert. Am Schluss steht die besonders hervorgehobene Frage „Freiheit?“, die mehr oder weniger direkt auf das katholische Rettungs- und Freiheitsversprechen des Chores – „Und mein Mund wird deine Rettung verkünden …“ – reagiert. Am Schluss der Oper steht ein Fragezeichen hinter der Freiheit, das nicht beantwortet wird. Der Chor erinnert in seiner Komposition an die Funktion des Chores in der antiken Tragödie. Er äußert und verkörpert, was Roland Barthes die Doxa genannt hat, heute vielleicht mit Mehrheitsmeinung zu übersetzen. In anderen Worten: Der Chor wiederholt den Diskurs der katholischen Restauration in Spanien.[17] Es ist diese bedenkliche Funktion des Chores – und viel weniger der Schrecken des Todes –, der für die „Tragödie der Verfolgung“ die größte Rolle spielt.

Il prigioniero ist nach der Argumentationsweise der Dialektik angelegt. Luigi Dallapiccola gibt dem Opernpublikum eine höchst moderne Denkaufgabe, die heißen könnte: Und wie habt ihr Euch verhalten? Die Haltung Papst Pius XII. während der deutschen Besatzung in Italien zur Judenverfolgung dürfte Luigi Dallapiccolo zumindest ansatzweise bekannt gewesen sein. Die gesellschaftliche Ausgrenzung inklusive Verlusts des Arbeitsplatzes in der Bibliothek hatte er mit seiner Frau in Florenz selbst erleben müssen. In dieser historischen Konstellation bekommt König Philipp von Spanien auf einmal ein anderes Gesicht. Das Melodiös, Kantabile des Chores, der schöne Klang täuscht über die dialektische Funktion hinweg – und generiert im Genre Oper Beifall. Doch schon im Prolog hatte der „Coro Interno“, was mit der Doppelbedeutung von inneres Herz und innerer Chor übersetzt werden kann, der Mutter als Individuum, wie es buchstäblich im Libretto heißt, das Wort abgeschnitten:
„IL CORO INTERNO (schneidet das letzte Wort der Mutter ab)
Lass deine Barmherzigkeit, Herr, über uns sein.
Wie wir auf dich gehofft haben.
Lass deine Priester mit Gerechtigkeit bekleidet sein.
Lass deine Heiligen sich freuen.
(Wenn du den Schleier langsam öffnest.)“[18]

Wie stark die Bibliothekarin und Übersetzerin Laura Luzzatto Coen, die zum Katholizismus übergetreten war, um Luigi Dallapiccola heiraten zu können[19], am Libretto von Il prigioniero mitgearbeitet hat, wissen wir nicht. Doch der Prolog nimmt kein schicksalhaftes Wissen vorweg, sondern gibt auf die Funktion des Chores einen dramaturgischen Wink. Der Chor als durchaus faschistische Mehrheitsmeinung „schneidet das letzte Wort der Mutter ab“. Luigi Dallapiccola kannte sehr genau das Wissensschema der italienischen Oper. In den zeitgenössischen Kritiken wird sofort auf Turandot und Cavalleria rusticana verwiesen. Doch der Komponist montiert mit Il prigioniero 1950 das italienische Kulturgut Oper auf völlig andere Weise, die kaum bedacht wird. Die Frage nach der Freiheit wird nicht zuletzt im Kontext einer vermeintlichen Befreiung gestellt, die das faschistische Italien selbst zum Opfer machte. In Anbetracht der jüngsten italienischen „identitären“ Wahlergebnisse aufgrund einer verdrängten und verpassten historischen Aufarbeitung hat Il prigioniero nicht als Identitätsoper, sondern als dialektische Denkaufgabe höchste Aktualität erlangt, die Kiril Petrenko bei seiner Auswahl nicht einmal ahnen konnte.

Torsten Flüh

Berliner Philharmoniker
Digital Concert Hall
Kirill Petrenko dirigiert Dallapiccolas „Der Gefangene“
17. September 2022


[1] Berliner Philharmoniker: Eine Frage des Standpunkts: Saisonthema „Identitäten“. In: Berliner Philharmoniker Saison 2022/2023.

[2] Siehe Torsten Flüh: Von der Kunst der Messe. Zur Missa solemnis von Ludwig van Beethoven und Vespro della Beata Vergine von Claudio Monteverdi beim Musikfest Berlin 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. September 2022.

[3] Siehe die detailliertere Biographie auf Englisch in Wikipedia: Iannis Xenakis.

[4] Zur Deportation und Ermordung der griechischen Juden siehe: Zeugenschaft und der vertrackte Grund. Zur deutschen Ausgabe von Heinz Salvator Kounios Tagebuch. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 17, 2016 22:30.

[5] Siehe: Freie Universität Berlin: MOG: Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland: Die Besatzung. (Ohne Datum)

[6] Ebenda mit Archivzugang Plousia Liakata.

[7] Zu Sirenen als Katastrophenschutz und Kriegsakustik siehe: Torsten Flüh: Innere Stimmen. Zu Mona Winters Hörspiel Tot im Leben in der Ursendung vom 29. April 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. April 2022.

[8] Siehe z.B.: Stuka Siren: Sound As A Weapon. 09.10.2018.

[9] Zitiert nach: Berliner Philharmoniker: Programm Donnerstag, 15.09.22, 20 Uhr … Berlin, 2022, S. 9-11.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 11.

[12] Ebenda S. 13.

[13] Eigenübersetzung nach Libretto in Italienisch und Latein. (archive.org PDF)

[14] Ben Earle: Luigi Dallapiccola and musical modernism in Fascist Italy. Cambridge : Cambridge University Press, 2019, S. 236-237.

[15] Ebenda S. 271.

[16] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[17] Zu König Philipp und dem goldenen Zeitalter in Spanien siehe: Torsten Flüh: Der goldene Kreis der Bilder. Zur bezaubernden und verstörenden Schlüsselausstellung El siglo de Oro in der Gemäldegalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN August 10, 2016 20:43.

[18] Eigenübersetzung … [wie Anm. 13].

[19] Siehe Wikipedia: Laura Luzzatto Coen.

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