Traumhafte Animationskünste – Das Wachsfigurenkabinett – Berlinale Classics 2020

Leben – Wachsfigur – Erzählen

Traumhafte Animationskünste

Zur Weltpremiere der digital restaurierten Fassung von Das Wachsfigurenkabinett auf der Berlinale 2020 

Schon am frühen Freitagabend erlebte im Friedrichstadt Palast die digital restaurierte Fassung von Paul Lenis Stummfilm Das Wachsfigurenkabinett mit neuer Live-Musik des Ensembles Musikfabrik ihre Weltpremiere. Am Montag, den 24. Februar wird der Film ab 23:25 Uhr ausgestrahlt und gestreamt. Auf einem Jahrmarkt wird ein junger Dichter (Wilhelm Dieterle) von einem Schausteller (John Gottowt) engagiert, Geschichten für die Wachsfiguren zu erfinden, um sie zu beleben. Die scheinbar simple Anlage der Handlung gibt einen um so stärkeren Wink auf das Genre der Wachsfiguren und ihrer Belebung durch Erzählungen, die zugleich als imaginärer Traumfilm ablaufen. Durch die Traumerzählungen werden Harun al-Raschid, Iwan der Schreckliche und Jack the Ripper „lebendig“. Das Genre Stummfilm erweckte 1924 die Wachsfiguren zum Leben durch Imagination. Der Stummfilm erzählt somit von seiner medialen Geschichte.

Die Geschichte kommt in Das Wachsfigurenkabinett zweimal vor. Einerseits werden auf dem Jahrmarkt zum Vergnügen Wachsfiguren aus der Geschichte gezeigt, die für das Unheimliche bereits bekannt sind. Doch als Wachsfiguren bleiben Harun al-Raschid (Emil Jannings), Iwan der Schreckliche (Conrad Veidt) und Jack the Ripper (Werner Krauß) geradezu sprichwörtlich tot. Sie bewegen sich nicht und ihr Gesicht bleibt ausdrucklos wächsern. Es muss etwas hinzukommen, das eine Bewegung in Gang setzt. Diese Bewegung wird sowohl maschinell wie emotional sein. Vor allem aber beginnt sie erst einmal mit einem vagen Wissen von den Wachsfiguren, das vom Dichter mit seinem Begehren nach der Tochter (Olga Belajeff) des Schaustellers verknüpft wird. Das Begehren des Dichters wird auf die Figuren eines Bäckers, eines russischen Bräutigams und ihm selbst im Angsttraum übertragen. Er kämpft jeweils gegen die lebendig gewordenen Wachsfiguren um eine Frau.

Das Wachsfigurenkabinett von Paul Leni ist in der deutschen Originalversion verbrannt. Eine englische Version des British Film Institut mit englischen Zwischentiteln wurde nun als Grundlage für die Rekonstruktion des Films mit weiteren Kopien aus Frankreich und Tschechien kombiniert. Da die unterschiedlichen Nitratkopien verschiedene Grade an Veränderungen des Filmmaterials aufweisen, mussten die Teile und Ergänzungen digital angepasst werden. Der Film hat nun eine brillante Bildqualität, die nicht zuletzt zahlreiche visuelle Experimente in der Bildgestaltung zur Geltung bringen. Überblendungen, Mehrfachbelichtungen und Spiegelungen werden von dem, wie es 1924 hieß, „Operateur“ also Kameramann Helmar Lerski mehrfach eingesetzt. Die Kamera arbeitet insofern mit visuellen Innovationen und nachträglichen Kolorierungen am Traum mit. Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben als Komponisten mit dem Ensemble Musikfabrik unter Leitung von Elena Schwarz ein neuartiges Klangkonzept für den Film erarbeitet. Es wird darauf zurück zu kommen sein.

Was ist ein Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum? Das Wachsfigurenkabinett trägt im Film das Schild „Panopticum“. Die Begriffe werden alternativ gebraucht. In Hamburg wurde am Spielbudenplatz 1879 das noch heute existierende Panoptikum gegründet. In einem Panoptikum mit seiner Nähe zum Jahrmarkt oder Vergnügungsviertel wie der Reeperbahn vor dem Stadttor, Millerntor, wird weitgehend triviales Wissen in Wachsfiguren verkörpert. Das reicht von landläufig bekannten Berühmtheiten, denen sich das Publikum lebend kaum nähern kann, bis zu plastischen Darstellungen von sexuell übertragbaren Krankheiten, den Geschlechtskrankheiten, wie sie im Panoptikum am Spielbudenplatz gezeigt wurden. Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett soll seinen Ursprung in dem während der französischen Revolution durch eine Guillotine am 16. Oktober 1793 auf dem Place de la Concorde abgetrennten Kopf der französischen Königin, Marie Antoinette, haben. Anders gesagt: Im Panoptikum geht das Versprechen alles in einer „Gesamtschau“ zu sehen zu bekommen, auf erstens eine eigenartige Kombination von Tod und Leben und zweitens ein vages Wissen, das von den Besucher*innen affiziert wird.

Henrik Galeen als Drehbuchautor führt insofern mit dem Dichter als Erzähler und Wissensvermittler eine Verdopplung der Wissensfunktion des Panoptikums vor. Gleichzeitig wird mit dem Dichter für die Kritiker um 1924 erkennbar das Verhältnis von Literatur und Film angesprochen. Das nicht mehr ganz so junge Genre Film bzw. Bioscope oder Kinematographie wird noch im Feld zwischen Literatur und Bild diskutiert, was besonders deutlich an Das Wachsfigurenkabinett zum Beispiel von Dr. Mendel in der Lichtbild-Bühne am 15.11.1924 kritisiert wird. Die Frage nach dem literarischen Anspruch des Films wird von ihm entschieden verworfen.
„Ach nein! Mit „Literatur“ hat dieser Film gar nichts zu tun. Im Gegenteil. Literarisch schwächeres als das Manuskript Henrik Galeens gibt es kaum noch: Sprunghaft, ohne innere Zusammenhänge, ohne dramatische Steigerung. Also literarisch und dramaturgisch fast wertlos (hier wohl auch einer der Hauptgründe für den lauen Erfolg!).“[1]

Die Sprunghaftigkeit des Manuskripts ließe sich ebenso gut als Innovation der Filmerzählung formulieren. Sie folgt keiner Logik der linearen Dramaturgie. Vielmehr wird wie mit dem Arm der Wachsfigur Harun al-Raschid motivisch oder traumlogisch erzählt. Der Schausteller repariert gerade den Arm der Wachsfigur, als seine Tochter den Dichter hereinführt. Dieser sozusagen lose Arm wird vom Dichter fast surrealistisch zum Anlass genommen, um die Geschichte zu erzählen, wie der Kalif seinen Arm verlor. Die Sprunghaftigkeit der Erzählung zeigt sich nun darin, dass zunächst gar nicht von dem Arm erzählt wird. Stattdessen wird die durchaus komische Geschichte vom Bäcker und seiner bezaubernd schönen Frau vorgeführt. Sie überschneidet sich mit der märchenhaften Erzählung vom Kalifen, der jede Nacht eine andere Frau begehrte, um sich nicht zu langweilen. Insofern montiert Galeen zwei Erzählungen, indem die Frau eine Mutprobe von ihrem Mann verlangt. Er entscheidet sich den sagenhaften Wunschring des Kalifen zu stehlen.

Ein weiterer Aspekt der Sprunghaftigkeit besteht darin, dass eben die drei sehr unterschiedlichen Geschichten in einer Montage kaum auf einander Bezug nehmen. Verknüpft werden sie allein durch den Umstand, dass der Dichter sie schreibt und sich sowie die Tochter des Schaustellers als Paar imaginiert bzw. erträumt. Doch genau darin bezieht sich Henrik Galeen sehr genau auf das Wissenskonzept des Panoptikums. Denn dort haben die ausgestellten Wachsfiguren nichts miteinander zu tun, außer dass sie ein leichter oder stärkerer Grusel der Betrachter*innen miteinander verbindet. Das Wissen von der Wachsfigur wird nicht kontextualisiert. Oft werden sie von den Besucher*innen gar nicht erkannt und erhalten erst mit dem Namen und einer kurzen Geschichte ihren Reiz. Genau dafür wird eben kein Wissenschaftler, Historiker oder Forscher angestellt, sondern der Dichter als Literatur- und Wissensproduzent.

Das Wachsfigurenkabinett oder Panoptikum als Raum des Wissens, Raum einer Begegnung mit dem Wissen tendiert zum Museum, beansprucht dessen Sichtbarkeitsversprechen und erweckt die imaginäre Affizierung mit diesem Wissen. Man könnte sagen, dass Henrik Galeen (Drehbuch) und Paul Leni (Regisseur) sehr gut verstanden haben, wie ein Panoptikum funktioniert. Genau diese Funktionsweise generiert sozusagen den Plot oder auch Literatur. Der visuelle Expressionismus des Films mit seinen Überzeichnungen, Vervielfältigungen, Vertauschungen, Verzerrungen, Kolorierungen speist sich bereits aus der Funktionsweise des Panoptikums. Die orientalische Stadt des Kalifen wird als außerordentlich labyrinthisch inszeniert. Damit wird zugleich eine durchaus panische Orientierungslosigkeit im Raum des Wissens für die Besucher*innen gespiegelt.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Das visuelle Wissen des Panoptikums/Wachsfigurenkabinetts wird in seiner Aneinanderreihung zur Herausforderung für die Besucher*innen, worauf der Kritiker in Lichtbild-Bühne einen Wink gibt. Insofern scheitert der Dichterautor an der Erwartung, „innere Zusammenhänge“ herzustellen. Das Wachsfigurenkabinett als Medium sträubt sich geradezu gegen „innere Zusammenhänge“. Sie können einzig und allein in der Übertragung des Wissens auf die Wahrnehmung bzw. als Imagination hergestellt werden. Genau davon erzählt der Film. Auch im Film-Kurier wird Das Wachsfigurenkabinett genau mit dieser Problematik von Eduard Jawitz diskutiert. Denn was die (vermeintliche) Literatur nicht lösen kann, erscheint nun als „Bild“:
„Eins ist der Film zunächst: Bild! Ohne den Maler, den Architekten, ist er auch nicht Bild, sondern etwas anderes. (Man ahnt: was!!) Ausgenommen zweieinhalb Filmdichter gibt es die guten Literaten, die schuld sein sollen, daß man den Film in weiteren Kreisen nicht Kunst nennt: woraus manche schließen, daß die schlechten Literaten die guten Filme machen, was falsch ist.“[2]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Insbesondere in den 1920er bildet sich in den Wissenschaften wie z.B. mit Magnus Hirschfelds Sexualwissenschaftlichen Bilderatlas ein neuartiges Bildwissen heraus.[3] Dieses Bildwissen wird nicht zuletzt von Paul Leni mit seinem Stummfilm verknüpft. Es ist als biete nicht zuletzt Das Wachsfigurenkabinett jene flüchtigen Traumbilder, die mit Jack The Ripper zu einer beängstigenden Größe und Macht heranwachsen können, die in der Psychopathologie mit Psychosen benannt werden. Die Vielzahl der Bilder und ihre Überlagerungen durch filmtechnische Doppelbelichtungen, vereiteln ein Bild, in das sich Wissen deponieren ließe. Oder mit Paul Lenis Worten:
„Statt eines einzigen Bildes fünfzig, sechzig machen, Leben zerlegen, bis noch das Wegwerfen eines Streichholzes seelisch-malerische Symbolhandlung wird, das ist Filmkunst! Wie der Dichter im Film malerisch sehen muß, so muß der Maler dichterisch empfinden. Es gibt nicht Rücksichten auf ein Milieu, jedes Milieu ist nichts anderes als Ausdruck von Menschen, die sich in ihm bewegen.
Das Theater kann vor einfachem, schwarzen Vorhang spielen, hier tönt alles das Wort. Der Film braucht Hintergründe; Aspekte, die Schauplätze werden, Seelenschauplätze!“[4]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Wenn man den Film Das Wachsfigurenkabinett beschreiben, besprechen möchte, dann wird die Vielzahl und Diversität der Bilder durchaus zum Problem. Jede Einstellung als „Seelenschauplatz“ ist mit ihren Kulissen und vor allem der „Beleuchtung“ genau ausgeleuchtet. Die orientalische Stadt mit ihren Zwiebeltürmen und der Dachterrasse des Palastes spiegelt ein helles, herrschaftliches Leben des Kalifen. Die enge Behausung des Bäckers erhält kaum „Sonnenlicht“, alles wird zu Schatten verzerrt. Das Schlafgemach des Kalifen wird zum Schauplatz für die Verwandtschaft von Wachsfigurenkabinett und Film. Was auf dem Schauplatz stattfindet, unterliegt selbst schon immer dem Imaginären. Denn Harun al-Raschid liegt in einem Schlafgemach. In seinem Ring spiegelt sich der Bäcker als sein Begehren kaleidoskopartig. Voller Schauder schlägt er den Arm des Kalifen mit einem Säbel ab, während die Zuschauer*innen wissen könnten, dass er Harun al-Raschid gar nicht den Arm abschlagen kann, weil dieser bei seiner Frau ist.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Verwechslung der Körper und der toten Bilder mit dem Leben, mit dem lebendigen Körper, die im Medium Kinematographie visuell immer angelegt ist, wird insofern selbst vorgeführt. Die Dramatik verfängt sich in den Betrachter*innen, wenn der Arm abgeschlagen wird. Deshalb auch ist es in der Auflösung so wichtig, dass der Kalif selbst die Verwechslung als Täuschung aufklärt. Immer wenn er sich in der Stadt zu schönen Frauen begebe, lege er eine Wachsfigur in sein Bett. Die Pointe liegt nun gerade darin, dass der überaus dicke Kalif von Emil Jannings derart komisch überzeichnet wird, dass ihm ein sexueller Übergriff kaum noch zuzutrauen ist. Es ist alles eine Frage der „Beleuchtung“. So heißt es über Ernst Stern bei Eduard Jawitz:   
„Weil es nicht filmwirksame oder unwirksame Farben gibt, hingegen viele Vorurteile von Operateuren und Regisseuren, hat Stern im WACHSFIGURENKABINETT (das er gemeinsam mit Leni machte) die Kostüme gelb oder blau getönt und es überstrahlt nicht, sofern nur der Operateur richtig beleuchtet. … Das Objektiv muß durch Malerei getäuscht werden! Noch ist ja alles viel zu literarisch und bühnenmäßig. Eins aber dankt man dem Film: die Sicherheit in bezug auf das Formale der Architektur, die ganz präzise Sicherheit, den Kern des Architektonischen auszudrücken. Soll der Bau eine Idee interpretieren, so sind die Baustile mit unsäglicher Sorgfalt durchzuführen. Es wird jedes Bild einprägsam sein, sofern der Filmbau seinen Kern adäquat wiedergibt.“[5]

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Am stärksten wird die Beleuchtung in der Iwan-Sequenz. Das Halbdunkel und die labyrinthischen Treppen und Gänge der Kerker werden Angst-Räumen, in denen sich auf auch komische Weise – deutliches Lachen im Publikum bei der Weltpremiere – Iwan selbst verfängt. Denn das überdimensionale Stundenglas, das seinen Gifttod anzeigen soll, dreht er, in der Angst zu sterben, bis an das Ende seiner Tage. Wodurch wurde Iwan vergiftet? Das Stundenglas funktioniert nicht zuletzt als Prognose, dass derjenige dessen Namen auf das Glas geschrieben ist, sterben wird. Iwan kann sich an diesem machtvollen Wissen delektieren. Doch genau das wird ihm zum Verhängnis. Er wird in einem Zustand zwischen Leben und Tod sein Stundenglas drehen, bis er stirbt. Die Angst vor dem Tod verhindert sozusagen sein Leben.

Screenshot Trailer „Das Wachsfigurenkabinett“ (Torsten Flüh)

Die Komponisten Bernd Schultheis, Olav Lervik, Jan Kohl haben mit dem Ensemble Musikfabrik eine Stummfilmmusik ausgearbeitet, die den Film bisweilen sprechen, gar schimpfen lässt. Violine und Posaune werden für eine Musiksprache eingesetzt, die das Komische, Komödiantische hervorheben. Aber auch Spannung wird akustisch aufgebaut. Dann wieder kommentiert die Musik die Filmsequenz. Insofern spricht die Musik nicht nur das Imaginäre an, es wird auch auf vielfache Weise gewendet. Bei konventionellerer Stummfilmmusik könnte der nicht zuletzt literarische Reichtum von Das Wachsfigurenkabinett abgeflacht werden. Vielleicht auch war das dem Film bei seiner Uraufführung 1924 passiert. Doch davon berichtete niemand, obwohl es doch so viel zum Bild beiträgt.

Torsten Flüh  

ARTE
Das Wachsfigurenkabinett
Paul Leni 1924
24. Februar 2020 23:25 Uhr
danach bis 24.03.2020 in der Mediathek


[1] Dr. M–l. (= Dr. Mendel), Lichtbild-Bühne, Nr. 134, 15.11.1924.

[2] Eduard Jawitz: Malerei, Architektur, Plastik und Kunstgewerbe im Film. Eine Rundfrage über dekorative Probleme. In: Film-Kurier, Nr. 33, 7.2.1924.

[3] Vgl. zu Magnus Hirschfelds „Bilderatlas“ bzw. „Sexualwissenschaftlicher Bilderatlas zur Geschlechtskunde“ (1930): Torsten Flüh:  Gefeierte Enden der Sexualwissenschaft. Zum Festakt für Magnus Hirschfelds 150. Geburtstag im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN Mai 18, 2018 16:46.

[4] Paul Leni nach Eduard Jawitz: Malerei … [wie Anm. 2].

[5] Ebenda.

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