Queere Geschichte nach Fotos

Queer – Geschichte – Deutschland

Queere Geschichte nach Fotos

Zu Benno Gammerls empfehlenswerten Buch Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Die Form von Queer ist anders. Benno Gammerl stellt in seinem neuen Buch jedem historischen Abschnitt ein Foto voran. Kaiserreich – Weimarer Republik – Nationalsozialismus – Nachkriegsdekaden in Ost und West – Bewegungen seit den 1970er Jahren – Neue Normalitäten seit den 1980er Jahre – Diversifizierung seit den 1990er Jahren bilden historische Ab- und Einschnitte, in denen queeres Leben nicht zuletzt durch deutsche Straf-, Ehe-, Personenstands- und Familiengesetze kriminalisiert, terrorisiert, gelockert und schließlich in Vielfalt normalisiert wurde, um sogleich durch religiöse und rassistische Randgruppen angegriffen zu werden. Queer heißt weiter ein Leben in Unruhe. Queer stört weiterhin.

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Benno Gammerl kann derzeit im Horizont der akademischen Lehre als führender Historiker für die queere deutsche Geschichte angesehen werden. Mit Queer legt er nun ein gut lesbares, ebenso unterhaltsames wie fundiertes Buch vor, das nicht nur von queeren Menschen zur Selbstvergewisserung ihrer Geschichte, sondern von einer breiten Öffentlichkeit gelesen werden sollte. Wenn wir uns in diesen Monaten und Wochen das enthemmte patriarchale Gestammel inklusive Flugzeugabsturz aus dem Kreml anhören müssen, das sich mit alten Begriffen und Stereotypen gegen ein nicht zuletzt queeres Europa aufbäumt, dann wird klar, dass Queer als „ein(e) deutsche Geschichte“ zum Herz eines Geschichts- und Gesellschaftsverständnisses von Deutschland und Europa gehört. – Was erzählen Fotos vom queeren Leben?

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In dieser Buchbesprechung im Format Blog erscheinen Fotos aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Der Berichterstatter hat die Fotos in mehreren kleinformatigen Alben nach dem Tod seiner Großtante Alice vor 30 Jahren geerbt. Die Personen auf den Fotos, so lebendig sie wirken, sind – wie es gerade auf einer Einladung zu einer Vernissage in Hamburg heißt – hinüber. Auf den Fotos sind Alice, Walter und Erich, soviel lässt sich sagen, oft in den Dünen von Westerland oder Timmendorfer Strand, Grömitz oder Travemünde zu sehen. Genaue Ortsangaben gibt es nicht. Strandidyllen. Irgendwo ist „Das Kleeblatt“ auf die Rückseite eines Fotos mit Bleistift geschrieben. Junge Menschen. Drei junge Menschen, sagen wir, in den 30er Jahren. – Was sollte an diesen Fotos mit Strandsand, Dünen, Himmel queer sein? 

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Mit diesen Fotos wird an Benno Gammerls Geschichtsverfahren angeknüpft. Die Fotos sind Zeugnis. Aber wir müssen erst einmal beginnen zu sehen, was bzw. wer uns aus einem Foto entgegenspringt. Sie faszinieren ohne ganz und gar sichtbar zu sein. Es hat in der Praxis des Fotografierens und des Fotografiertwerdens immer Formen der Selbst-Inszenierung gegeben. Oft haben diese wie auch andere Fotos Eingang in Archive gefunden. Gammerl würdigt in seiner Einleitung „die entscheidende und herausragende Arbeit, die queere, schwule, lesbische und trans* Archive leisten“.[1]

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Die adjektivischen Benennungen queer, schwul, lesbisch, trans und inter für geschlechtliche Praktiken verschafften und verschaffen weiterhin die Möglichkeit zur Fremdbezeichnung wie zur Selbst-Bestimmung von Menschen. Der Begriff schwul erreichte vor allem in den 80er Jahren bis zu Beginn der 90er seine höchste Gebrauchsfrequenz in Zeitungen. Seither hat sich der Gebrauch auf einem hohen Niveau von 3345 Nennungen 2022 eingependelt.[2] Im Vergleich dazu beginnt mit 1991 ein steiler Anstieg des Begriffes queer mit 1461 Nennungen im Jahr 2022.[3]

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Der Gebrauch eines Begriffs, um eine Lebensform zu benennen, schafft ein sprachliches Feld für Debatten um diese und deren Ausgestaltung.[4] Gegenüber queer wird in deutschsprachigen Zeitungen schwul immer noch mehr als doppelt so häufig verwendet. Die Benennung verspricht, dass ein breites und vielfältiges Wissen zu schwul kursiert, während queer „als Sammelbezeichnung für nicht heteronormative sexuelle und geschlechtliche Praktiken und Subjektivitäten“ sich noch nicht „durchsetzen“ konnte.[5] Praktiken der Benennung und ihres Gebrauchs geben einen Wink auf historische Verschiebungen. Gammerl macht deshalb auf „Kritiken an allzu eindeutigen Vorstellungen von geschlechtlicher und sexueller Identität“ aufmerksam.[6]
„Denn zwischen gleich- und andersgeschlechtlichem Begehren kann man nur dann klar unterscheiden, wenn zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht eine klare Grenze verläuft. Bisexuelle verwirren diese Ordnung ebenso wie intergeschlechtliche Menschen, die sich seit 2018 nach dem deutschen Personenstandsrecht als divers bezeichnen können.“[7]   

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Der Begriff queer eröffnet nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierung im deutschen Rechtssystem wie aktuell mit der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz, in der Alice Schwarzer in EMMA mit „biologische(n) Fakten“ argumentiert[8], eine inklusive Geschichte der Sexualitäten und des Empfindens. Der am 23. August vorgestellte Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes „soll das Leben für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen erleichtern“.[9] Bei Drucklegung von Queer konnte Benno Gammerl diese neueste Wendung im Feld der Lebensformen noch nicht absehen. Während Bundesfamilienministerin Lisa Paus den „Schutz lang diskriminierter Minderheiten“ als einen „gesellschaftspolitische(n) Fortschritt“ hervorhebt, betont Bundesjustizminister Marco Buschmann den „Geist des Grundgesetzes“.[10] Die Debatte gibt mit den „biologische(n) Fakten“ einmal mehr einen Wink darauf, wie lebendig biologistische Argumentationsmuster im Feld der Geschlechter weiterhin sind.

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Das Foto mit den 5 Frauen, eine mit Hut, eine mit schwarzer Haube und jeweils einem Bleistift in ihrer rechten Hand, dessen eines Ende sie an ihr Unterkinn legen, als erwüchsen daraus Bärte der Gelehrsamkeit, dabei den Blick leicht angewinkelt in die Kamera gewendet, wird von Benno Gammerl dem Kapitel Unterdrückung, Aufklärung und Skandalisierung. Das Kaiserreich vorangestellt. Er beschreibt das Foto ein wenig anders und nennt sie „Frauenaktivistinnen“.[11] Die Handhabung des Stiftes durch die Frauen dürfte um 1900 eine provokative Geste gewesen sein. Nicht nur, dass sie als Frauen schrieben und sich in Debatten schriftlich zu Wort meldeten, vielmehr finden sie mit den sich selbst ermächtigenden Stiften in einer Zeit zusammen, in der ein Bleistift wie in Thomas Manns Roman Der Zauberberg als phallisches Symbol kursieren konnte.[12] Gammerl erzählt vom Kaiserreich anders, als es bislang vor allem wegen der Homosexuellengesetzgebung, dem § 175 Strafgesetzbuch, historisch betrachtet wurde.
„So verschieden diese Strategien waren – und man sollte sich davor hüten, sie alle vorschnell als progressiv zu beklatschen –, so teilten sie doch einen sexualreformerischen Kern. (…) Unser Bild dieser Periode ist eher von ihrem Anfang geprägt, den wir bestens zu kennen meinen: Preußen, militärischer Triumph, der Spiegelsaal in Versailles, viele Männer in Uniformen mit Ordensglitter und hohen Lederstiefeln – Kaiserkrönung.“[13]

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Spätestens mit dieser Formulierung zum Geschichtswissen über das Kaiserreich wird deutlich, dass Benno Gammerl mit Queer die landläufige Geschichtsschreibung in Frage stellt, wenn nicht angreift. Man könnte das Geschichtsschreibungsverfahren mit den Fotos ein mikrologisches nennen. Plötzlich bricht mit einem mutig inszenierten Foto von 5 Frauen das Verständnis einer ganzen Epoche auf. Wie kommen die Frauen in einem Münchner Fotoatelier überhaupt dazu? Minna Cauer, Lily von Gizycki verheiratete Braun, Anita Augspurg, Marie Stritt und Sophia Goudstikker sprengen das Geschichtsbild nicht zuletzt durch ihre Lebensweisen. Anita und Sophia nutzen das noch junge Medium Fotografie für eine kalkulierte Inszenierung eines Frauenbildes.
„Anita Augsprug und Sophia Goudstikker waren ein Paar. Sie trennten ich 1899 und lebten danach mit anderen Partnerinnen zusammen.“[14]

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Benno Gammerl arbeitet mit Queer die Widersprüche und Brüche in der deutschen Geschichte heraus. Denn seine Geschichten orientieren sich an dem Alltäglichen und der Herausbildung von Wissenschaften, an Einzelschicksalen und politischen Parteien. Es gibt keine bruchlose Geschichte vom queeren Leben. Die Verfolgung durch den § 175 StGB gehörte ebenso zum Kaiserreich wie die Entstehung einer Vokabulars und diverser Rollenmodelle. Auf diese Weise zeigt sich, dass Queer als Geschichtsschreibung breiter angelegt ist, als es Herrschaftsgeschichten bislang getan haben. Geschichte ist keinesfalls eine Abfolge von gekrönten Häuptern – Elisabeth II., Charles III. –, wie es immer noch gern erzählt wird.
„Queeres Leben war damals immer auch, aber nie nur von Verfolgung und Stigmatisierung geprägt. Die Sorge war sozusagen eine ständige Begleiterin, aber zugleich kämpften Aktivist*innen couragiert für eine Verbesserung der Lebenssituation von Homosexuellen, Transvestiten und anderen Menschen, die wir heute als queer bezeichnen würden. Neben den Emanzipationsbewegungen spielten die Wissenschaft und der aufklärerische Impetus eine wichtige Rolle sowie der subkulturelle Alltag mit seiner Lust und Unübersichtlichkeit.“[15]

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Zum Kaiserreich gehörten auch die Burschenschaften. Wie sich kürzlich mit einem MeToo-Schlaglicht gezeigt hatte, gehört zu den studentischen Verbindungen eine spezifische Geschlechtspraxis, die weder in der Homosexuellen-, noch Schwulen- oder Queerforschung berücksichtigt worden ist. Das liegt an ihrer klandestinen Organisationsform. Dennoch wäre hier einer wichtigen Spur nachzuforschen, die gesellschaftliche Relevanz hat. Die Geschlechtspraxis der Burschenschaften reicht hinüber in den Nationalsozialismus[16], den Benno Gammerl von Anfang an mit der Plünderung der Bibliothek des Instituts für Sexualwissenschaft am 6. Mai 1933 und der prominenten Verbrennung einer Büste Magnus Hirschfelds als „entgrenzte Verfolgung“ benennt.[17] Die Verstrickungen des mannmännlichen Begehrens im Nationalsozialismus bis hinauf zu dessen Elite, wenn man es so nennen will, werden auch von Gammerl noch zu wenig berücksichtigt.
„Trotzdem ist es wichtig, den homosexuellen Alltag im Blick zu behalten, wenn man von der queeren Geschichte des nationalsozialistischen Deutschland spricht. Man sollte sich nicht allzu ausschließlich auf die Verfolgung männerbegehrender Männer konzentrieren und deren Leiden nicht allzu sehr ins Schreckliche übersteigern. So entscheidend dieser Teil der Geschichte ist, bei Weitem nicht alle queeren Menschen gerieten in die Fänge von SS und Gestapo, kamen ins KZ und wurden dort ermordet. Gleichgeschlechtlich begehrende und gender-non-konforme Menschen wurden zu Opfern, konnten aber auch Täter*innen sein. Manche wurden vermutlich beides zugleich.“[18]

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Queer eröffnet eine andere und weitreichende Geschichtsschreibung auf mehreren Ebenen. Indem Begehrensverhältnisse und Lebensformen in großer Vielfalt bis in die jüngste Zeit berücksichtigt werden, erhält die Frage des Geschlechts für die Geschichte eine neue Dimension. Denn es ist keinesfalls so, dass das Geschlecht für die Geschichtswissenschaft keine Rolle gespielt hätte. Vielmehr dreht sich bei ihr alles um das Geschlecht ob im Sinne von Genealogien oder eine vermeintlich biologische Normalität. Benno Gammerls Queer ist mit 233 Seiten plus Hinweisen zum Nach- und Weiterlesen ein überschaubarer Geschichtsband geblieben. Monographien zu einzelnen Herrschaftspersönlichkeiten bringen es in dieser Wissenschaft locker auf das Doppelte bis Vierfache. Insofern wird Queer nicht wegen seines schieren Umfangs, sondern wegen seiner Methodik zum Standardwerk. Es setzt einen neuen Standard in der Geschichtswissenschaft bezüglich der Geschlechterfrage.

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Und das Kleeblatt – Walter, Erich und Alice? Sie könnten vermutlich auch andere Namen haben. Es wird wohl ein vierblättriges Kleeblatt gewesen sein. Denn eines musste die anderen drei fotografieren. Während eine weibliche Person auf Westerland neben Walter im Strandsand sitzt, hat dieser sich seitlich Erich und der Kamera zugewandt. Walter und Erich waren heimlich ein Paar in Hamburg. Walter bewahrte den Taschenkalender 1938 von Erich bis zu seinem Tod auf. Schwer entzifferbare Einträge deuten gemeinsame Unternehmungen an. Erich fiel an der Westfront 1939, wie man sagt. Walter überlebte unter dem Schutz seines Vorgesetzten in der Wehrmacht den Krieg. In den 50er und 60er Jahren gab es wilde Feste. Vielmehr ist nicht überliefert. – Die Alben befinden sich im Archiv des Schwulen Museum.

Torsten Flüh

Benno Gammerl
QUEER – Lesung
Prinz Eisenherz
Datum: Samstag, 16. September 2023
Uhrzeit: 20:30 Uhr
Adresse: Motzstr. 23
Eintritt: 7,-

QUEER – Lesung
Stadtbibliothek Erlangen – Innenhof
Datum: Freitag, 22. September 2023
Uhrzeit: 19:00 Uhr
Marktplatz 1
91054 Erlangen

Benno Gammerl
Queer
Eine deutsche Geschichte
vom Kaiserreich bis heute
24,- €


[1] Benno Gammerl: Queer – Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. München: Hanser, 2023, S. 21.

[2] Siehe: DWDS: schwul – Verlaufskurve. (Verlaufskurve)

[3] Ebenda: queer – Verlaufskurve (Verlaufskurve)

[4] Zum Begriff schwul siehe auch: Torsten Flüh: „Entschuldigen Sie, Madam, aber ich bin schwul.“ Zu Robert Beachys Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity in der American Academy. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Oktober 2015. (siehe PDF unter Publikationen)

[5] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 19.

[6] Ebenda S. 20.

[7] Ebenda S. 20 – 21.

[8] Emma: Trans-Debatte. (Website)

[9] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Bundeskabinett beschließ den Entwurf zum Selbstbestimmungsgesetz 23.08.2023.

[10] Ebenda.

[11] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 27.

[12] Siehe auch Thermometer in Der Zauberberg in: Torsten Flüh: Das Gespenst der Epidemie. Zur Abwesenheit der Epidemie im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. Januar 2021.

[13] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 31.

[14] Ebenda S. 28.

[15] Ebenda S. 58.

[16] Siehe: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[17] Benno Gammerl: Queer … [wie Anm. 1] S. 97.

[18] Ebenda S. 124.

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