Mehrdeutige Stimmen und der Tod

Messe – Tonalität – Madrigal

Mehrdeutige Stimmen und der Tod

Zu Les Cris de Paris und dem RIAS-Kammerchor beim Musikfest Berlin 2025

Strana armonia d’amore (Seltsame Harmonie der Liebe) als Madrigalprogramm des Ensembles Les Cris de Paris war eigentlich eine Deutsche Erstaufführung, weil es mit den neuen Sequenzen von Francesca Verunelli zum ersten Mal in Deutschland live im Kammermusiksaal aufgeführt wurde. Die Madrigale aus dem 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts werden von den Sänger*innen im Bereich der Mikrotonalität von Nicola Vicentino (1511-1576) gesungen. Die Kombination einer an die Antike anknüpfenden Tonalität mit mehrdeutigen, alltagssprachlichen Texten oft unbekannter Dichter bringt das Madrigal hervor. Francesca Verunelli hat die Madrigale reflektiert und mit ihren Kompositionen kombiniert.

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Zum 500. Geburtstag von Giovanni Pierluigi da Palestrina kombinierte der lettische Dirigent Kaspars Putniņš seine Missa Papae Marcelli mit Kompositionen von Arvo Pärt, der am 11. September seinen 90. Geburtstag in Estland feierte. Palestrina entwickelte im 16. Jahrhundert eine Polyphonie, die nach dem Konzil von Trient zum Vorbild für sakrale Musik wurde. Die Chorwerke wurden vom exquisiten RIAS-Kammerchor Berlin, der mit Arvo Pärt seit den 1980er Jahren eine enge Verbindung pflegt, aufgeführt. Die Mikrotonalität stand bei der nach dem „stile antico“ komponierten Messe für die Inthronisation des Papstes Marcellus II. am Gründonnerstag des Jahres 1555 während des Konzils von Trient für ihr Fortwirken nicht im Vordergrund. Funktionierte die Kombination von Palestrina und Pärt?

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Zunächst einmal geht es bei den Madrigalen wie der Messe und den Liedern von Arvo Pärt um unterschiedliche Textsorten. Die alltagssprachlich-italienischen Texte der Madrigale funktionieren anders als die altgriechischen und lateinischen Texte der Liturgie. Silke Leopold weist auf die Doppeldeutigkeit der Madrigaltexte hin. Denn in den kurzen, oft reimlosen Versen wird häufig vom Tod mit „morire“ oder „morte“ gesprochen bzw. gesungen.[1] War das Zeitalter der Renaissance besonders tragisch im Tod verstrickt? Oder wurde mit dem Tod ein lebensfroh wiederholbarer Tod des Orgasmus in einen kunstvollen Gesang gekleidet? Wie die Ausstellung Gesichter der Renaissance gezeigt hat, geht zu jener Zeit in der Malerei und Literatur eine Veränderung vor sich.[2] Strana armonia d’amore von Giambattista Marino gibt einen fast programmatischen Wink. Die Seufzer und Qualen können auch auf die körperliche Liebe bezogen werden.
„Seltsame Harmonie der Liebe,
Auch sie formt bei deinem Singen mein Herz.
Des Gesangs Schlüssel
Sind die schönen süßen Augen,
Die Noten und der Tonfall
Sind meine Tränen und Klagen.
Die Seufzer, die Seufzer: stechend und schwer
Sind auch meine Qualen.“[3]  

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Giambattista Marino schrieb seit 1584 an seinem Gedicht L’Adone (Der Adonis) in unterschiedlichen Versionen über die Liebe zwischen Adonis und Venus, das als Langgedicht die Länge von Dante Alighieris Göttlicher Komödie dreimal übertraf.[4] Sigismondo d’India komponierte allerdings die kürzeren im Italienischen sich reimenden Verse aus Strana armonia d’amore. Les Cris de Paris bot als zweiten Teil In ciò diffenti, das ebenfalls an Doppeldeutigkeit nichts zu wünschen übriglässt. Der Unterschied zwischen dem singenden Herren und der Dame besteht demnach in der „Musik“, in der sich das Begehren mithören lässt.
„In ciò sol differenti,
Donna, che quel concento, che tu fai,
Ha le sue pose, il mio non posa mai.
(Darin nur verschieden,
Meine Dame, dass jene Musik, die du machst,
Ihre Pausen hat, und meine niemals ruht.)“[5]

© Fabian Schellhorn

Die Epochenzuschreibung Giambattista Marinos (1569-1625), ob er noch zur Renaissance oder dem Frühbarock gehörte, ist schwankend. Zumindest reimt er als professioneller Dichter, was zu den „rime libere“, den freien Reimen, der meisten Madrigale nicht gehört. Ausschlaggebend wurde vielmehr Nicola Vincentino mit seiner musiktheoretischen Schrift L’antica musica ridott alla moderna prattica von 1555. Les Cris de Paris unter der Leitung von Geoffrey Jourdain in Zusammenarbeit mit Francesca Verunelli geht es darum, die von Vicentino aus der Antike hergeleitete und vermischte Mikrotonalität wieder zu beleben, weil sie nicht mehr praktiziert wird. Vicentino hat in seinem einflussreichen Buch Beispiele wie Madonna, il poco dolce von einem anonymen Dichter gegeben, die im Konzert erklangen. Musica prisca caput stelle „den Höhepunkt dieser kompositorischen Umsetzungen von Vicentinos Theorie dar“, schreibt Silke Leopold.[6]
„Die Alte Musik hat gerade ihr Haupt aus den Tiefen der Dunkelheit gehoben,
So dass sie, im Wettbewerb von süßen alten Zahlen und Taten,
Deine Taten, Ippolito, hoch über den Himmel schickt.“[7]

© Fabian Schellhorn

Selbst Verse aus Dante Aligheris Göttlicher KomödieQuivi sospiri et altri guai – werden ca. 200 Jahre später von Luzzasco Luzzaschi nach Vicentinos Theorie zum kurzen, suggestiven Madrigal, das eine Sänger*in des Ensembles zelebrierte. – „Hier klangen Seufzer, Klagen und anderes Unglück/Durch die sternenlose Luft ohne Sterne/Weswegen ich, als es anhob, weinen musste, …“ – Die Texte der Madrigale oszillieren im Vicentino-Programm zwischen bereits kanonisierter Hochliteratur (Dante), anspielungsreicher Dichtung (Marino), Musiktheorie (Vicentino) und Alltagssprache (Anonym). Carlo Gesualdo komponierte ebenfalls um 1600 ein Madrigal anonymer Herkunft Moro, lasso, al mio duolo, ob die Anonymität wegen der Doppeldeutigkeiten gewahrt oder so die Volkstümlichkeit im Unterschied zur Liturgie hervorgekehrt werden sollte, wissen wir nicht.
„Ich sterbe, weh mir, vor meinem Schmerz,
Und die mir Leben geben kann,
Ach, sie tötet mich und will mir keine Hilfe geben!
O schmerzhaftes Geschick,
Die mir Leben geben kann, ach, gibt mir den Tod.“[8]   

© Fabian Schellhorn

 Francesca Verunelli und Geoffrey Jourdain gehen von der Wiederentdeckung des griechischen enharmonischen Genus durch Vicentino aus, der „die Oktave in 31 Töne teilte“.[9] Verunelli komponierte aus dieser Anknüpfung heraus VicentinoOo für Vokalensemble und zwei Tripelharfen, deren Stücke I bis V im Wechsel mit Renaissancekomponist*innen im Programm gespielt wurden. Die Stimmen der Sänger*innen Sopran, Mezzosopran, Countertenor, Tenor, Bassbariton werden bis an die „äußersten Grenzen der Intonationskunst“ getrieben. Um die Mikrotonalität zu praktizieren und im Konzert zur Geltung zu bringen, haben Verunelli und Jourdan „mit Les Cris de Paris eine besondere Methode entwickelt, die von den Sänger*innen verlangt, sich außerhalb ihrer „normalen“ stimmlichen Sphäre zu bewegen und sich auf eine radikal andere Beziehung zu ihrem Körper, ihrer Stimme und vor allem ihrer Hörweise einzulassen.“[10]

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Im Konzert fühlte sich der Berichterstatter fasziniert in eine Schule des Hörens versetzt. Vergleichbares hatte er bislang nicht gehört. Verunelli legt es mit ihrer Komposition im 4. Teil auf die Grenzen des Wahrnehmbaren mit einer kontinuierlich harmonischen Modulation in äußerst geringen Gradienten an. Akustische Wissenschaft der Frequenzen und historische Musikforschung generieren ein Klangerlebnis von hoher Intensität. Die Harfenist*innen Vincent Kibildis und Caroline Lieby sind Expert*innen für Alte Musik. Verunelli stellt die nichtharmonischen physikalischen Komponenten der Harfen in den Vordergrund, indem der Korpus der Instrumente, der Resonanzkörper, das Material der Saiten und der Resonanzboden zum Klingen gebracht werden. Die nichtharmonischen Klänge werden mit reinsten harmonischen Komponenten verbunden und erforscht. VincentinoOo wird zu einem Forschungsprojekt von den Saiten der Stimmbänder über die Saiten der Harfen und deren Klangkörper bis zu den Saiten der Viola da Gamba.

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Das Lied erhält in Verunellis Kompositionen mit der Mikrotonalität eine neuartige Form, wenn sie von „Gesang ohne Stimme und eine Stimme ohne Gesang“[11] spricht. Die Madrigale S’io non miro, non moro und Madonna, il poco dolce werden zu Material für Lieder ohne Worte. Dafür werden die Konsonanten ohne stimmhafte Laute intoniert, worauf das dreifache – oOo – einen Wink im Titel VincentinoOo gibt. Sie komponiert aus einer kompositorischen Forschung zu experimentellen Spiel- und Gesangstechniken heraus. Die Madrigale werden auf diese Weise mit den Kompositionen erforscht und reflektiert. Zugleich wird dadurch das Hören des zeitgenössischen Publikums mit seinen Normen befragt. Strana armonia d’amore ist im Februar 2025 als CD beim französischen Lable Harmonia Mundi erschienen. Die „(s)chräge(n) Harmonien“ waren nun beim Musikfest Berlin 2025 erstmals in Deutschland live zu hören, faszinierten und wurden vom Publikum im Kammermusiksaal gefeiert.

© Fabian Schellhorn

Der RIAS-Kammerchor Berlin hat, was man eine große Fangemeinde nennen könnte. Die Konzerte locken Tausende in die Philharmonie oder an andere Orte. Denn die Programme sind innovativ und wie die im Wechsel gesungenen Lieder von Arvo Pärt mit Solfeggio als ein Anfang des Singens aus der harmonischen Tonleiter heraus – do, re, mi, fa, sol, la, si – mit dem Kyrie als Eröffnung der Missa Papae Marcelli von Palestrina. Kompositionen Arvo Pärts aus dem 20. Jahrhundert mit den liturgisch festgelegten Liedern der Messe? Das war auch ein Wagnis. Die Messe wird durch den Wechsel gewissermaßen aufgelöst. Sie wird zum Chorkonzert. Geschuldet ist der Wechsel sicher einem Publikum, das sich als eher kirchenfern versteht. Die Polyphonie Palestrinas die musikhistorisch zum „Palestrina-Stil“ wurde und zahllose Komponist*innen inspirierte wurde mit der von Arvo Pärt geprägten Klangästhetik seines „Tintinnabuli-Stils“ wechselweise gesungen. Pärt formulierte seine Tonalität folgendermaßen:
„Ich habe entdeckt, dass es genügt, wenn ein einziger Ton schön gespielt wird. Dieser Ton, die Stille oder das Schweigen beruhigen mich. … Ich baue aus primitivem Stoff, aus einem Dreiklang, einer bestimmten Tonqualität. Die drei Klänge eines Dreiklangs wirken glockenähnlich. So habe ich es Tintinnabuli genannt.“[12]

© Fabian Schellhorn

Man könnte Tintinnabuli auch eine Beruhigungsmusik nennen. Beruhigte in der Messe die Wiederholbarkeit durch die Liturgie als ein Kirchenwissen, so wurde Arvo Pärt seit Mitte der 1970er Jahre zum Komponisten einer mit christlichen Bezügen und Texten beruhigenden Musik. Die zeitgenössische Chormusik Arvo Pärts, des in Estland als Teil der Sowjetunion lebenden Komponisten stand in ihrer minimalistischen Klangästhetik „in starkem Widerspruch zum real existierenden Sozialismus“.[13] 1980 verließ Pärt die Sowjetrepublik Estland und kam schließlich nach West-Berlin, wo er schnell Kontakt zum RIAS-Kammerchor bekam. In den 80er Jahren galten Arvo Pärts Kompositionen im Westen als innovativ gegen eine zeitgenössische Moderne, die sich gerade nicht mehr auf einen harmonischen Dreiklang einlassen wollte. Palestrina und Pärt waren in jeweils unterschiedlichen musikpolitischen Diskussionen ihrer Zeit hoch politische Komponisten. Der Wunsch nach und das Versprechen von Beruhigung spielte bis in die Jahre um 2000 gewiss eine größere Rolle als heute. Arvo Pärt ist durchaus ein wenig aus der Mode gekommen.

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Im Konzert unter der Leitung von Kaspars Putniņš werden Ähnlichkeiten von Palestrina und Pärt auf höchstem Niveau des Chorgesangs hörbar. Der Dirigent gibt zu bedenken, dass Pärt „mittelalterliche Gesänge sowie die Polyphonie des 16. Jahrhunderts, darunter auch Palestrina“ studiert habe, um in seinen Kompositionen eine „spirituelle Tiefe, expressive Klarheit und eine sorgfältige Balance zwischen Emotionen und Form“ zu erzeugen.[14] Die einzelnen Liedgesänge wurden entsprechend ohne Applaus bis zur Pause und zum Ende in konzentrierter Aufmerksamkeit aufgeführt. Es gab tosenden Applaus für den Chor. – Allerdings ließ sich auch im Publikum beobachten, dass es mit der Spiritualität des Gebetes Nunc Dimittis – „Nunc dimittis servum, Domine, … et in saecula saeculorum. Amen.“[15] – von Arvo Pärt eher wenig anfangen konnte. Die christliche Formel „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ gehört für ein Publikum, das sich immer stärker von der Katholischen wie der Evangelischen Kirche in Deutschland abgewendet hat, nicht mehr zum spirituellen, nachvollziehbaren Wissen.

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Die Missa Papae Marcelli wie Magnificat von Pärt sind als Kirchentexte auf Latein geschrieben. D.h. auch, dass das Wort als Verkündigung im Vordergrund steht. Die Musik als Gesang soll das Wort ausschmücken und verstärken. Auf dem Konzil von Trient im 16. Jahrhundert wird darüber diskutiert, ob die Polyphonie das als unantastbar oder heilig geltende Wort schwächt oder stärkt. Selbst die Evangelikalen der USA und Donald Trump führen heute vor, dass sich das einst zelebrierte Wort der Bibel systematisch in eine beliebige Lüge verkehren lässt. Palestrina wurde mit der Missa Papae Marcelli in der Musikgeschichte als Retter der Polyphonie für die systematischen Texte der Liturgie bis ins 20. Jahrhundert verehrt. Doch zwischenzeitlich erodiert eine Verbindlichkeit des Wortes. Bei aller Kunst des Chorgesangs, der nicht zuletzt in einer brillanten Verständlichkeit des Wortes bestand, erzeugte das Konzert eine Faszination und Befremden.

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Die Wiederholbarkeit der liturgischen Texte, durch die die Gläubigen lernen, sie kennen und nachsprechen konnten und sollten, ist heute als kulturelle Praxis zum größten Teil verschwunden. Die Messe ist zum Konzertereignis geworden und in einer von Worten tosenden Welt, die oft sogleich widerrufen werden oder einfach in den Kanälen weiterbrummen, zum Beruhigungsmittel geworden. Das gilt für Palestrina wie für Pärt, die dem Wort eine größere Wirkkraft geben wollten.

Torsten Flüh

„Strana armonia d’amore“.
Madrigale von Vicentino, Gesualdo, Nenna, Verunelli
Les Cris de Paris, Geoffroy Jourdain
1h15 1 CD HMM905383
Februar 2025

Palestrina 500
Pärt 90

Deutschlandfunk Kultur
ab 11. September 30 Tage im Web


[1] Silke Leopold: Vom Sterben und anderen Ambivalenzen. In: Musikfest Berlin 2025: Abendprogramm 9.9.2025. Les Cris de Paris. Gesualdo/Rossi/Vientino/Verunelli u.a. Berlin 2025, S. 7.

[2] Siehe Torsten Flüh: Wiedergeburt der Wiedergeburt. Gesichter der Renaissance im Bode Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. August 2011.

[3] Zitiert nach Übersetzung: Musikfest Berlin 2025: 9.9.2015 … [wie Anm. 1] S.17.

[4] Siehe: L’Adone. Wikipedia italiano.

[5] Zitiert nach: Musikfest … [wie Anm. 1] S. 16 und S. 17.

[6] Ebenda S. 8.

[7] Musica prisca caput übersetzt zitiert nach ebenda S. 21.

[8] Ebenda S. 25.

[9] Francesca Verunelli über VincentinoOo. In: ebenda S. 12.

[10] Ebenda S. 12-13.

[11] Ebenda S. 15.

[12] Zitiert nach: Bernhard Schrammek: Palestrina und Pärt. Die ferne Nähe zweier Jubilare. In: RIAS Kammerchor Berlin: Palestrina 500 Pärt 90 11. Sept 2025. Berlin 2025, S. 11,

[13] Ebenda.

[14] Drei Fragen an Kaspars Putniņš. In: Ebenda S. 5.

[15] Ebenda S. 15.

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