Mystik – Coding – Schrift
Immersives Tiefenerlebnis per Code
Zu Sahar Homamis Ausstellung XODخود bei SOMA 300 in der Eylauer Straße 9
Séverine Galiano hat XOD von Sahar Homami in drei außergewöhnlich hohen Räumen von SOMA 300 kuratiert. XOD liest sich erst einmal wie ein Code, ein Computercode. Was oder wer wird hier codiert? Oder wird etwas kalligraphisch wiedergeschrieben? Nachdem die Besucher*innen von der Eylauer Straße 9 in einer Licht- und Klanginstallation eine steile Treppe hinab auf das Niveau der Neubauten Am Lokdepot gestiegen sind, tauchen sie ein in eine kalligraphische Reise um das Selbst, mit anderen Schriftzeichen: خود XOD. Das Areal am einstigen Tempelhofer Berg, der jetzt Kreuzberg genannt wird, kennt größere Höhenunterschiede zwischen bergigen 66 Metern über Normalhöhen Null, Urstromtal und industrieller Eisenbahnarchitektur um 1900. Die Lettern SOMA lassen sich nach dem altgriechischen σῶμα (sõma) als Körper lesen und passen daher auch zum Ausstellungsraum, den sich die Besucher*innen körperlich begeben.
Sahar Homamis Ausstellung XOD inszeniert Schreib-Lese-Szenen sinnlich an der Schnittstelle von ebenso haptischer wie visueller Kalligraphie. Durch die Kalligraphie tendiert die Schrift ins Figurative. Die Codierung als Schrift aus 0 und 1 lässt die zweidimensionale Kalligraphie von Hand ins visuell Dreidimensionale expandieren. Immer schon tendierte die Verräumlichung der Schrift ins Dreidimensionale, wenn sie beispielsweise in chinesische Orakelknochen[1] oder ägyptische Tontafeln geritzt oder als urzeitliche Wahrsagelebern geformt wurde.[2] Sahar Homami verarbeitet insbesondere im Augmented Space Schrift in eine visuell erweiterte Erfahrung. Die visuelle Wahrnehmung wird durch codierte Animation in einen Strom hineingezogen. Die Erweiterung wird zugleich zu einer Einschließung. Durch die Codierung als Schriftmodul werden „Ich“, „Du“, „Selbst“ und „Gott“ in einen visuellen Strudel hineingezogen, an dessen Ende sich ein Auge abzeichnet.
Die Arbeiten der Kalligraphin und Programmiererin Homami entwickeln sich aus einer transkulturellen Erforschung der Schrift. In der Kalligraphie überschneiden sich ästhetische Modelle mit der Generierung von Sinn. Der Ursprung der Kalligraphie lässt sich schwer eingrenzen. Gilt sie der ästhetischen Freude an der Schrift als Steigerung von Sinn? Oder verlangt die Chirographie eine Aufgabe des Sinns an die Schönheit der Form und der Linien? Die illuminierten Handschriften des Mittelalters oder schon die ägyptischen Papyri tendieren immer zu einem ästhetischen und poetischen Überschuss. Sehr oft werden in der Kalligraphie solche Schriftzeichen wiederholt, die bereits wiederholt worden sind. Kalligraph*innen sind immer auch Kopist*innen, bevor die technische Vervielfältigung seit dem Druck das Handwerk des Kopierens übernahm. Wir wissen nicht, ob jede Kopist*in verstand, was sie schrieb. Überwiegend wurde die Kalligraphie im religiösen Kontext von Männern ausgeübt und als Praxis besetzt.
Die Kalligraphie lässt sich zunächst einmal als eine Praxis hingebungsvollen Schreibens von Männern bedenken. Schriftsteller*innen ihrerseits sind selten Kalligraph*innen. Oft verschwindet der Name des Kalligraphen in der Geschichte hinter dem Autor. Die Position des Kalligraphen ist ein unsichere, schwankende, weil die Handschrift mit dem Projekt der Aufklärung und des Wissens vom Menschen zu aller erst konzeptualisiert werden musste. Johann Caspar Lavater formulierte 1777 die Handschrift zu einem physiognomischen Indiz um. – „Setzt man es nicht als die höchste Wahrscheinlichkeit voraus, daß (seltene Menschen ausgenommen) jeder Mensch seine eigene, individuelle, und unnachahmbare, wenigstens selten und schwer ganz nachahmbare Handschrift habe?“[3] – Die Handschrift wird durch Lavater zu einem Gegenstand des Wissens wie es in seinen mehrbändigen Physiognomische(n) Fragmente(n), zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe im Titel versprochen wird. Doch in der Praxis der Kalligraphie als Chirographie geht es darum, die „eigene individuelle, und unnachahmbare … Handschrift“ mit der Hand aufzugeben. Sahar Homami knüpft mit خود XOD nicht zuletzt an die persische Kalligraphie Nastaʿlīq aus der Zeit um 1400 an. خود lässt sich als Selbst übersetzen und berührt damit die Praxis von Schrift und Selbst. An der Kalligraphie des خود wird das Selbst gemessen oder auch in der Schönheit aufgelöst.
Im Persischen gibt es eine graphische Nähe des Selbst zu خداوند beziehungsweise phonetisch zu xoda, was als Gott übersetzt wird. Insofern geht es mit XOD kalligraphisch um eine Schnittstelle von Selbst und Körper. Nicht zuletzt hatte Lavater Hände als Zeichen des Charakters gelesen. Die Hand und die Körperlichkeit der Handschrift werden in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Selbstapparat verschaltet. Gerade an der Handschrift entwickelt sich eine Debatte um das Selbst bis zur „Schönschrift“ in der 3. Klasse der Grundschule. Lernmaterialien richten das Schönschreiben aus und versprechen eine „Schriftverbesserung“ in der „Grundschrift“.[4] Durch die „Schönschrift“ im Grundschulalter wird paradoxer Weise das Selbst geformt, das bereits vorhanden sein soll. In fast allen modernen Schriftkulturen wird das Erlernen einer Grundschrift mit dem Schreiben von der Hand erlernt und normiert.
Sahar Homami erforscht und entwickelt mit der Kalligraphie eine Schnittstelle von Selbstproduktion und Selbstauslöschung wie sie in meditativen Praktiken des Sufismus, Mystizismus oder Zen-Buddhismus geübt wird. Die Kopisten heiliger Schriften ob im Christentum des Mittelalters, im Judentum oder Islam und auch anderer Schriftkulturen müssen sich ganz der Schönheit der Schrift im mehrfachen Sinne unterwerfen. Anders gesagt: Kopisten wie sie noch für die Anfertigung einer Thorarolle tätig sind, schreiben sich in eine augmented reality hinein, die ihre ausschließliche Konzentration und Leichtigkeit verlangt. Ein falscher Strich oder Punkt zerstört die Heiligkeit der Schrift. Am Bildschirm lässt er sich mit der Tastatur löschen. Auf der Thorarolle mit Tinte nicht. Die Praxis der Kalligraphie stellt komplexe Anforderungen, die selten bedacht werden. Sahar Homami arbeitet mit ihnen die Technik und sich selbst erforschend. Im aktuell viel besprochenen augmented space tauchen die kalligraphischen und kopierenden Praktiken nur anders auf, während wir uns seit dem Schönschrift-Unterricht in der Grundschule bereits hineingeschrieben haben.
Die Kalligraphin schreibt Love anders. Die Kaligraphien zu diesem Titel enthalten weder das Wort Liebe noch können sich die Betrachter*innen sicher sein, ob die runden Muster von Hand geschrieben sind oder von einem graphischen Programm durch einen Code generiert wurden. Doch die Love-Kaligraphien erinnern an hinduistische oder buddhistische Mandalas. Die in einem Kreis Formen wiederholen und ordnen. Junge Inder*innen praktizieren das Mandala-Malen oder -Schreiben als Entspannungstechnik. Mandalas können zugleich als eine Praxis der Leere oder der Fülle entstehen. Sie sollen nichts darstellen oder bedeuten. Mit dem Wort Love werden die Mandalas semantisch aufgeladen und situieren sich doch jenseits einer Darstellung von Liebe. Sahar Homami arbeitet mit Begriffen und visuellen Erfahrungen, die zugleich auf Literaturen aus unterschiedlichen Kulturen rekurrieren. Doch sie ist keine Erzählerin. Eher eine Ermöglicherin des Erzählens, indem sie Ornamente und Strukturen anbietet.
Der Begriff فناء fana‘ wird vom Sufismus gebraucht und geprägt. Er wird mit Erlöschen oder Schwinden des Ich-Bewusstseins übersetzt. Insofern bietet er ein Gegenkonzept zum Selbst an. Durch فناء wird eine konzeptuelle Nähe zu Gott versprochen, die vor allem durch Männer praktiziert wird. Durch die Praxis des فناء wird eine dialektische Selbstaufgabe geübt, die eine Vereinigung mit der Schrift verspricht. Sahar Homami versteht ihr Forschung und Kunst zugleich als eine feministische Intervention in patriarchale Herrschaftspraktiken. Denn ihre Arbeiten legen die religiösen Praktiken als solche erst frei. Durch eine technisch ausgefeilte Projektion wird in der fana‘-Installation jeder Körper, der den Raum betritt, als Flamme projiziert und verbrannt. Insofern wird ein körperliches Ich als Projektion ausgelöscht und versprochen. Die Dichterin Ginka Steinwachs, die die Ausstellung gleichzeitig besuchte, begab sich an der Wand als Projektionsfläche sozusagen in die projizierten Körper. Tiefe und Oberfläche brechen sich so gesehen in der فناء-Installation.
Durch eine Art Notfall konnte die Besprechung nicht wie geplant vor dem 26. November erscheinen, womit es möglich gewesen wäre, die von Séverine Galiano kuratierte Ausstellung noch zu besuchen. Sahar Homamis kalligraphische Forschungen werden sich indessen weiterentwickeln. Mit XOD hat sie allererst auf die Vieldeutigkeit der Kalligraphie als Praxis aufmerksam gemacht.
Torsten Flüh
Sahar Homami
www.saharhomami.com
Séverine Galiano
https://art-et-industrie.com
[1] Zur Orakelknochenschrift siehe: Torsten Flüh: Gold, Rot, Schwarz verbandelt. Zur Ähnlichkeit in der höchst erfolgreichen Ausstellung China und Ägypten – Wiegen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN September 27, 2017 15:27.
[2] Zu den Wahrsagelebern siehe: Torsten Flüh: Bezaubernd verhext. Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. Dezember 2021.
[3] Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 112. (Deutsches Textarchiv)
[4] Siehe beispielsweise: Unterrichtsmaterialien für die Grundschule. Schön schreiben mit Grundschrift Heft 3. grundschulmaterial.de