Taktstock – Hand – Tanz
Furios tänzelnde Eröffnungen des Musikfestes Berlin 2025
Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra und Karina Canellakis das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra
Zwei Spitzenorchester aus den Niederlanden eröffneten am Samstag und Sonntag das Musikfest Berlin 2025. Die Starqualitäten von Klaus Mäkelä aus der Generation U30 sind bereits bekannt. Nach seinem epochalen Debüt mit dem Concertgebouworkest beim Musikfest Berlin 2022, bei dem er Kaija Saariahos kosmologisch-spektrale Komposition Orion und Gustav Mahlers 6. Symphonie dirigierte[1] und seinem Dirigat der Oslo Philharmonic mit Einojuhani Rautavaaras Cantus Arcticus, Kaija Saariahos Vista und Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 5 d-Moll im letzten Jahr[2], brillierte er nun mit Rendering von Franz Schubert/Luciano Berio und Béla Bartóks Konzert für Orchester.

Nicht ganz so kometenhaft ist der beachtliche Aufstieg von Karina Canellakis als Dirigentin mit ihrem Netherlands Radio Philharmonic Orchestra. Ihre Karriere als Dirigentin wurde nicht zuletzt durch Sir Simon Rattle ermutigt, nachdem sie bereits Solo-Violine spielte. Sie erhielt ein Stipendium der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker. Nun glänzte sie am Sonntag in der Philharmonie mit einem facettenreichen Programm, das dem Orchester alle Nuancen abverlangte. Mit Les offrandes oubliées Sinfonische Meditation von Olivier Messiaen eröffnete sie das Konzert äußerst feinsinnig, um mit Pierre Boulez‘ Le soleil des eaux und Robin de Raaffs L’Azur im ersten Teil poetisch fortzufahren. Im zweiten Teil ging es mit Sergej Rachmaninows Sinfonischen Tänzen op. 45 furios weiter.

Bei den Dirigent*innen ließ sich beobachten, wann und wie sie mit dem Taktstock dirigieren. Wann der Taktstock eingesetzt wird und wann die Hand ohne Taktstock mehr aus dem Klangkörper herausholen kann, lässt sich für mich bislang nicht sagen. Grund genug, der Frage einmal genauer nachzugehen. Klaus Mäkelä setzte bei Rendering seinen Taktstock ganz gezielt ein. Luciano Berio nannte 1990 seine Verarbeitung der fragmentarischen Skizzen zu Franz Schuberts 10. Sinfonie in D-Dur von Oktober-November 1828 nicht eine Komplettierung, vielmehr gibt der Titel einen Wink auf Berios Arbeitsweise des Transkribierens von Partituren. Rendering in drei Sätzen I, II, III trägt in den Sinfoniefragmenten keine Tempoangaben wie Allegro maestoso für den ersten Satz.[3] Die Wiedergabe/Rendering wird von Luciano Berio im Horizont des späten 20. Jahrhunderts komponiert.

Auf Luciano Berio, der am 24. Oktober einhundert Jahre geworden wäre, wird zurückukommen sein. Er bildet einen Schwerpunkt im Programm des Musikfestes Berlin 2025, das bis 23. September nach dem Royal Concertgebouw Orchestra und dem Netherlands Radio Philharmonic Orchestra mit dem Orchestre de Paris, Ensemble Modern und dem Orchestre des Champs-Élysées sowie abschließend mit dem Busan Philharmonic Orchestra aus Südkorea internationale Spitzenorchester neben den Berliner Philharmonikern, der Staatskapelle, dem Konzerthausorchester etc. wieder ein Ensemble der besten Orchester bietet. Fast jedes Konzert auf seine Weise ein Höhepunkt im Kalender. Kompositionen von Berio werden im Programm immer wiederkehren. In NIGHT OUT @ BERLIN soll er vertiefend besprochen werden.

2024 war beim Musikfest Berlin bereits die Filarmonica della Scalla unter der Leitung von Riccardo Chailly mit Luciano Berios Quatre dédicaces zu Gast.[4] Riccardo Chailly und Luciano Berio verband eine Freundschaft, so dass Chailly am 19. April 1990 die Uraufführung der finalen Fassung von Rendering mit dem Royal Concertgebouw Orchestra in Amsterdam dirigierte. Berio widmete dem fast 30 Jahre jüngeren Dirigenten und damaligen Chefdirigenten des Orchesters die Komposition, die jetzt Klaus Mäkelä dirigierte. Rendering ist insofern eng mit Orchester verbunden. Sie zählt zu den wichtigsten Kompositionen und Umschriften von Luciano Berio. Neben Rendering als ein wichtiges Schlüsselwerk seines Komponierens, hielt Berio 1993-1994 6 Charles Eliot Norton Lectures unter dem Titel Remembering the Future an der Harvard University, die 1925 gegründet wurden.

Die Norton Lectures in Harvard sind herausragende Vorlesungen in Literatur und Musik, die u.a. von Igor Strawinsky, Tony Morrisson und eben Luciano Berio gehalten wurden und werden, um nur 3 von 100 Personen zu nennen.[5] Auf Remembering the Future wird zurückzukommen sein. Neben dem mit einer paradoxen Geste formulierten Titel geben die einzelnen Vorlesungstitel bereits einen Hinweis auf Berios Komponieren, die er ohne die Einladung womöglich nie formuliert hätte. In der ersten Vorlesung Formations verwirft er bereits eine lineare Musikgeschichte, wie sie für Rendering in Anschlag gebracht werden könnte:
„The honor of delivering the Norton Lectures coincides with my desire to express my doubts about the possibility of offering today a unified vision of musical thought and practice, and of mapping out a homogeneous and linear view of recent musical developments. I am not even sure that we can find a guiding thread through the intricate musical maze of the last few decades, nor do I intend to attempt a taxonomy, or seek to define the innumerable ways of coming to grips with the music we carry with us.‟[6]

Die Eröffnung der Vorlesung lässt sich als Kommentar zum fulminanten Rendering lesen. Berio positioniert sich mit dieser Eröffnung nicht zuletzt gegen den Akademismus einer Vervollständigung der Fragmente zur Sinfonie von Franz Schubert. Es gibt mit Berio keine einheitliche oder vereinheitlichte Vorstellung des musikalischen Denkens. Und er kann nicht einmal eine Kartierung eines einheitlichen und linearen Blicks der jüngsten musikalischen Entwicklungen geben. Vielmehr interessierte sich Berio nach Olivia Artner „stilistisch für ausnahmslos alles“ und beherrschte virtuos „sein Handwerk von elektroakustischer Musik bis zu großen Orchesterwerken“.[7] Klaus Mäkelä dirigiert Rendering fast tänzerisch, aber äußerst präzise mit dem Taktstock. Eine Todesdramatik der letzten Komposition fehlt. Denn Berio interessierte sich weit stärker für Schuberts „melodische und harmonische Bausteine“[8], die keinen Zusammenhang mehr stiften.

Berio nannte das Komponieren von Rendering einen „Akt der Liebe“, weshalb die vorbehaltlose Hinwendung zu Schuberts Fragmenten klingt wie Schubert und nicht wie eine Komposition des 20. Jahrhunderts. Diese Ebene der Komposition arbeitete Klaus Mäkelä mit dem Royal Concertgebouw Orchestra überzeugend heraus. Bei Franz Schubert generiert das Leichte, das Tänzerische immer auch Fallhöhe. Mit Béla Bartóks Konzert für Orchester von 1943 könnte das Konzertprogramm auch als eine Lehrstunde in der Musik des 20. Jahrhunderts und ihren Praktiken der Transkription gehört werden. Denn Bartók widmete sich auf eine andere Weise der „Transkriptionsarbeit“.[9] Im New Yorker Exil hielt er 1942 Vorträge als Musikethnologe, weil er die ungarische, rumänische und slawische Volksmusik erforscht und transkribiert hatte. Diese Spur findet sich auch im Konzert für Orchester, obwohl sie für die meisten Hörer*innen kaum zu hören sein wird. Man kann sich beispielsweise Musikwissen anlese oder durch das Hören von Aufzeichnungen einüben. Aber welch Konzertbesucher*inn macht das heute noch?!

Das Concerto for Orchestra, das als Kompositionsauftrag der Koussevitzky Music Foundation mit dem Boston Symphony Orchestra unter Serge Koussevitzky uraufgeführt wurde, komponiert Melodien von ungarischen Liedern, serbokroatischen Tänzen, transsilvanischen Klagegesängen, slowakischer und rumänischer Volksmusik. Die Melodien entfalten im solistisch pointierten Konzert ihre Eigendynamik. „Auch parodiert Bartók … ein Thema aus der 7. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch und verquickt es mit einer Arie aus Franz Lehárs Operette Die Lustige Witwe.“[10] Ist das humorvoll oder doch eher abwertend? Schostakowitsch ein Operettenkomponist? Man könnte insofern sagen, dass Bartók in seinem letzten großen Werk sein Musikwissen und das seiner Zeit in eine sinfonische Form von 5 Sätzen – Introduzione, Giucco delle coppie, Elegia, Intermezzo interrotto, Finale – verarbeitet, um einen nicht zuletzt ironischen Effekt der Gattung Sinfonie schaffen.

Das Konzert für Orchester endet fulminant und schnell mit dem Presto und den Hornfanfaren. Die Kombination aus Pesante (schwer) und Presto (schnell) reißt die Hörer*innen so sehr zum Beifall hin, dass die sehr wohl enthaltene Ironie überhört werden kann. Die Kombination der Musikgenre beim Umschreiben und Komponieren deutet die Ironie an. Sie muss allerdings erst einmal hörbar gemacht werden. Der wohlkalkulierte Wechsel der Tempi wie der Melodien vom Lied über Tänze und Klagegesänge bis zur Operettenarie generiert Rhythmus mit einem umfangreichen Schlagwerk und (tonale) Tiefe mit nicht zuletzt 8 Kontrabässen. Es ist ein farbenprächtiges und dramaturgisch durchdachtes Meisterwerk. Klaus Mäkelä und das Royal Concertgebouw Orchestra holten insbesondere bei den solistischen Passagen den Furor und die Brillanz aus der Komposition heraus, so dass das Publikum frenetisch applaudierte.

Der Taktstock als Utensil zum Dirigieren kommt in seiner heutigen Form zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien als Zentrum der k. und k. Monarchie in Gebrauch. Adel und Bürgertum bilden eine Allianz des Fortschritts in Österreich-Ungarn. Im Katalog der Staatsbibliothek werden beim Suchbegriff „Taktstock“ 120 Treffer angezeigt. Als erstes wird „Pult und Taktstock: Fachzeitschrift für Dirigenten“ angezeigt. Die „Fachzeitschrift“ erschien von 1924-1930 in Wien. Eine Geschichte des Taktstockes wird auf Wikipedia umrissen[11], aber lässt sich nicht unter den 120 Treffern finden. Stattdessen wird der Aufsatz „Der Controller als Taktstock: Musikanalyse-Software als Werkzeug der Ludomusicology“ von Reinke Swinning in „Softwaregestützte Interpretationsforschung“ von 2023 angezeigt. Der Taktstock gleitet hinüber in die Software, ließe sich sagen. Offenbar werden Vorläufer des Taktstockes seit der frühen Neuzeit im 17. Jahrhundert bei Musikaufführungen gebraucht. Deshalb ließe sich formulieren, dass der Taktstock als Utensil zum Dirigieren in Gebrauch kommt, als die Mathematik und das Zählen in der Philosophie René Descartes‘ wichtig werden. Die Schläge der Taktstöcke funktionieren wie Uhren für die Disziplinierung des Orchesters.

Der Taktstock war zunächst nicht standardisiert als kleines, helles Stäblein, vielmehr konnte er im Barock recht prunkvolle Formen annehmen. Im Berliner Musikinstrumentenmuseum bzw. Staatlichen Institut für Musikforschung gleich neben der Philharmonie befindet sich ein reich verzierter Taktstock aus Ebenholz mit Silberbeschlag, der vermutlich um 1880 in Berlin hergestellt wurde.[12] Er wird als Geschenk von A. Hofmann an den Dirigenten und Komponisten Arno Keffel (1840-1913) beschrieben. Keffel verstarb in Berlin Nikolassee, womit er im Berliner Musikleben eine gewisse Rolle gespielt haben dürfte. Die Villenkolonie Nikolassee war erst 1901 gegründet worden. Arno Keffel ist nicht sehr berühmt geworden, war allerdings in der Lage sich eine Villa in Nikolassee zu leisten. Sein kunstvoller Taktstock mit Leier aus Silber gibt einen Wink auf die bürgerliche Vielschichtigkeit des Stäbleins.

Karina Canellakis dirigiert Olivier Messiaens Sinfonische Meditation Les offrandes oubliées/Die vergessenen Opfergaben (1930) mit den Händen ohne Taktstock. Weil Canellakis später auch einen Taktstock benutzt, wählt sie offenbar die Praxis des Dirigierens nach der Komposition aus. Das Frühwerk des 22jährigen Komponisten Messiaen ist gut dokumentiert und behandelt in drei ineinander übergehenden Teilen den Opfertod Christi am Kreuz, die Sünde des Vergessens der wahren Liebe Christi und die Verklärung dieser Liebe im Abendmahl. Messiaen formuliert damit nicht zuletzt ein kirchenmusikalisches Liturgiewissen, das 1930 im katholischen Frankreich und Paris noch eine gewisse Verbreitung hatte. Er konnte dieses eingeübte Wissen von der Praxis eines katholischen Gottesdienstes voraussetzen. Die Meditation wird eher für einen Kirchenraum als für den Konzertsaal geschrieben worden sein. Dafür komponiert Messiaen den ersten Teil mit Melismen, die an gregorianische Gesänge erinnern können. Die sinfonische Meditation, die von Karina Canellakis mit dem Netherlands Radio Philharmonic Orchestra zugleich zeitgenössisch klingt, transformiert die christlich-religiösen Ursprünge in eine neue Musiksprache.

Olivier Messiaens hat seiner Partitur ein programmatisches Gedicht vorangestellt, das die drei Teile – La Croix, La Péché, L’Eucharistie – stärker verortet. Es sind wichtige Informationen für die Musik. Doch paradoxerweise müsste man heute für die französische und deutsche oder auch niederländische Kultur eine Kirchenferne in Anschlag bringen, die die Programmatik der Komposition nicht mehr nachvollziehen kann und will. Canellakis dirigiert den ersten Teil, in dem es um das Kreuz gehen soll, denn auch mit den Händen „sehr weich“. Sie modelliert mehr den Klang sehr konzentriert, als dass sie den Takt angeben würde. Zur Kunst dem Dirigierens gehört es auch eine Körpersprache für die Partitur zu finden – oder die Partitur in eine Körpersprache umzuschreiben. Im zweiten Teil (Die Sünde) werden die stampfend orgiastischen Rhythmen deutlich herausgearbeitet. Der dritte Teil (Das Abendmahl) beruhigt das Gemüt wieder, indem Violinen und Bratschen vorherrschen. So lässt sich Olivier Messiaen 2025 im Konzertsaal dirigieren und spielen.

Vermutlich war es nicht Olivier Messiaen als Komponist allein, der ihn in das Konzertprogramm brachte. Vielmehr ging es um eine akustische Hinführung zur Deutschen Erstaufführung von Robin de Raaffs Kantate für Chor und Orchester L’Azur als Auftragswerk des Lucerne Festivals unter Mitfinanzierung der Stiftung Pierre Boulez zum 100. Geburtstag eines der wichtigsten Komponisten und Dirigenten sowie Musikforschers des 20. Jahrhunderts. Denn der 18-jährige Boulez nahm 1943 an privaten „Analysekursen“ des 35-jährigen Messiaen in Paris teil.[13] Die historische Überschneidung sollte dabei nicht überlesen werden: Die Analysekurse in Messiaens Wohnung werden 1943 unter der deutschen Besatzung etwas Konspiratives gehabt haben. Die analytische Brillanz Pierre Boulez‘ könnte somit auf Messiaen und die Erfahrung des Politischen in der Musik zurückgehen. Schon 1948 komponierte Boulez das Gedicht Le soleil des eaux (Die Sonne des Wassers) von René Char, das als zweite Komposition im Konzert mit der Sopranistin Liv Redpath und dem Netherlands Radio Choir erklang.

Die beiden von Pierre Boulez komponierten Gedichte von René Char für Sopran, gemischten Chor und Orchester Complaine du lézard amoureux/Klage der verliebten Eidechse und La Sorgue, Chanson pur Yvonne/Die Sorgue, Lied für Yvonne schlagen im Unterschied zu Messiaens Meditation keine christliche Thematik an, sondern wenden sich mit der Eidechse und dem Fluss Sorgue lebensweltlich-politischen Themen zu. Denn an der Sorgue sollte eine Gipsfabrik gebaut werden, die den Fluss verschmutzt und die Fischer im südfranzösischen Vaucluse um ihren Lebensunterhalt gebracht hätte.[14] Boulez‘ Wahl, sich dem konkret Weltlichen und Politischen in den Gedichten von René Char zuzuwenden und nicht der kirchenmusikalischen Programmatik Messiaens, wird nicht zuletzt dadurch markiert, dass die Gedichte vom Chor mehr gesprochen als gesungen werden. Der Sprechgesang auf Französisch sollte insofern vor allem verstehbar sein. Die Orchestermusik sollte es verstärken. Warum wurden keine Übertitel auf Französisch und Deutsch eingeblendet?

Mit Messiaen und Boulez wurde bereits die Frage des Komponierens im 20. Jahrhundert zwischen Gottesglauben, Politisierung und Säkularisierung angekündigt. Als Meisterschüler von Pierre Boulez weiß der Komponist Robin de Raaff um die Fragen, die seinen Lehrer umtrieben. Wiederum geht es um ein Gedicht, das diesmal als „Kantate für Chor und Orchester“ komponiert wird. Obwohl die Kantate nicht ausschließlich auf die Kirchenmusik festgelegt ist, wurde sie doch in der Musikgeschichte durch die Kirchenkantaten als Form seit dem Barock besonders verbreitet. De Raaff komponiert L’Azur von Stéphane Mallarmé zu einer Kantate, wobei das Gedicht zunächst Le Ciel (Der Himmel) heißen sollte. Doch dem zweifelnden Dichter Mallarmé war Le Ciel durch das Christentum zu sehr aufgeladen, so dass er allein die Farbe Himmelsblau, L’Azur, zum Titel machte. Der Komponist erläutert seine Interpretation entsprechend:
„Diese Unsicherheiten muss Mallarmé in Bezug auf sein künstlerisches Schaffen durchlebt haben, so real wird das Leid, dass er im Titel des Gedichts das Wort Le ciel (Himmel) in L’Azur (Der Azur) umwandelte. Dadurch reduzierte er die symbolische und übermächtige Bedeutung des Himmels auf eine distanzierte und abstraktere physische Allgegenwart.“[15]

Robin de Raaff gibt freimütig darüber Auskunft, welchen Anstoß er erhielt, um L’Azur mit dem Werk und dem Denken-Komponieren von Pierre Boulez zu verknüpfen. Zur Eröffnung des Musikfestes 2018 hatte Daniel Barenboim an seinen Freund und Lehrer Pierre Boulez mit der Aufführung von Rituel in memoriam Bruno Maderna (1974-75) erinnert. Mit dem Nachklang auf den Freund wollte Boulez das Orchester auf dem Konzertpodium auflösen und in 8 Gruppen im Saal verteilen. Barenboim führte 2018 vor, wie immer wieder derselbe „Akkord in seiner Komplexität“ von den 8 Gruppen variiert wird.[16] Robin de Raaff lässt Boulez anders nachklingen:
„Der erste entscheidende Schlüssel war für mich der Moment, als ich das Gedicht zu ersten Mal las. In der vorletzten Strophe hört der Dichter das Blau des Himmels ,in den Glocken singen‘. Und Boulez war von Kirchenglocken besessen, verständlicherweise.“[17]

Der Komponist macht das „Singen der Glocken“ oder Läuten in den Röhrenglocken hörbar. Das visuelle Blau des Himmels wird in das akustische Läuten der Glocken verschoben. Die poetisch-kompositorische Verschiebung unterscheidet sich vom sprichwörtlichen und oft komponierten Läuten der Kirchenglocken im Himmel. Es geht um eine komplexe Komposition von Worten und Klang. Spätestens an diesem Punkt vermisste der Berichterstatter Übertitel zum Mitlesen des Gedichtes. Das Gedicht soll auch im Mitlesen verstanden werden. Denn Robin de Raaff hat an das Mallarmé-Gedicht anknüpfend noch eine Coda in Französisch hinzugefügt, die seine Intention deutlich macht. Der religiöse Selbstzweifel des Dichters wird mit dem kosmischen Schmetterlingsnebel poetisch aufgelöst:
„Weiter weg scheint der Schmetterlingsnebel
an das Himmelsgewölbe geheftet zu sein, ist stehen geblieben
Hier tanzt der Himmelblaue Bläuling
in der Abendluft, friedlich …“[18]

In der Aufführung mit Karina Canellakis kam die komplexe Komposition all dessen, was Pierre Boulez an der Musik des 20. Jahrhunderts wichtig war, fulminant zur Geltung. L’Azur erhielt starken Beifall. Boulez hatte in Rituel in memoriam Bruno Maderna bereits das Gedenken in eine neue Form der Aufführungspraxis transformiert. De Raaff hat sich vielleicht an anderer Stelle zu Rituel geäußert oder beim Komponieren vergessen. Das Konzertpodium wird nicht für den Raumklang aufgelöst, gewiss aber, wurde ein starker Raumklang mit kosmologischen Anspielungen erzeugt. Karina Canellakis konnte die Dimension mit ihrem Dirigat perfekt herausarbeiten. Im zweiten Teil des Abends folgte wiederum ein spätes, letztes Werk mit Sergej Rachmaninows Sinfonischen Tänzen. Auch hier wie schon bei Bartóks Konzert für Orchester funktionierte die sinfonische Dramaturgie unter Einsatz des Taktstockes. Tosender Applaus.
Torsten Flüh
Musikfest Berlin 2025
bis 23.9.2025
[1] Siehe Torsten Flüh: Vom Zauber der Jugend und der Musik. Zur fulminanten Eröffnung des Musikfestes 2022 mit dem Concertgebouworkest Amsterdam unter der Leitung von Klaus Mäkelä. In: NIGHT OUT @ BERLIN 29. August 2022.
[2] Siehe Torsten Flüh: Figuren des Dirigenten. Zum Konzert der Oslo Philharmonic mit Klaus Mäkelä und der Wiener Philharmoniker mit Christian Thielemann beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2024.
[3] Siehe Abendprogramm: Musikfest Berlin 2025: Samstag, 30.8.2025 19:00 Uhr Royal Concertgebouw Orchestra: Schubert – Berio /Bartók. Berlin 2025, S. 3.
[4] Torsten Flüh: Tradition und Frische. The Cleveland Orchestra, Kansas City Symphony und Filarmonica della Scala beim Musikfest Berlin 2024. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. September 2024.
[5] Harvard University Press: The Charles Eliot Norton Lectures.
[6] Luciano Berio: Remembering the Future. Harvard University Press 2006, S. 1. (jstor)
[7] Olivia Artner: Ein „Akt der Liebe“. In: Abendprogramm: Musikfest … [wie Anm. 3] S. 7.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda S. 9.
[10] Ebenda S. 12.
[12] Commons.Wikipedia: Taktstock.
[13] Siehe Martin Wilkening: Himmel und Erde. In: Abendprogramm: Musikfest Berlin 2025: Sonntag, 31.8.2025 19:00 Uhr Netherlands Radio Philharmonic Orchestra/Netherlands Radio Choir: Messiaen/Boulez/de Raaff/Rachmaninow. Berlin 2025, S.11.
[14] Ebenda.
[15] Ebenda S. 13.
[16] Torsten Flüh: Verspätete Ankunft der Moderne. Zum Eröffnungskonzert des Musikfestes Berlin, dem Rotterdam Philharmonic Orchestra und Horos Meteoros von Jakob Ullmann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2018.(PDF)
[17] Zitiert nach Martin Wilkening: Himmel … [wie Anm. 15] S. 13.
[18] Ebenda S. 23.

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