Natur – Bild – Schmerz
Die Heilung des Naturbildes
Zu Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Project Space Kimgo in der John-Schehr-Str. 1
Jinran Kim hat mit ihrer Ausstellung Nature Morte mit Bildern von der Natur aus dem Naturstoffgewebe Gaze, das in der Medizin für Wundverbände verwendet wird, ihre Gazebildpraxis verdichtet. 2018 stellte Jinran Kim ihre Bildarbeiten mit Gaze erstmals in der Kunstgalerie im Boulevard Berlin in der Steglitzer Schlossstraße aus. Die Arbeiten mit Gaze wurden kombiniert mit Asche als Farbmaterial. Die Materialien sind für die Künstlerin immer entscheidend. Schon ihre Trümmerfrauen, mit Aschetusche gemalt, verwiesen auf die Zerstörung durch Brände im Krieg. Waldbrände auf dem ganzen Globus – Kanada, Brasilien, Sibirien etc. – sorgen heute für Angst und Schrecken. Doch ein Krieg war in Europa wie in Südkorea 2014 kaum denkbar. Zwischenzeitlich gibt es Trümmerfrauen wieder in Europa – in der Ukraine. Gaze als Verbandsmaterial hat wieder an Bedeutung zu genommen.
Die Materialität der Bilder in der Ausstellung Nature Mort zeitigt dreidimensionale Effekte. Soll die sterbende Natur, die Berggipfel, der Wasserfall, das Meer mit Gaze ins Plastische gehen? Oder müssen die sterbenden Gletscher im Hochgebirge verbunden werden? Die Verwendung der Gaze eröffnet mehrere Sichtweisen. Landläufig ist Nature Morte in der Malerei ein Genre, das im Deutschen Stillleben genannt wird. Doch Jinran Kim hält sich nicht an den Begriff als Genre Bezeichnung. Vielmehr erweitert sie dessen Gebrauchsweise. Die schäumenden Wellen des Meeres wären kein Stillleben, sondern eher Landschaftsmalerei. Doch schon das Stillleben mit seiner reichhaltigen Ausgestaltung sollte zugleich als ein Memento Mori betrachtet werden. Die Vergänglichkeit der Früchte, Fische, des Fleisches und der Blumen sollte als Bild die Betrachter*innen an den eigenen Tod erinnern.
Das Genre der Nature Morte wird sowohl für die Malerei wie für die Literatur in Anschlag gebracht, wenn Rebekka Schnell es 2016 im Plural für die „Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon“ in Anschlag bringt.[1] Bedenken lässt sich, dass auch der französische Begriff für Stillleben auf die niederländische Malerei im 17. Jahrhundert zurückgeht.[2] Er diente der Benennung eines Bildsujets, auf dem stillstehende Gegenstände, Blumen, Pflanzen, Geschirr wie Gläser als Faszinosum, Meeresfrüchte, Fische etc. zu sehen sind. Umso verblüffender wirkt dann das Klavierstück Stillleben von Philipp Scharwenka, das 1887 in Breslau erschien.[3] Scharwenka betont in seinen Spielanweisungen wiederholt den „Ausdruck“: „Nicht zu schnell, mit Ausdruck.“, „ausdrucksvoll“, „ruhig mit Ausdruck“, „sehr ausdrucksvoll“.
Die Unbewegtheit des Bildes bzw. der Dinge im Bild ist durch die erste hohe Gebrauchsfrequenz des Stilllebens zwischen 1880 und 1890 einer Ausdruckslogik gewichen, ließe sich mit Scharwenkas Klavierstück sagen.[4] Bis ca. 1950 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab, um sich dann bis 1999 geradezu inflationär als Wissen vom Bildgenre durchzusetzen. Nach 2000 nimmt die Gebrauchsfrequenz wieder ab. Der Gebrauch des Begriffs Stillleben bzw. Nature Morte für künstlerische Produktionen in der Malerei über die Videokunst bis zur Klavierkomposition gibt einen Wink über den Gebrauchswandel. Nach wiederholtem Crescendo endet Scharwenkas ebenso ausdrucksstarkes wie kitschiges Klavierstück bedeutungsvoll „verhallend“. Bürgerliches Sentiment hatte das Stillleben kursieren lassen, bevor es zum geläufigen Fachbegriff wurde.
Ulrich Baron hat den Begriff Nature morte 2020 in den Frankfurter Heften zum Titel für eine Besprechung von zwei Büchern zum Artensterben gemacht.[5] Im Kontext der Besprechung von Jinran Kims Ausstellung erscheint Barons Begriffsverschiebung erwähnenswert, weil dadurch der Fachbegriff stärker mit dem vom Menschen verursachten Sterben in der Natur verkoppelt wird. Baron rezensiert vor allem Matthias Glaubrechts 1.000seitige Studie Das Ender der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten.[6] Der Evolutionsbiologe und Biodiversivitätsforscher Glaubrecht beschreibt in seinem Buch die odysseische Situation, politisch zwischen Skylla und Charybdis hindurch zu navigieren. Eine Situation wie sie durch das Heizungsgesetz der Grünen zum Menetekel geworden ist.
„Dieses Wachstum aber läuft auf einen globalen Kollaps zu, den Glaubrecht in einer »Rückschau auf 2062« antizipiert: Überschwemmungen aufgrund des steigenden Meeresspiegels haben Großstadtregionen unbewohnbar gemacht; die auf wenige Getreidesorten konzentrierte Landwirtschaft hat sich nicht auf Dauer gegen Infektionen durch Pilze, Bakterien und andere Schädlinge schützen lassen. Neben der Grundversorgung mit Nahrung ist auch die mit Trinkwasser zusammengebrochen. Die einen Menschen sind verhungert oder verdurstet, die »anderen an den Folgen der Knappheit, von gräulichen Krankheiten bis zu den ewigen Verteilungskämpfen und -kriegen« gestorben.“[7]
Baron fordert, dass Glaubrechts Prognosen politisch mit den Wähler*inneninteressen in Einklang gebracht werden müssen. Nature Morte visualisiert ein nicht zuletzt globales politisches Dilemma. Lässt sich die Gletscherschmelze noch stoppen, wenn wir zugleich von einer neuen internationalen Art Instagram-Klettertourismus am Mount Everest lesen müssen.[8] Nicht nur wurde der Berg der Berge vom Klettertourismus schon vor 11 Jahren verdreckt, vielmehr kostet er Menschen das Leben. Am Mount Everest gibt es ein gigantisches Müllproblem, wie BILD im Juni 2023 kolportierte.[9] Chinesen, Deutsche, Südkoreaner etc. sind am Mount Everest zu Tode gekommen, weil sie ihn, wie es so schön heißt, „bezwingen“ wollten:
„Unser Team ist am Mount Everest, um an diese Expedition vor 50 Jahren zu erinnern. Doch wir müssen erleben, dass der Berg der Berge zum Symbol für alles geworden ist, was mit dem Alpinismus falschläuft. 1963 waren nur sechs Bergsteiger auf den Gipfel gelangt – im Frühjahr 2012 schafften es mehr als 500. Als ich am 25. Mai den Gipfel erreichte, drängten sich dort so viele Leute, dass ich kaum Platz zum Stehen fand. Weiter unten, am Hillary Step, war die Schlange so lang, dass Kletterer auf dem Weg nach oben zwei Stunden warten mussten.“[10]
Der Mount Everest ist nur der Gipfel des Instagram-Tourismus, der jedes Naturbild in mehrfacher Hinsicht zur Nature Morte macht. Ob Wasserfall, Meeresstrand, Kirschblüte oder Berggipfel per Mobile-Selfie wird die Natur stillgestellt und zur Staffage für ein sich aus Nature Shots auf Instagram generierendes Subjekt. Mögen Dich die Followers lieben. Das Naturbild ist verletzbar geworden. Die Verletzlichkeit des Naturbildes schwingt in den Arbeiten mit Gaze von Jinran Kim mit. Denn sie hat sich immer für Grenzbereiche des Lebens zum Tod interessiert, wie schon 2009 mit Last Matress und dem 108 Stufen Tempel im Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof deutlich wurde.[11] 2014 kamen in der Galerie im Körnerpark in der Ausstellung After the Rain ihre Trümmerfrauen und Malerei mit Asche zur Geltung.[12] Die Arbeiten mit Verbandsgaze kamen 2018 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit.[13] Und während der Covid19-Pandemie gab es im November 2020 in der Galerie Z22 schon mit PAINSTAKING einen mehrdeutigen Hinweis auf die psychische und physische Wundbehandlung mit Gaze.[14]
Das Naturbild hat sich seit und mit Sigmund Freuds Trauma-Forschung bei Jinran Kim immer stärker zu Bild der Heilung entwickelt. Ihre Naturbilder vom Meer sollen beruhigen und seelische Wunden heilen. Die Rede von der verletzten Natur hat sich zwischenzeitlich zugespitzt. Hitzerekorde bedrohen Flora wie Fauna und den Menschen. Im Caspar David Friedrich-Jahr mit seinen Männern am Meer und auf dem Berggipfel wie Mönch am Meer aus der Zeit von 1808 bis 1810 oder Wanderer über dem Nebelmeer von 1818 bewundern im 250. Jubiläums Jahr tausende, zehn-, ja, hunderttausende Museumsbesucher*innen die Leere der Naturbilder, vor die bei Friedrich lange nur ein Mann gestellt wird. Bei Jinran Kim bleiben die Naturbilder menschenleer und nur die Betrachter*innen müssen ihre Haltung vor den Gazebildern finden. In Heinrich von Kleists Bildbesprechung Vor Friedrichs Seelandschaft in den Berliner Abendblättern vom 13. Oktober 1810 nennt der Rezensent das Meer eine „unendliche Wasserwüste“.
Eine „unendliche Wasserwüste“, wie es Kleist für Friedrich formuliert, kann seit Ewald von Kleist nicht nur ein Überschwemmungsgebiet[15] benennen, vielmehr gibt die Kombination von unendlich und Wüste einen Wink auf die Leere, die als Einsamkeit empfunden werden kann. „Seelandschaft“ wie „Nebelmeer“ sind nach Caspar David Friedrichs eigener Formulierung vorm „geistigen Auge“ entstanden. Die Bilder der Leere des jungen Mannes haben viel mit ihm selbst zu tun. Später kommen Frauen und Kinder in die Bilder des Malers. Gegen Ende seines Lebens verschwinden sie wieder. Die Gaze-Bilder von Jinran Kim haben mit den Bildern der Naturzerstörung zu tun, von denen wir hören und die uns gezeigt werden, um sich in uns festzusetzen.
„Schließe dein leibliches Auge, damit du mit dem geistigen Auge siehest dein Bild. Dann fördere zutage, was du im Dunkeln gesehen, dass es zurückwirke auf andere von außen nach innen.“
Jinran Kims Ausstellung Nature Morte im Projekt Space Kimgo bringt die Betrachter*innen vor die Bilder, sie konfrontiert sie mit zunächst ansehnlichen Bildern vom Meer, von den Berggipfeln, vom Wasserfall etc. um dann mit dem Verbandsmull den verstörenden Schmerz, der in ihnen gespeichert ist, erahnbar zu machen. Nature Morte ist eine Reise in die Bilder und die Diskurse, die sie hervorgebracht haben. Sie sind eine Reise ins Innere wert.
Torsten Flüh
Nature Morte
verlängert bis 28. September 2024
Open FR 4-7 PM and by appointment
Contact
info@kimgo.de
www.kimgo.de
Tel 0176 6705 1098
Projetraum KIMGO
John-Schehr-Str. 1
10407 Berlin
BACH, BENJAMIN BRITTEN, E.MORRICONE
Concert 8. September 4pm Entrance Free
Musician Youjung Lee Solo Oboe
[1] Rebekka Schnell: Natures Mortes: zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W.G. Sebald und Claude Simon. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016.
[2] Wikipedia: Stillleben.
[3] Philipp Schawenka: Clavierstücke: Stillleben. Breslau: Julius Hainauer, 1887. (Digitalisat)
[4] DWDS: Stillleben: Verlaufskurve 1600 bis 1999.
[5] Ulrich Baron: Nature morte. Vom Artensterben. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Die Zeitschrift für Politik und Kultur. Ausgabe 3 2020, 10.03.2020.
[6] Matthias Glaubrechts Studie Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vertreibung der Arten. München: Bertelsmann, 2019.
[7] Ulrich Baron: Nature … [wie Anm. 5]
[8] Anna-Kathrin Hentsch: Instagram-Tourismus: Warum sich immer mehr Orte wehren. In: National Geographic 6. August 2021, 18:03 MESZ.
[9] Bild: Müll-Problem auf dem Mount Everest: Sherpa zeigt dreckigstes Camp 1. Juni 2023.
[10] National Geographic: Not am Mount Everest. Der Klettertourismus schadet dem Everest und gefährdet Menschenleben. Heft 06 / 2013, Seite(n) 108 bis 127.
[11] Torsten Flüh: Unter Spinnweben. Ausstellung Kunstraum Mausoleum auf dem St.-Matthäus-Kirchhof mit Jinran Kim und ihrem 108 Stufen Tempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. September 2009.
Siehe auch: „Die Matratze war noch warm“ – Ein Interview mit Jinran Kim über Last Mattress in der Galerie Förster. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. September 2010.
[12] Torsten Flüh: Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood. Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Mai 2014.
[13] Torsten Flüh: Koreas Wunden unter Gaze. Jinran Kim zitiert Sigmund Freud und macht Landschaftsbilder aus Verbandsgaze. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Februar 2018.
[14] Torsten Flüh: Von der Poesie des Naturbildes. Zu Jinran Kims visueller Poesie in ihrer Ausstellung PAINSTAKING in der Galerie Z22. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. November 2020.
[15] Siehe Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Wasserwüste.