Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Pazifismus – Männlichkeit – Philosophie

Das Problem mit dem Apfel und der Handbuchliteratur

Zu Götz Wienolds Theaterstück Wittgenstein in Cassino und dem Wittgenstein-Handbuch von Anja Weiberg und Stefan Majetschak

Das Handbuch hat sich in den vergangenen Jahren in vielen Wissenschaftsbereichen geradezu als ein eigenes Genre entwickelt. Mit dem Handbuch von unterschiedlicher Stärke wird Wissen geordnet und verfügbar. „Handbuch Wissenschaftliches Schreiben“, „Handbuch Bettina von Arnim“ (2020), „Handbuch Literatur & Philosophie“ als „Band 11 der Reihe Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie“ von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt (2021) etc. und nun das Wittgenstein-Handbuch Leben – Werk – Wirkung (2022).[1] Der akademische Apparat produziert beispielsweise und zuvörderst mit dem De Gruyter Wissenschaftsverlag Handbücher. Vom Titel her – und das wäre nun gerade beim Sprachspiel-Philosophen Ludwig Wittgenstein nicht nichts – liest sich das Wittgenstein-Handbuch besonders griffig. Wie ist der Berichterstatter überhaupt auf die Idee gekommen, in das Wittgenstein-Handbuch hineinzuschauen?

Im Erscheinungsjahr 2022 hat gerade der Passagen Verlag einen Band mit zwei Stücken von Götz Wienold veröffentlicht: Wittgenstein in Cassino und Trackls Tod.[2] Da den Berichterstatter Wienolds Wittgenstein mit seinem Szenarium von Krieg, Männlichkeit, homosexuellem Begehren und Pazifismus derart mitgerissen hat, dass er zur Absicherung doch noch einmal in eine Biografie zu Ludwig Wittgenstein hineinschauen wollte, stieß er auf das jüngst erschienene Handbuch. 2022 ist schon deshalb kein Erscheinungsjahr wie jedes andere, weil sich die Frage nach dem Verhältnis von Krieg, Literatur und Pazifismus auf dramatische und zuvor nicht gekannte Weise zugespitzt hat. Die jüngste Buchpreisverleihung an Kim De L Horizon für Blutbuch[3]und die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan spielen sich im Spannungsfeld von Krieg, Literatur, Geschlecht und Pazifismus ab.

Mit dem Krieg, Geschlecht und Frieden ist es nicht einfach. Das hat nach der Buchpreisverleihung Kim De L Horizon als genderfluide Autor*in und erste offen queere Person, die den Deutschen Buchpreis jemals verliehen bekommen hat, nach der Preisverleihung erfahren müssen. Kim rasierte sich bei der Preisverleihung als Solidaritätsgeste mit den protestierenden Frauen im Iran auf offener Bühne die Haare ab – und erntete Hass, obwohl der Geschlechtsfließende „niemandem etwas Böses“ will.[4] Serhij Zhadans Kriegstagebuch Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg erschien am 10. Oktober 2022 im Suhrkamp Verlag und löste Bedenken aus, ob es den Statuten des Friedenspreises entspreche. Am 26. Februar 16:45 heißt es im Tagebuch ziemlich unfriedlich:
„Das ukrainische Militär arbeitet beeindruckend und professionell. Alle motiviert, wollen den Feind mit den Zähnen zerreißen.“[5]

In diesem Debattenfeld kommt nun das Stück Wittgenstein in Cassino von Götz Wienold zum Zuge, das der Autor im Gesprächskreis Homosexualität mit einem Apfel auf dem Tisch szenisch las. Das Stück funktioniert als dramatischer Text anders als der Roman vom Ich De L Horizons und anders als die Tagebuch-Nachrichten von Serhij Zhadan. In den jeweiligen Textgenes wird unterschiedlich gesprochen. Das mag nun als eine Spitzfindigkeit angesehen werden, während bei Debatten derartige Unterschiede unversehens, man muss schon sagen, überbrüllt werden. Aber es wird gerade dann, wenn es um den Philosophen Ludwig Wittgenstein und dessen Lesart geht, entscheidend. Götz Wienold, geb. 1938, soviel darf vorausgeschickt werden, hat 1961 im Austauschprogramm mit der Universität Münster an der University of St. Andrews in Schottland studiert, als der Geist von Wittgenstein (1889-1951) in der angelsächsischen Philosophie recht präsent war. Er arbeitete später über linguistische Theorienbildung. Insofern beschäftigt sich Wienold seit ca. 60 Jahren mit Wittgenstein, dessen Philosophie und Ethik sowie dessen Pazifismus. Dass Wittgenstein in Cassino plötzlich in einem Debattenfeld erscheint, von dem es nichts wissen konnte, macht das Stück hoch aktuell und als Beitrag ein wenig solider als manch eine Preisrede.

Was wissen die Literaturen von Ludwig Wittgenstein? Wittgenstein in Cassino wurde von Götz Wienold sorgfältig recherchiert und arrangiert. Das Personal und die Handlung des Stückes sind bis auf Wittgenstein „frei erfunden“.[6] Doch Wienold verarbeitet und bearbeitet in seinem Text zugleich unterschiedliches Wissen, dessen Quellen im einzelnen schwer zu verifizieren sind. Zweifelsohne wird ein Wissen vom Hörensagen und aus der Lebenspraxis eingeflossen sein. – Da jetzt das Fluide mit Kim so prominent geworden ist, musste an dieser Stelle das Fließende des Wissens erwähnt werden. – Einen Wink auf eine Quelle gibt das Datum der Erstfassung mit 2012. Denn 2011 hatte das Schwule Museum die Ausstellung Ludwig Wittgenstein. Verortung eines Genies gezeigt.[7] Dies geschah u.a. mit einem Portraitfoto des Philosophen von Ben Richards aus dem September 1947 in Swansea.

Die Homosexualität Wittgensteins war 2011 schon länger besprochen worden. Es gab gar eine Art Philosophenstreit darüber, wen das „Genie“ begehrt hatte. Ludwig Wittgenstein hat in seinen Briefen, Manuskripten und Schriften einen derartigen Begriff nicht gebraucht, was wahrscheinlich mit seiner auf die Sprache ausgerichteten Philosophie zu tun hat. Er philosophierte sprachkritisch, ließe sich sagen. Wienold setzt das homosexuelle Begehren in seinem Stück von Anfang an als Trennendes und Verbindendes in Szene:
„An einer von den Mann-Frau-Paaren weit entfernten Stelle am Zaun ein sehr junger Mann in österreichischer Mannschaftsuniform, Fabrizio Zähring, draußen, und Ludwig Wittgenstein drinnen. Wittgenstein ist dreißig, sieht auch unter den Umständen der Gefangenschaft sehr gut aus. Dicht am Zaun beieinander, doch nur vorsichtige Berührungen.“[8]

Das Trennend-Verbindende der Gefangenschaft durch den Zaun zwischen den Paaren ob Mann und Frau oder Mann und Mann gibt einen Wink nach Wittgenstein. Bereits vom 9. April 1917 stammt von ihm der Wink auf das Sprechen und die Sprache mit der Formulierung „»[…] es ist so: Wenn man sich nicht bemüht, das Unaussprechliche auszusprechen, so geht nichts verloren. Sondern das Unaussprechliche ist – unaussprechlich – in dem Ausgesprochenen enthalten!«“.[9] Die eröffnende Szene am Zaun handelt, noch bevor die Figuren Ludwig und Fabrizio zu sprechen beginnen, von der Sprache und der Liebe unter den Menschen. Die Sprache und der Sprecher gleich wessen biologischen Geschlechts stellen Hierarchien und Grenzen her, die mit dem Ausgesprochenen nicht einfach überwunden werden können. Die Gleichgeschlechtlichkeit kann das in Wienolds Stück nicht überwinden.
„LUDWIG: Ich liebe dich, weißt du das nicht?
FABRIZIO: Das dürfens nicht sagen.
LUDWIG: Ich liebe dich, heißt, ich möchte dich lieben, wenn ich es darf. Ich dich lieben dürfen, wenn du es erlaubst.
FABRIZIO: Ich kann Ihnen doch nichts erlauben.“[10]

Die Gleichgeschlechtlichkeit spielt in Wienolds Stück nicht zuletzt eine Rolle, wenn ein Mann auf einen anderen Mann schießen soll – und es nicht kann. Die Logik des Geschlechts nimmt im Krieg eine fundamentale Funktion ein. Die Männer mussten in der Ukraine bleiben. Männer werden zum „Feind“, der „mit den Zähnen zerr(iss)en“ werden muss. In seiner Rede vom 24. Februar 2022 hat Wladimir Wladimirowitsch Putin bis in die Interpunktion geschlechtlich argumentiert.[11] – Sind wir durch die Sprache, das heißt, die Sprachen und das Sprechen zum Geschlecht verdammt? Und: Wie steht es dann um den Pazifismus? Das ist im Moment kein geringes Problem. Es ist ein Paradox, das in Wittgenstein in Cassino eine dramatische Rolle spielt. Welche Rolle spielt das Geschlecht in seiner Vieldeutigkeit in der Philosophie? Kommt die Geschlechtlichkeit im Wittgenstein-Handbuch vor? Was könnte es heißen, wenn sie nicht vorkommt? Wagen wir zunächst eine lexikalische Probe: sexualität: 0, Null, nichts bei „Sexualität“ und „Homosexualität“. Aber 1, ein Gebrauch bei „Geschlecht“ mit der Formulierung eines Vorbehalts:
„Des Weiteren berichtet Drury über Otto Weininger: W. hielt Geschlecht und Charakter für »das Werk eines außergewöhnlichen Genies«, trotz seiner »Vorurteile« und Irrtümer (…), über Blaise Pascal (über den er aber nie mit W. gesprochen hat, …) und Samuel Johnson.“[12]

Die Philosophie des Wittgenstein-Handbuch argumentiert weitestgehend ohne das Geschlecht. In Hans Biesenbachs Handbuch-Artikel zu Maurice O’Connor Drury kommt es syntagmatisch zu einer bedenkenswerten Leseunsicherheit, einer Art Doppeldeutigkeit. Wer ist „W.“? Syntagmatisch könnte es Weininger sein. Doch im Handbuch wird das Initial W. ausschließlich für Wittgenstein gebraucht. Das skandalisierte Weininger-Buch Geschlecht und Charakter hielt Wittgenstein also für „das Werk eines außergewöhnlichen Genies“. Das wäre vielleicht in seiner philosophischen Tragweite zu diskutieren. Dies findet aber im Wissensmodus des Handbuchs nicht statt. Diesem ist allerdings eine Biografie von Joachim Schulte vorangestellt, die zweifelsohne einen Beitrag zur Denkpraxis Wittgensteins liefern soll. Doch die Geschlechtlichkeit des Denkens bleibt seltsam vage im Modus des Scheinens, wenn es recht früh zur Beziehung Wittgensteins zu David Hume Pinsent heißt:
„Wie es scheint, wollte W. das ihn zu sehr ablenkende Leben in Cambridge hinter sich lassen und an einem möglichst ruhigen Ort ungestört an seinem Manuskript arbeiten. Auch Pinsent ging seinen Studien nach. Manchmal wurde gesegelt oder gerudert, man ging spazieren, und abends wurde Domino gespielt. Nach wenigen Tagen brach W. allein auf, um nach Bergen zu fahren und dort zwei Bände Schubertlieder zu besorgen: Pinsent spielte den Klavierpart und W. pfiff die Singstimme.“[13]

Der Wissensmodus des Scheinens – „Wie es scheint“ – versteckt nicht zuletzt das vielleicht auch befreiend Geschlechtliche zum „Leben in Cambridge“. Unbehelligt konnten Ludwig und David dort nicht sein. Schulte zitiert wiederholt Textstellen aus Briefen Wittgensteins, bei denen eine Ambiguität zumindest zwischen dem Philosophischen und dem Geschlechtlichen durch die Formulierung bestehen bleibt. Was könnte beispielsweise „eine bestimmte Tatsache sein“ über die „man … nicht hinwegkommt“? (Die Unterstreichung kann wg. der Codierung der Blog-Software nicht übernommen werden.) Um die Mehrdeutigkeit der Briefstelle hervorzuheben hat der Briefschreiber sie unterstrichen. Ist die „Tatsache“ ein philosophisches Problem oder ein geschlechtliches, wenn Wittgenstein es gar im Kontext von Selbstmord diskutiert?
„Ganz rückhaltlos konnte er Engelmann sein Befinden schildern: »Ich bin nämlich in einem Zustand, in dem ich schon öfters im Leben war, und der mir sehr furchtbar ist: Es ist der Zustand wenn man über eine bestimmte Tatsache nicht hinwegkommt« (… 1.6.1920). In einer solchen Lage ist, wie W. dem Freund auseinandersetzt, auch der Selbstmord kein Ausweg, denn der Selbstmord sei stets eine Art Selbstüberrumpelung, und nichts sei »ärger, als sich selbst überrumpeln zu müssen«.“[14]

Die Briefstelle mit der Unterstreichung lässt sich im Kontext des Bio-Grafischen auf verschiedene Weise lesen. Der Suizid, das Sich-das-Leben-nehmen ist von größter philosophischer Tragweite[15], zumal Ludwigs drei ältere Brüder Hans, Kurt und Rudolf 1920 bereits Selbstmord begangen hatten. Geht es also nur um ein „Befinden“ oder Empfinden oder um eine „Tatsache“ der Sprache, die sich schwer in Worte fassen lässt? Nach Tractatus logico-philosophicus 6.43, den Wienold als Motto seines Stückes zitiert, wären „Tatsachen; (…) das, was durch die Sprache ausgedrückt werden kann“. In der Biografie Schultes wird das nicht weiter erörtert. Die Gefangenschaft in Cassino kommt denn auch eher als eine Art „Gesprächszirkel“ vor.
„Die Offiziere organisierten Kurse und Gesprächszirkel. Auch W. beteiligte sich an einigen dieser Veranstaltungen, doch im Großen und Ganzen waren ihm Diskussionen unter vier Augen oder im kleinsten Kreis lieber. Er schloss Freundschaften, u. a. mit dem Lehrer und Schriftsteller Fritz Parak, dem Pädagogen Ludwig Hänsel und dem Bildhauer Michael Drobil, in dessen Werkstatt er einige Jahre später den Kopf einer jungen Frau modellierte. Die Freundschaft mit Hänsel hatte bis an W.s Lebensende Bestand. Wie vor ihm Engelmann, wurde auch Hänsel zu einem wichtigen Element im engmaschigen Geflecht der Familie Wittgenstein.“[16]

Die „Familie Wittgenstein“, wie Schulte sie anschreibt, ähnelt eher einer Wahlfamilie denn einer genealogischen. In dieser Familie wird viel miteinander gesprochen und korrespondiert. Von Interesse wäre durchaus das Modell eines „Kopf(es) einer jungen Frau“. In der Jugend herrscht oft noch eine visuelle Uneindeutigkeit des Geschlechts. Außer den Schwestern kommen wenig Frauen in der Wittgenstein-Biografie vor. Die Beziehung zu Marguerite führt zwar auch zu einem gemeinsamen Norwegen-Aufenthalt wie zuvor mit David Pinsent, aber der könnte ebenso unter ganz anderen Vorzeichen gestanden haben. Später wird Ludwig Marguerite recht grob das Damenhafte ankreiden. Als Gesprächspartnerin in der „Familie Wittgenstein“ fand sie offenbar keine Aufnahme. Was umschreibt die Formulierung, dass es „nicht viel Leidenschaft gegeben“ habe zwischen den beiden? Geht es da nicht gerade um das Geschlecht und Geschlechtliche? 
„Im Verhältnis zwischen Ludwig und Marguerite scheint es noch einiges Auf und Ab, aber nicht viel Leidenschaft gegeben zu haben.“[17]

Der Begriff der Liebe kommt in der Biografie ebenfalls selten vor. Statt von der Liebe zu Menschen oder Männern zu schreiben, wird wiederholt über Vorlieben und die Liebe zu „amerikanischen Krimis“, „altmodischen Slangausdrücken“ wie zur Musik gesprochen. Die Liebe zur Musik steht indessen häufig im Kontext des gemeinsamen Musizierens mit Männern, wobei die Gesangsstimme von Ludwig wiederholt als Melodie gepfiffen wird. Das ist vielleicht nicht gerade eine „männliche“ Art des Musikmachens. Doch Schulte lässt das Problem der „Liebe zu Richards“ wegen des Altersunterschieds nicht unerwähnt. Hier wird nun die Liebe als „großes, seltenes Geschenk“ formuliert. Die Liebe wird mit der „religiösen Gewissheit“[18] und insofern mit einer oder mehr noch als eine Form des Wissens von Wittgenstein angesprochen. Doch nur einmal wird sie bei Ben Richards zwischenmenschlich mit einem Zweifel verknüpft.
„Eine besondere Stütze während dieser Zeit war Ben Richards, der in Cambridge Medizin studierte und den W. wohl Ende 1945 kennengelernt hatte. Einerseits war die Liebe zu Richards, wie er im Tagebuch schreibt, ein »großes, seltenes Geschenk« (Ms 132, 77), andererseits fragte er sich immer wieder voller Sorge, ob der Jüngere ihn verlassen wolle. In den folgenden Jahren trafen sich die beiden an verschiedenen Orten, …“[19]

Kommen wir zurück zum Wissen der Literatur in Wittgenstein in Cassino. Die Liebe in dem Stück wird auf mehrfache Weise durchgespielt. Sie wird mit der weiblichen Figuren Lucia Tossi durch den Tractus logico-philosophicus mit einem Apfel in Szene gesetzt. Nun ist ein Apfel, um den es geht, literarisch seit Eva aufgeladen. Beim Apfel geht es immer auch um die Frage nach dem Wissen und Formen des Wissens wie dem vom alttestamentarischen Paradies und dem Sündenfall: „Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.“ (1 Moses 3, 6) Nennen wir das Klugwerden durch das Essen ein Erfahrungswissen. Doch bei Wienold geht es mit dem Apfel um linguistische Sprachoperationen in der Art eines Sprachspiels über die Logik.
„LUCIA: Aber der m u ß sein: Apfel und Krokus?
LUDWIG: Nicht Apfel und Krokus. Sie sehen es ja. Nimmt den Apfel wieder auf, hält die Hand über den Krokus, als wäre er nicht da. Das u n d ist es, Signorina Lucia, das u n d zwischen den beiden Sätzen.

LUDWIG: hat den Krokus längst wieder freigegeben, den Apfel wieder hingelegt. Noch einmal. Wahr ist ‚Auf dem Boden liegt ein Apfel‘, ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, beide Sätze wahr.
LUCIA: Ich sehs ja, ich sehs ja. Und wie schön er heute blüht, Herr Ludwig!
LUDWIG: Aber ,Auf dem Boden liegt ein Apfel‘ u n d ‚Dort auf der Wiese blüht ein Krokus‘, obwohl beide Sätze wahr, n i c h t  w a h r. Dann?“[20]  

Das Stück spitzt sich auf die Frage der Männlichkeit und des Pazifismus‘ zu. Denn Ludwig Wittgenstein hatte sich als Österreicher im August 1914 aus Cambridge freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Er nahm in verschiedenen Funktionen wie Kurierdienst, Arbeit in er Artillerie-Werkstatt in Krakau und im Werkstättenzug am Krieg teil. Wienold stellt die Kriegsteilnahme von Anfang an in den Kontext von Wittgensteins Freundschaft mit Bertrand Russel, der sich auf englischer Seite 1914 als Aktivist und Autor gegen die Kriegsteilnahme engagierte. In Kriegsgefangenschaft hatte er sich am 9. Februar 1919 mit einem Brief direkt an Russel gewendet und im Dezember diesen Jahres in Den Haag getroffen. Erstaunlicher Weise fehlt im Wittgenstein-Handbuch der Begriff Pazifismus ganz. 
„HEILINGSETZER: Russell, Freund dir, schätzt dich ganz groß. Russell verweigert den Kriegsdienst, geht ins Gefängnis, als Pazifist. Du gehst in den Krieg. Hat die Philosophie Russell ins Gefängnis geführt, dich in den Kriege?
MASULA: Natürlich hat die Philosophie Leutnant Wittgenstein in den Krieg geführt. Wie Sie sicher auch, Leutnant Heilingsetzer.
LUDWIG mit ganz kurzem Blick auf Masula: Das macht doch keinen Sinn, Heilingsetzer.“[21]

Die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme als Kundschafter, Späher oder Techniker wird von Wienold als ein philosophisches Problem formuliert. „Die Philosophie stärkt den Charakter“, hatte er Masula behaupten lassen. Doch in welcher Weise sie ihn „stärk“ bleibt offen. Was könnte die Freiwilligkeit der Kriegsteilnahme bei gleichzeitiger Nähe zum Pazifismus durch einen der bekanntesten Pazifisten überhaupt hinsichtlich der Philosophie bedeuten? Könnte es sein, dass Wittgenstein sozusagen lebenspraktisch seine Freiwilligkeit, die Möglichkeit zum freien Willen testen wollte? Im Stück lässt Wienold Russell selbst das Paradox des Pazifismus formulieren.
„LUDWIG sich wieder nicht um Masula scherend: Russell schreibt mir zeigt einen Brief vor, liest: Alles, was ich getan habe, war ganz und gar nutzlos außer für mich selbst. Ich habe keinem das Leben gerettet, den Krieg nicht eine Minute früher zu Ende zu bringen geschafft.
HEILINGSETZER hat mitgelesen und liest jetzt weiter: Wenigstens hatte ich aber nicht Teil am Verbrechen der kriegslüsternen Nationen. Für mich aber eine grundlegende Einsicht und eine neue Jugend.“[22]  

Die Nutzlosigkeit der pazifistischen Haltung und das „Für mich“ haben eine Tragweite in der Philosophie. Der Pazifismus taugt damit vor allem nicht als generalisierende Handlungsanweisung. Die Philosophie kann keine generalisierenden Aussagen treffen, die sich in Handlungen im Leben umsetzen lassen. Womöglich war Ludwig Wittgenstein auf seine Weise für sich ebenso Pazifist wie Bertrand Russell. Es wurde nur weniger offensichtlich. Das Tötungsverbot des Pazifismus‘ muss völlig abgekoppelt werden von der Frage der Männlichkeit und könnte doch einen Wink auf die Gleichgeschlechtlichkeit geben. Wienold setzt die Frage der Männlichkeit dramaturgisch ein. Die österreichischen Offiziere in italienischer Gefangenschaft rechtfertigen ihr Töten mit dem „Sinn“ der Männlichkeit:
„MARZAHN: Der Mann am Maschinengewehr setzt es auf 60 cm über dem Boden und läßt es über den ihm zugeteilten Bereich streichen. So werden die Beine der feindlichen Soldaten getroffen, sie fallen. Jetzt sind Kopf und Oberkörper im Zielbereich und werden getroffen. Das macht den ganzen Sinn. Und ich am MG bin befriedigt. Sehr befriedigt. Glücklich! Glücklich!!
MITTERÄCKER: Wir müssen töten.
HAPPEL und FIEREDER: Und wollen.
SABLATNIG: Krieg ist Krieg.“[23]

Der Sinn des Tötens und die Befriedung am Töten geben der Philosophie Fragen auf, die mit der Konstruktion von Männlichkeit verknüpft sind. Russells Pazifismus bleibt nutzlos und macht keinen Sinn. Philosophisch betrachtet, treibt der Pazifismus dem Krieg den Sinn aus. Daraufhin muss die lebenspraktische wie philosophische Sinnfrage anders gestellt werden. Die von Marzahn ausgesprochene Befriedung ist im Feld des Geschlechtlichen äußerst vertrackt. Sie schwingt aktuell in den Kriegsberichten aus der Ukraine mit, wenn von den Dutzenden tschetschenischen Kadyrow-Anhängern berichtet wird, die getötet worden sein sollen. Und man kann nicht seine Ohren davor verschließen, dass die Erzählung von den Tötungen ihrerseits eine Antwort auf die Forderung nach dem Einsatz strategisch-atomarer Waffen in der Ukraine durch den Maulhelden Ramsan Achmatowitsch Kadyrow. Es gibt die Narrative von der Männlichkeit und – den Krieg. Die verbale Hyper-Männlichkeit Kadyrows spielt derzeit eine wichtige Rolle in den Kriegshandlungen. – Es war nicht zuletzt die Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, die im Januar 2020 an die Funktion der Sprache und der Sprachspiele bei Ludwig Wittgenstein angeknüpft hat.[24]

Torsten Flüh

Götz Wienold
Wittgenstein in Cassino
Trakls Tod

Wien: Passagen, 2022.
176 Seiten, 12,8 x 20,8
ISBN 978-3-7092-0504-4
21,00 EUR

Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.)
Wittgenstein-Handbuch.
Leben – Werk – Wirkung.
Berlin: J. B. Metzler, 2022
ISBN: 978-3-476-05854-6
e-Book EUR 79,99
Hardcover Book EUR 99,99


[1] Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022.

[2] Götz Wienold: Wittgenstein in Cassino. Trackls Tod. Wien: Passagen Verlag, 2022.

[3] Kim De L. Horizon: Blutbuch. Köln: Dumont, 2022.

[4] Ronja Merkel: Buchpreisträger*in Kim de l’Horizon: „Ich will niemandem etwas Böses“. In: Der Tagesspiegel 22.10.2022.

[5] Serhij Zhadan: Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 8.

[6] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 92.

[7] Carsten Weidemann: Wittgenstein im Schwulen Museum. In: Queer.de vom 16. März 2011.

[8] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[9] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[10] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 18.

[11] Siehe zur Geschlechtlichkeit der Kriegserklärung: Torsten Flüh: Fragen der Intelligenz. Zu Our Space to Help in der Neuen Nationalgalerie und Putins Intelligenz als Streitfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. März 2022.

[12] Hans Biesenbach: Maurice O’Connor Drury. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch… [wie Anm. 1] S. 143.
Ray Monk dockte 1990 mit Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius an ein Zitat von Otto Weininger aus Geschlecht und Charakter an, das er seiner Biografie als Motto voranstellte: „Logic and ethics are fundamentally the same, they are no more than duty to oneself.“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius. London: Jonathan Cape, 1990. (ohne Seitenzahl)

[13] Joachim Schulte: Biografie. In: Ebenda S. 6.
Ray Monk hatte bereits 1990 im Anhang, Bartleys Wittgenstein und die kodierten Bemerkungen, zu seiner Biografie W. W. Bartleys Studie Wittgenstein, ein Leben (München 1983) diskutiert. Bartley hatte Wittgensteins homosexuelle Praktiken direkt mit seiner Philosophie kontextualisiert. Er hatte dabei auf andere als schriftliche Quellen für die Zeit zwischen 1919 und 1929 zurückgegriffen. Die These promisker Sexualpraktiken wurde heftig diskutiert: „Was sagt Bartley eigentlich? Ihm zufolge hat Wittgenstein während seiner Lehrerausbildung in Wien, als er ein eigenes Zimmer hatte, im nahgelegenen Prater einen Ort entdeckt, wo er „derbe junge Männer“ fand, „die sich bereitwillig sexuell auf ihn einließen“ (S. 40).“ Ray Monk: Ludwig Wittgenstein: das Handwerk des Genies. Stuttgart: Klett-Cotta, 1994, S. 615.

[14] S. 12.

[15] Siehe dazu: Torsten Flüh: Der Suizid muss ein moderner Wiener sein – und stören. Thomas Macho stellt sein Buch Das Leben nehmen in der Feierhalle des Kulturquartiers silent green vor. In: NIGHT OUT @ BERLIN November 16, 2017 19:41.

[16] Joachim Schulte: Biografie. In: Anja Weiberg / Stefan Majetschak (Hg.): Wittgenstein-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Berlin: J. B. Metzler, 2022 S. 9.

[17] Ebenda S. 16

[18] Ebenda S. 251.

[19] Ebenda S. 28.

[20] Götz Wienold: Wittgenstein … [wie Anm. 2] S. 41-42.

[21] Ebenda S. 43.

[22] Ebenda S. 44.

[23] Ebenda S. 53-54.

[24] Siehe: Torsten Flüh: Von der Notwendigkeit des Agonismus für das politische Leben. Chantal Mouffe spricht mit Peter Engelmann über Demokratie, Populismus und Affekte im Roten Salon der Volksbühne Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Januar 2020.

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