Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Lied – Forschung – Ritornell

Charles Ives‘ Kunst des Ritornells auf der Schwelle der Moderne

Zum Liedkonzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard beim Musikfest Berlin

Am 1. September versprach das Konzert von Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard mit Liedern von Charles Ives, Igor Strawinsky und Claude Debussy im Kammermusiksaal ein ebenso hochkarätiges, wie durchdachtes Ereignis. Die Sopranistin Anna Prohaska ist bekannt für ihre ausgeklügelten Konzertformate. Mit höchster Perfektion wird sie zur Liedforscherin. Traditionelle Liedzyklen beispielsweise aus der Romantik, wie man für Schubert, Schumann oder Brahms sagt, wecken eher nicht ihr Interesse. Am Sonntagnachmittag ging es ihr vielmehr darum, das Lied, wie es von Charles Ives in den 114 Songs in vielfältiger Weise komponiert wird, in Korrespondenz mit Igor Strawinskys Quatre Chants Russes und Full Fadom Five sowie mit Claude Debussys Proses lyriques auszuloten.

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Bereits die Veröffentlichungspraxis von 114 Songs unterschiedlicher Kompositionsweisen bricht mit einer Praxis des Liedzyklus‘. 114 Songs lassen sich nicht nacheinander an einem Abend singen. Eine wie auch immer formulierte autobiographische Erzählung in 114 Lieder zerfällt allein wegen der großen Zahl ins Fragmentarische. Die Ordnung der Liedblöcke in „Erinnerungen … Herbstimpressionen“, „Stadt versus Natur“, „Claude Debussy und der Impressionismus“ sowie „Kindheit … Krieg“ gibt einen Wink auf die Vielfalt und das Fragmentarische. Als Charles Ives 1922 die 114 Songs veröffentlichte, war es für den mittlerweile zu Wohlstand gelangten Versicherungsunternehmer eine Art Befreiungsschlag mit den Worten im Nachwort: „“Why do you write so much -, which no one ever sees?“ There are some good reasons, none of which are worth recording.“[1] Auf dem Wimmelbild für das Musikfest 2024 von Alexandra Klobouk sitzt Charles Ives unten rechts ein wenig abseits auf einer Parkbank. 

©  Fabian Schellhorn

Anna Prohaska und Pierre-Laurent Aimard eröffneten das Konzert mit Witz und Traurigkeit durch die beiden so unterschiedlichen Songs, die unter dem Titel Memories (102 Page 236) nacheinander erschienen sind. Einer sehr angenehmen und witzigen Erinnerung (very pleasant) an den Beginn einer Aufführung im Opernhaus folgt eine ziemlich traurige (rather sad) Erinnerung. Während die Aufregung vor dem Beginn der Aufführung in ein Pfeifen mündet, schließlich kurz in ein Ruhe gebietendes „Sh!..s‘..s‘..s‘._“ und fast im aufgeregt schnellen Parlando (As fast as it will go.) gesungen wird, erinnert Charles Ives einen Ton auf der Straße jenen, den sein Onkel summte. Der Ton wird mit der Erinnerung an den Onkel nicht ohne Witz, doch als traurig im Adagio aufgeladen. Es war ein fulminanter Auftakt, der unterschiedliche Stimmungen von der überdrehten Erwartung und Ekstase scharf gegen die eher traurige Erinnerung an den Onkel schneidet.

©  Fabian Schellhorn

Die beiden unterschiedlichen Erinnerungen als Modi der Wiederholung geben einen Wink auf Ives‘ Kompositionsverfahren. Memories ist um die 2:35 Minuten lang bzw. kurz, wovon die Erinnerung an den Beginn im Opernhaus ca. 35 Sekunden dauert. Bereits 2012 hatten Chen Reiss und Thomas Hampson mit dem Mahler Chamber Orchestra unter der Leitung von Kent Nagano zur Eröffnung des Musikfestes auf die Lieder von Charles Ives aufmerksam gemacht.[2] Im Rahmen jener Aufführung wurde der Komponist und häufige Librettist seiner mit der Frage zitiert, ob „ein Lied immer ein Lied“ sein müsse. Die Frage nach dem Lied bei Ives überschneidet sich mit der Wiederholung, wie sie in den beiden Memories vorgeführt wird. Die traurige Erinnerung fällt entschieden liedhafter aus als die Erwartung und Ekstase. Anna Prohaska knüpft insofern mit ihrem Arrangement der Lieder an eine entscheidende des Librettisten und Komponisten selbst an.

©  Fabian Schellhorn (Ausschnitt)

Was ist ein Lied? Auf die Memories folgte Remembrance von 1921 (12 Page 27) als ein weiterer Modus der Erinnerung. Das vorangesetzte Zitat von Wordsworth – „The music is my heart I bore / long after it was heard no more.“ – unterstützt. Dabei handelt es sich wiederum um ein äußerst kurzes Lied mit einem Text von lediglich 3 Verszeilen. Wiederum löst ein Ton bzw. der Klang eines Horns aus der Ferne eine Erinnerung aus, die Charles Ives als „My father’s song!“ auflöst. Ist das schon ein Lied? Zum Lied (song) wird hier der Klang eines fernen Horns über einem verschatteten See (lake). Dabei ist das Lied von äußerster Kürze, so dass man kaum von einem Lied sprechen kann. Doch dadurch dass die drei Verse gesungen werden, behauptet sich Remembrance als Lied. Während die Opernhauserinnerung textreich auf 35 Sekunden kommt, fällt Remembrance kaum länger aus. Entscheidender als der autobiographische Hintergrund, der wohl bei den drei unterschiedlichen Erinnerungen gegeben sein mag, lässt sich an Ausloten der Möglichkeiten der Gattung Lied denken.

©  Fabian Schellhorn

Entschieden später im Programm kam Anna Prohaska nach mehreren Gedichtkompositionen mit The New River von 1921 (6 Page 13) wieder auf einen Erinnerungstext als Lied von Ives zurück. Diesmal ist es ein Geräusch (noise), das von Menschen gemacht wird. „Der neue Fluss“ formuliert einen Medienwechsel, wenn man genau liest. Der Medienwechsel nach 1900 vom „hunting horn“ zu „Phonographs and gasoline,/Dancing halls and tambourine“ kann als ein romantischer Protest gegen die Stadt gelesen werden. Doch das „hunting horn“ ist ebenso von Menschen gemacht. Und für den mehr oder weniger Opernkenner Ives dürften die „river gods“ von der Bühne bekannt sein. In den 114 Songs ist es nicht ganz so einfach, den Liedkomponisten festzulegen. Vielmehr gibt es eine Ebene er Ironie, die in der Auswahl der komponierten Gedichte und Erinnerungen mitschwingt. Dafür lässt sich auch das „glorious noise“ in The Circus Band (56 Page 128) in Anschlag bringen, wobei das Tempo mit Dancing-Hall-quickstep-time vorgegeben wird.

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Die Heterogenität der 114 Songs gibt im Programm mit Soliloquy einen weiteren Wink auf Charles Ives‘ komponierende Forschung zum Lied. Einerseits knüpft er an ein Gedicht von Ralph Waldo Emerson an, andererseits wird damit der Modus des Selbstgespräches zum Titel. Im Essay Self-Reliance von 1841 verwendet Ralph Waldo Emerson den Begriff soliloquy. Die von Emerson formulierte Eigenständigkeit hat viel mit dem Selbst und dem Modus der Wiederholung zu tun. Das Lied als eine Art Selbstgespräch verweist indessen auf das Ritornell wie es von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert worden ist:
„… das Lied selber ist bereits ein Sprung: es springt aus dem Chaos zu einem Beginn von Ordnung im Chaos, und es läuft auch jederzeit Gefahr zu zerfallen…
Das Ritornell enthält diese Aspekte, es macht sie simultan oder vermischt sie: mal so, mal so, mal so. Mal ist das Chaos ein riesiges schwarzes Loch und man versucht, einem labilen Punkt in ihm als Zentrum zu fixieren. Mal organisiert man um das Zentrum eine ruhige und in sich gefestigte „Haltung“ (weniger eine Form): das schwarze Loch ist ein Zuhause geworden. Mal erweitert man diese Haltung um eine Fluchtbewegung, heraus aus dem schwarzen Loch.“[3]

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Das von Deleuze und Guattari formulierte Ritornell, das von einem Kind ausgeht, „das im Dunklen Angst bekommt“[4], gibt einen Wink auf die 114 Songs nicht zuletzt mit Soliloguy. Mit dem Ritornell kommt man dem Lied bei Charles Ives in seiner Heterogenität näher als mit der autobiographischen Musikerzählung von Wolfgang Rathert.[5] Das äußerst kurze Rememberance schlägt das Lied vom Vater nur kurz an, weil die Erzählung ihn auch verfehlen müsste. Soliloguy wird zum Lied von und für sich selbst wie Ives es geschrieben hat, weil es nicht zuletzt eine Selbsttäuschung wie ein Nicht-Verstehen formuliert.
„When a man is sitting before the fire on the hearth,
He says, “Nature is a simple affair!”
Then he looks out the window and sees a hailstorm,
And he begins to think that
“Nature can’t be so easily disposed of!””[6]

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Die große Zahl der „rund 400 Lieder“ in Charles Ives‘ Musikschaffen, die in ihrer „Breite und Tiefe (ein) beispiellose(s) musiksprachliche(s) Vokabular()“[7] hervorbringt, lässt sich mit der Funktion des Ritornells bedenken. Er verwandelt Töne, Texte, Lektüren, Erinnerungen, Ängste in Lieder für sich und publiziert mit 114 Songs einen Teil, nur damit sie andere „sehen“ können. Das Chaos nicht zuletzt der Stadt oder eines Hagelschlags (hailstorm), das Chaos der Gefühle zum Vater wird zur Rememberance als Ritornell. Es ließen sich viele andere Aspekte finden, die immer wieder zum Ritornell für ihn werden müssen. Auch das von Anna Prohaska ausgewählte und vorgetragene Evidence (58 Page 133) von 1910 gibt einen Wink auf die Funktion des Ritornells bei Charles Ives. Denn die Sonne soll, ja, muss immer nach den Schatten scheinen. Natur? Oder Angst? Treffender lässt sich die Funktion des Ritornells vor Schatten kaum für sich selbst singen:
„There comes o’er the valley a shadow,
The hilltops still are brigth;
There comes o’er the hilltop a shadow,
The mountain’s bathed in light;
There comes o’er the mountain a shadow,
But the sun ever shines through the night!”[8]

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Durch die Kombination der Lieder von Igor Strawinsky und Claude Debussy mit Charles Ives wurden im Konzert die Unterschiede allererst deutlich. Strawinsky sucht mit „melodisch-rhythmischem Stottern“ eher musikhistorische Ursprünge, die einem Ritornell ähneln könnten, wenn man bedenkt, dass „Milieus und Rhythmen“ nach Deleuze und Guattari aus dem Chaos geboren werden.[9] Bei Strawinsky geht es bekanntlich ganz entschieden um den Rhythmus und die abgewandelten altrussischen Walfahrerlieder als Orientierung lassen sich nicht weniger mit dem Ritornell bedenken. Doch für den Komponisten selbst erfüllen sie keine vergleichbare Funktion, weil er sich selbst als Komponist verortet. Mit Claude Debussys Proses lyrique wird ein geradezu sich selbst beruhigendes Erzählen angeschlagen.

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Igor Strawinsky komponierte 1953 Full Fadom Five (fünf Faden tief) aus William Shakespears The Tempest (Der Sturm) ebenfalls als ein Akustikereignis zum Lied. Die Totenglocke (knell) wird hier von den Meer-Nymphen (sea-nymphs) angeschlagen. Doch wenn jemand die Totenglocke hört, wie bei Shakespeare der Luftgeist Ariel – „Hark! Now I hear them,/Ding dong bell.“ –, dann soll sie nicht nur Ferdinand, den Sohn des Königs von Neapel an den Tod des Vaters erinnern, vielmehr auch an den eigenen. Zugleich komponierte Strawinsky damit Shakespeares Gedicht mit einem Stottern am Ende, während Robert Johnson nach 1609 Full Fadom Five als Inbegriff des Lautenliedes komponiert hatte.[10] Durch das rhythmische Stottern bei Strawinsky am Schluss wird das Lied, wenn nicht in Frage gestellt, so doch entschieden gegen das Lautenlied ausgespielt.

Torsten Flüh


[1] Zitiert nach: About. In: Charles Ives. In: Song of America. Siehe auch: UNT Digital Library: 114 Songs Page 276.

[2] Siehe Torsten Flüh: Die Lieder des Charles Ives. Eröffnung des Musikfestes Berlin 2012 mit Charles Ives, dem Mahler Chamber Orchestra, Kent Nagano, Chen Reiss und Thomas Hampson. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2012.

[3] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve, 1992, S. 424-425.

[4] Ebenda S. 424.

[5] Wolfgang Rathert: Neue Zeiten, neue Lieder. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm 1.9.2024 Anna Prohaska I & Pierre-Laurent Aimard I. Berliner Festspiele, 2024, S. 5-10.

[6] Zitiert nach ebenda S. 21.

[7] Ebenda S. 5.

[8] Ebenda S. 26.

[9] Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend … [wie Anm. 3] S. 426.

[10] Villa musica: Robert Johnson: Full fadom five.

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