Konzert – Epoche – Sprache
Bezaubernd verhext
Zu Endor von und mit Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti im Kammermusiksaal der Philharmonie
Der Name Endor gab am 19. Dezember 2021 den Titel für das Konzert mit der faszinierenden, in Berlin lebenden Koloratursopranistin Anna Prohaska, dem Ausnahme-Cellisten Nicolas Altstaedt und dem nicht minder arrivierten Cembalisten Francesco Corti. Allein die Kombination dieser drei international herausragenden, jüngeren Musiker*innen sollte Konzertsäle füllen, wenn der Konzertbetrieb in Berlin und anderswo nicht weiterhin unter Beschränkungen und Ängsten vor einer Infektion mit Sarc-Cov-2 und seinen Mutanten leiden müsste. Das Konzert hätte im Rahmen des Musikfestes Berlin 2021 im September aufgeführt werden sollen, musste wegen Krankheit abgesagt werden und konnte nun kurz vor Jahresende im Kammermusiksaal immerhin nachgeholt werden. An Applaus und Bravos mangelte es nicht am Schluss.
Endor spannte einen Bogen der Epochen von Kompositionen des 17. Jahrhunderts bis zu den Uraufführungen von Wolfgang Rihm und Jörg Widmann. Von fern winkte mit dem Programm im Rahmen des Musikfestes die Kompositionspraxis im Spätwerk von Igor Strawinsky herüber. Denn es war Strawinsky, der in seinem Spätwerk in Epochen gezwängte Kompositionsweisen mit großer Freiheit und eigenen Textkombinationen zu Neuem komponierte.[1] Anna Prohaska hatte mit Nicolas Alstaedt das epochensprengende Programm angedacht, um schließlich Francesco Corti mit dem Cembalo und weiteren Tasteninstrumenten hinzuzuholen. Einerseits ist Anna Prohaska dafür bekannt, mit Musikstilen in überraschenden Programmen zu experimentieren. Kombiniert wird, was thematisch und von der Stimmung her passt. Andererseits wird unter dem Namen der biblischen Stadt Endor und der dort angesiedelten Magierin bzw. Hexe des ersten Buches Samuel ein Erzählstrang in Opern, Kantaten und Musiktheaterstücken herausgearbeitet und montiert.
Endor ist selbst zu einer Komposition geworden. So wies denn auch Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter des Musikfestes, vor Beginn darauf hin, dass die beiden Teile vor und nach der Pause attacca aufgeführt würden. Gewünscht wurde auf diese Weise, dass sich das Publikum auf die vielschichtige Kombination von mehreren Sprachen zwischen Russisch, Deutsch, Italienisch und Englisch auf das Klangerlebnis einlasse. Elektronische Textanzeigen wurden nicht über der Bühne aufgehängt, was neuerdings im Konzertsaal und in Opernhäusern fast zur Regel geworden ist, um eine bessere Verständlichkeit zu ermöglichen. Gleichzeitig nahmen Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt damit ein Thema auf, das in der Oper Babylon von Jörg Widmann mit dem Text von Peter Sloterdijk eine wichtige Rolle spielt. So ist der Sprechgesang der Opernfigur Tod in der nun uraufgeführten Unterweltszene Schwester Tod onomatopoetisch angelegt:
„I – nanna,
mrdk, nanna, mrd,
uhu,
ugu,
uru,
…“[2]
Wie schon beim Eröffnungskonzert des Musikfestes am 30. August 2021 mit der Uraufführung von Heiner Goebbels A House of Call wird mit Endor das landläufige Konzertformat als Musikwissen wenigstens anders gewendet. Wie sehr eine derartige Aufführungspraxis das Publikum verunsichern kann, wurde bei einer Sitznachbarin deutlich, die in der abgedämpften Beleuchtung auf störende Weise partout im Programmheft nachlesen wollte, was denn nun gespielt und gesungen würde. Nein, Endor war – und ist hoffentlich bei weiteren Aufführungen – auf ein anderes Hörverstehen angelegt. Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt mit seinem sehr kantablen Cellospiel lenken das Hörverstehen vielmehr auf den Klang und das Zusammenspiel der Instrumente. Ebenso gilt es, die Klangfarben und -schichten des Cembalo jenseits einer Epochenzuordnung neu zu hören und zu entdecken. Anders gesagt: die Musiker*innen betreiben mit Endor nicht weniger als ein Dekomponieren und ein Erforschen, was mit anderen Kombinationen klanglich möglich wird. Nachhören und Nachdenken sind gefragt.
War das Konzertformat auf seine Weise nicht immer schon Musiktheater? Endor ist nicht nur mit Wolfgang Rihms Gebet der Hexe von Endor und Schwester Tod musiktheatralisch bis zum Sprechgesang von Nicolas Altstaedt und Francesco Corti, vielmehr wird von den Musiker*innen bereits John Taveners Данте/Dante aus seinen Akhmatova Songs (1993) für Sopran und Violoncello musiktheatralisch angelegt. John Tavener hat Anna Achmatowas Dante-Gedicht nicht ganz für seine Komposition verwendet, sondern einige Verse weggelassen.[3] Motivisch wird von Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt mit dem Lied die Reise in die Unterwelt als Thema angeschlagen. Denn Dante besucht bekanntlich in der Devina Commedia als Dichter die Unterwelt und die Hölle, woran die russische Dichterin 1936 mit ihrem Gedicht anknüpft und sich selbst mit ihm identifiziert.
„Он и после смерти не вернулся
В старую Флоренцию свою.
Этот, уходя, не оглянулся,
Этому я эту песнь пою
.…“[4]
(Er, sogar nach dem Tod, kehrte nicht zurück
Zu seinem alten Florenz.
Dieser, der ging, schaute nicht zurück,
Dazu singe ich dieses Lied.)[5]
Weltliche und geistliche Musik werden mit Endor zur musikalischen Montage unterschiedlicher Genres, die dennoch zusammenklingen. An die weltliche Komposition von John Tavener wird Franz Tunders musikalische wie textliche Bearbeitung des Psalm 137 mit An Wasserflüssen Babylon von 1645 montiert. Dazu erklingt mit Francesco Corti das Kircheninstrument Orgel. John Tavener wie Franz Tunder gehören nicht eben zu den oft gespielten Komponisten in der ohnehin schon marginalisierten Kammermusik. Vielleicht ermöglicht gerade der eher geringe Bekanntheitsgrad außerhalb der Fachforschung, dass sie überhaupt von Prohaska und Altstaedt kombiniert werden können. Franz Tunder wirkte als Organist und das heißt in Kirchen vor allem in Lübeck und am Hof Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf, welcher Schloss Gottorf quasi zu einem barocken Wissenschaftszentrum mit Riesenglobus ausbaute. Damit wird Tunder auch zu einem Protagonisten eines Wechsels von Wissenspraktiken.
Franz Tunder dichtet den Psalm 137 in Abweichung zur Lutherbibel mit barockem Reimschema – ABABCCDEED – nach. Der Reim wird dabei selbst zur narrativen Komposition. Das Schicksal der Israeliten im heutigen Hilla südlich von Bagdad im Irak wird vor allem hinsichtlich einer Gefangenschaft in Psalm 137 besungen. Ob es sich dabei um eine Gefangenschaft unter Nebukadnezar oder ein Exil einer jüdischen Oberschicht im späten Assyrien bzw. Babylon handelt, wird in der historischen Forschung kontrovers diskutiert. Im Barock wird die lyrische Form der Psalmen unterdessen stärker narrativ strukturiert, was besonders mit Franz Tunders An Wasserflüssen Babylon lesbar wird.
„An Wasserflüssen Babylon,
da saßen wir mit Schmerzen,
als wir gedachten an Zion,
da weinten wir von Herzen,
wir hingen auf mit schwerem Muth
die Orgeln und die Harfen gut
an ihre Bäum‘ der Weiden,
die drinnen sind in ihrem Land,
da mussten wir viel Schmach und Schand‘
täglich von ihnen leiden.“[6]
Die Ebene der Narration funktioniert in der Endor-Komposition, obwohl der Text in seiner Mehrsprachigkeit nicht verstanden werden muss oder auf Verstehen angelegt ist. Die alttestamentarische Suche nach einem anderen Wissen von der Zukunft, einem Zukunftswissen wie es im Sommersemester 2016 in den Mosse Lectures diskutiert wurde, als einer Abweichung vom monotheistischen Gott, der sein Wissen und Walten im Voraus[7] nicht preisgibt, rahmt die Geschichte der Hexe von Endor. Der frühe Monotheismus mit einem erst nachträglich enthüllten Wissen als Wahrheit Gottes trifft in dieser Passage auf den Wunsch eines früher praktizierten Zukunftswissens, das die Macht der assyrischen wie babylonischen Herrscher hervorbrachte und lange Zeit sicherte. Einerseits sorgt sich König Saul um Israel. Doch „der Herr antwortete nicht, weder durch Träume noch durchs Licht, noch durch Propheten“.[8] Andererseits ist der Prophet Samuel, „der Seher und Freund Gottes“ gestorben und begraben. Saul hatte „die Wahrsager und Zeichendeuter“ Babylons selbst aus seinem, dem Land der Israeliten, vertrieben. In dieser Not einer Wissenslücke oder eines Unwissens wird Saul von seinem Knecht an ein Weib mit einem „Wahrsagergeist“ in Endor verwiesen. Diese sogenannte Hexe von Endor beherrscht anscheinend Wissenspraktiken, die zuvor ausgelöscht werden sollten. Angesprochen wird so ein fundamentaler Praxiswechsel zum Generieren von Wissen.
Der Name Endor und die Geschichte von Saul werden seither in Variationen und beispielsweise als „merkwürdige() Fälle aus dem Gebiet des Übersinnlichen von 1200 vor bis 1800 nach Christus“ bearbeitet.[9] „Übersinnlich“ ist an der biblischen Erzählung indessen nichts! Doch der Konflikt unterschiedlicher Wissenspraktiken wird mit dem Endor-Stoff bzw. der biblischen Geschichte von Saul im 16. und 17. Jahrhundert, als es mit der Aufklärung wiederum um einen tiefgreifenden Wechsel von Wissen und Wissenschaft geht, wiederholt künstlerisch bearbeitet. Dementsprechend kombinieren Prohaska und Altstaedt auch zwei Arien aus der Oper Saul von Georg Friedrich Händel aus dem Jahr 1738 mit den Kantaten und Liedern. Die fundamentale Veränderung der Wissenspraktiken durch die monotheistischen Religionen – Judentum, Christentum, Islam – gegenüber älteren bzw. assyrischen oder babylonischen Praktiken der Wissensgenerierung z.B. durch den Verbrauch einer Unmenge von Opfertieren, die ein sprachlich elastisches Wissen hervorbringen, ist beispielsweise mit den Wahrsagelebern archäologisch überliefert.[10]
Georges Didi-Huberman hat sich diesen Wissenspraktiken intensiv gewidmet. So geht er auf „ein etruskisches Modell einer Wahrsageleber“ ein, das „über dieselben Charakteristika wie ihre babylonischen Vorgänger“ verfüge: „einen ausreichenden Realismus, um sich in der Morphologie des Organs präzise orientieren zu können; und einen extremen Symbolismus, der die Fläche einteilt – ein Kreis, mehrere Dreiecke, ein Randstreifen, der genau den gebogenen Konturen des Objekts folgt –, die darüber hinaus mit Schriftzeichen überzogen sind“.[11] Die etruskische Wahrsageleber sei „eine Montage aus kultischen, kulturellen und zeitlichen Heterogenitäten“, schreibt Didi-Huberman, die „durchzogen (sei) von exogenen Glaubensüberzeugungen“.[12] Er entwickelt daran eine Theorie des Atlas‘, die von einer „Beunruhigung der Vernunft angesichts von Bildern“ durchbrochen sei.[13] Mit seinem Mnemosyne-Atlas habe Aby Warburg einen „konkrete(n) Apparat eines Denkens“ konzipiert, der die Aufgabe habe, noch einmal oder neu zu lesen:
„So als ob »Was nie geschrieben wurde, lesen« die Praxis eines immer wieder neu beginnenden Lesens erfordern würde: die Praxis, unablässig die Welt neu zu lesen.“[14]
Die monotheistische Gesetzgebung, wie sie in den 10 Geboten des Alten Testaments als verbindliche Handlungsanweisung formuliert worden ist, wird nicht zuletzt mit der Hexe von Endor als weiterhin brüchig angeschrieben. Die Geschichte von Saul wird mit Endor auf diese Weise zur Chiffre nicht nur zweifelhaften oder falschen Wissens, sondern zur Abgrenzung gegen das imaginäre Wissen der Träume und der Leberbilder, denen in den monotheistischen Religionen einen anders ausgerichteten und einzigen Ursprung in Gott zugeschrieben wird. Zugleich wird die Montage der Kompositionen unter dem Titel Endor zu einer anderen Form des Konzerts, indem kombiniert und verwoben wird, was einer Logik der Stimmung gehorcht. Im Interview mit Barbara Barthelmes sagte Anna Prohaska:
„Wie zum Beispiel die Frage, was von der Stimmung her komplett rausfällt oder sehr gut passt. Besonders gut passte der Marche des Scythes von Joseph-Nicolas-Pancrace Royer zu Alexander Therepnins Tartar Dance. Dieser Marsch ist ein sehr berühmtes Stück für Cembalo. Es wirkt wie ein Dance macabre (Totentanz), und legt somit einen weiteren roten Faden durch das Programm. Denn die Hexe von Endor ist auch eine Art Todesbeschwörerin.“[15]
Die Logik der Stimmung wie sie von Prohaska und Altstaedt mit dem Programm praktiziert wird, kreist um ein diskretes Wissen von Babylon. Dementsprechend endete der erste Teil mit der Uraufführung des Gebets der Hexe von Endor, einem Text von Botho Strauß, das Wolfgang Rihm für Prohaska komponiert hat. Botho Strauß hat in seinem Text Psalm 77 mit dem Babylonischen Klagelied kombiniert und verarbeitet. Doch durch diese Textausgangslage wird nicht, wie Didi-Huberman schreibt, das zwischen Imagination und Wahnsinn schwankende Wissen der Bilder formuliert[16], vielmehr wird das Ausbleiben der Bilder durch „Gott“ beklagt. Die „Fackel“ des anderen imaginären Wissens ist erloschen. In dem Gebet an Gott und nicht mehrere Gottheiten, wie sie z.B. auf Wahrsagelebern kartographiert worden waren, bestätigt bereits die Vormacht des israelitischen Gotts.
„Löse meine Sünde, meine Missetat, meinen Frevel.
Übersieh meine Verfehlung, nimm mein Gebet an.
Löse meine Fessel, bewirke meine Befreiung.
Leite meine Pfade recht, daß ich glänzend wie ein
vornehmes Weib unter den Menschen meine Straße ziehen kann.
Laß meine Fackel, die erlosch, wieder leuchten!“[17]
Die Stimmung wird im Gebet der Hexe von Endor insbesondere durch das Violoncello von Nicolas Altstaedt erzeugt. Anders als es eine Klavierbegleitung jemals vermöchte, werden zwischen Sopran und Violoncello kantabile Spannungsbögen aufgebaut, was besonders reizvoll ist. Altstaedt trägt quasi Prohaskas Gebet. Es wird zur Zwiesprache mit Gott, der sich nach dem korrespondierenden Psalm 137 in Babylon als ein abwesender zeigt. Ihm wird von der Hexe der göttliche Zorn als Bestrafung unterstellt. Obwohl Botho Strauß keine Fragezeichen in die Schlussverse setzt, werden sie doch als fragende Behauptungen formuliert. Das Gebet der Hexe von Endor wird nur oberflächlich als Bitte formuliert, um in einer Anschuldigung oder Anklage zu enden bzw. syntagmatisch offen zu lassen, ob gar Lob gesprochen wird. Diese Stimmungswechsel in Stimme und Artikulation lassen sich im Liedklang hören, ohne dass jedes Wort verstanden werden müsste.
„Dein Weg war im Meer und dein Pfad
in großen Wassern, und man spürte doch
Deinen Fuß nicht.
Hat Gott vergessen, gnädig zu sein,
und seine Barmherzigkeit vor Zorn verschlossen.“[18]
Die Hexe von Endor ist ganz und gar keine gläubige Jungfrau des Lobgesangs. Erst in der stimmlichen und klanglichen Dramatik wird die Tragweite dieses Gebets deutlich. Die unterschiedlichen Stimmungen eines Gebets in der spirituellen Praxis werden von Strauß und Rihm mit dem Gebet der Hexe von Endor ausgelotet und kontrastiert, um damit das Genre des Gebets in der Liedliteratur zu befragen. Als kanonisches Wissen des Alten Testaments taugt die Passage der Hexe von Endor ebenso wenig, wie als Darstellung der Macht Gottes. Indem sie durch Imagination einen Kontakt zur Unterwelt, also den Toten hält, verletzt sie auch die Grenze des Todes, über die allein Gott zu entscheiden vermag. Einerseits kehren dadurch Motive der Seelenwanderung wieder, die mit den Texten der Bibel konkurrieren. Der Tag der Auferstehung und damit Wiederkehr der Toten wird allein durch den biblischen Gott bestimmt. Andererseits wird die imaginäre Überschreitung der Grenze des Todes zu einer Machtfrage. Man muss Rihms Gebet der Hexe von Endor insofern gegen vielerlei Erwartung durch das Gebet in der Liedliteratur hören – lesen.
Jörg Widmann hat mit seiner Unterweltszene Schwester Tod aus seiner Oper Babylon mit dem Text von Peter Sloterdijk in gewisser Weise welt-philosophischer und weniger biblisch angelegt. Anna Prohaska, Nicolas Altstaedt und Francesco Corti führen mit Schwester Tod singend, sprechsingend und mehrere Instrumente spielend – Prohaska streicht über den Gong, Altstaedt grummelt den Tod, Corti spricht die Pförtner – ein veritables Musiktheaterstück auf. Hier wird nicht nur eine Handlung, sondern das Musikmachen in Szene gesetzt. Die Musiker*innen haben bei äußerster Konzentration sichtlich Spaß daran. Die Begegnung zwischen Schwester Wollust Inanna (Prohaska) und Schwester Tod (Altstaedt) ist nicht nur gendersensibel angelegt, vielmehr lotet Sloterdijk das Wesen der Schwestern aus. Dabei wird, sozusagen, die Orpheus-Erzählung geschlechtlich umgedreht.
„Inanna
Schwester Tod,
o meine Schwester,
sei einmal, einmal größer als du selbst,
gib mir Tamma jetzt,
meinen Geliebten,
der Sonne wieder
und lass ihn fallen
in die Liebe.“[19]
Die Schwester Tod wird trotzdem weiter als „Der Tod“ angeschrieben, um nur noch stärker auf die Geschlechtsbestimmung des Todes aufmerksam zu machen. – „Ich bin der Tod, weil ich die Regel bin. Niemand kehrt zurück.“ – Die Allegorie der Schwestern hätte mit dem Französischen „la petite mort“ als Orgasmus eine sprachliche Weisheit. Denn in der Orpheus-Erzählung wird dem Protagonisten verboten, sich begehrend oder in Wollust nach Eurydike umzuschauen. Als er es doch tut, verschwindet die Geliebte für immer. Doch so weit geht dann die Unterweltszene intersprachlich nicht. Der Tod ist im Französischen so oder so weiblich. Offen bleibt in dieser Szene, ob der Tod Tamma freilässt. Aber die Schlussformulierung gibt einen Wink: „Wahnsinn ist, Schwester,/was du verlangst./Doch Lust auf Wahnsinn/hast du mir gemacht!“ – Demnach wäre die Wollust (la volupté auch Sinnlichkeit) stärker als das Gesetz des Todes bzw. der Tod als Gesetz und es käme zu einem wollüstigen Happy End zwischen Inanna und Tamma. Eine kleine höchst sinnliche Szene, die mit Bravos belohnt wurde.
Torsten Flüh
[1] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Visuelle Musik. Kompositionen von Igor Strawinsky als Schwerpunkt beim Musikfest Berlin mit Isabelle Faust, Dominique Horwitz, dem Rundfunkchor Berlin und Les Siècles unter der Leitung von François-Xavier Roth. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. September 2021.
[2] Jörg Widmann: Schwester Tod. Unterweltszene aus der Oper Babylon. (Text: Peter Sloterdijk) In: Musikfest Berlin 2021: Endor. 19.12.2021. Berlin: Berliner Festspiele 2021, S. 9.
[3] Vgl. The LiederNet Archive: Данте. (Researcher for this text: Emily Ezust)
[4] Ebenda.
[5] Eigene Übersetzung. (Zu Dante in der Lyrik von Anna Achmatova siehe auch Christine Fischer: Nachwort. In: Anna Achmatowa: 50 Gedichte. Planet Lyrik 2011 (zuerst 2002).
[6] Musikfest Berlin 2021: Endor. 19.12.2021. Berlin: Berliner Festspiele 2021, S. 6.
[7] Siehe: Torsten Flüh: Big Data aus dem Zweistromland. Drei Vorträge über das Zukunftswissen im Rahmen der Mosse Lectures. In. NIGHT OUT @ BERLIN Mai 23, 2016 20:16.
[8] Zitiert nach: Enno Nielsen (Hrsg.): Die Hexe von Endor. Die merkwürdigen Fälle aus dem Gebiet des Übersinnlichen von 1200 vor bis 1800 nach Christus. München 1978, S. 7.
[9] Ebenda.
[10] Torsten Flüh: Big … [wie Anm. 7].
[11] Georges Didi-Huberman: Atlas oder die unruhige Fröhliche Wissenschaft. Das Auge der Geschichte III. Paderborn: Wilhelm Fink, 2016, S. 43.
[12] Ebenda S. 46.
[13] Ebenda S. 48.
[14] Ebenda S. 67.
[15] Gespräch: Von Magierinnen, Geistern und Biblischen Figuren. Anna Prohaska und Nicolas Altstaedt über ihr gemeinsames ENDOR-Projekt mit Francesco Corti. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 14.
[16] Vgl. Georges Didi-Huberman: Atlas … [wie Anm. 11] S. 42.
[17] Wolfgang Rihm: Gebet der Hexe von Endor. In: Musikfest … [wie Anm. 2] S. 7.
[18] Ebenda.
[19] Jörg Widmann: Schwester Tod. Unterweltszene aus der Oper Babylon. In: Ebenda S. 11.
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