Verschwörung – Wissenschaft – Existenz
Wissen um den Tod
Zum Suizid und Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie
In mehreren Konstellationen nehmen Suizide in der Berichterstattung und in Erzählungen zur Covid-19-Pandemie entscheidende Funktionen ein. An der Schnittstelle von Boulevard-Presse und Wissenschaft erschien am 12. Mai 2020 von Birgit Brükner in der BZ ein kurzer Artikel mit dem Titel Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache.[1] Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Prof. Michael Tsokos, hatte in den vorausgegangenen Wochen Kenntnis von mehreren Suiziden erlangt, die er selbst „Corona-Suizid“ nennt. Aus Angst, an Covid-19 erkrankt zu sein, hätten mehrere männliche Personen ihrem Leben durch Suizid ein Ende bereitet. Weiterhin wird eine prognostische Zunahme von Suiziden in Verschwörungstheorien gegen epidemiologische Maßnahmen als Argument in Stellung gebracht.
Den Schreibweisen der Boulevard-Presse entsprechend wird die Beobachtung des Rechtsmediziners als „Gerichtsmediziner“ mit dem Superlativ „bekanntester“ als Sensation angeschrieben. Doch welche sprachlichen Transformationen finden in der Erzählung von sich selbst und einer tödlichen Bedrohung statt? Lassen sich Suizide aus Angst in Krisensituationen auf die von Brükner kolportierte einfache Formel – „Die Betroffenen hatten so viel Angst vor dem Tod, dass für sie nur noch der Tod der Ausweg war“[2] – bringen? Worin unterscheidet sich eine wissenschaftliche Redeweise? Warum liebt die Boulevard-Presse den Superlativ? Trägt der Superlativ zu einer Vereinfachung bei, wenn es um komplexe Vorgänge in schwierigen Zeiten geht? Da Michael Tsokos‘ Studie bislang fast ausschließlich von der BZ, eine „Marke der BILD Gruppe“, aufgegriffen wurde[3], kommt der Frage nach den narrativen Formaten der Boulevard-Presse in der Konstellation von Suizid und Covid-19-Pandemie erhöhte Aufmerksamkeit zu.
Liest man den am 27. Mai 2020 bei der Fachzeitschrift Legal Medicine eingegangenen Brief von Claas Buschmann[4] aus dem Institut für Rechtsmedizin, Institute of Legal Medicine and Forensic Sciences of the Charité, dreht sich die Suizid-Erzählung nahezu um. Denn der Mitarbeiter des Rechtsmediziners Michael Tsokos machte in dem internationalen Fachmagazin für Rechtsmedizin auf Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room aufmerksam. In seinem Artikel berichtet Buschmann von elf Toden durch Suizid als „effects of Corona pandemic lockdown“, die er in der Rechtsmedizin der Charité obduziert habe. Die Suizide werden in ein Verhältnis zu vorhandenen oder nicht vorhandenen psychischen Vorerkrankungen gebracht, um so auf präventive Maßnahmen aufmerksam machen zu können. Denn, so Buschmann und Tsokos, vor allem die mediale Darstellung des „lockdown“ und der Pandemie hätten zu den „Corona-Suiziden“ geführt.
„The effects of the lockdown as well as the media omnipresence of the topic with partly apocalyptic overscription and statements made by medical experts out of context were regarded as triggering the decision to commit suicide.“[5] (Die Auswirkungen des Lockdowns sowie die mediale Allgegenwart des Themas mit teilweise apokalyptischer Überschrift und Aussagen von medizinischen Experten aus dem Zusammenhang wurden als Auslöser für die Entscheidung zum Selbstmord angesehen.)
Einschub: Bloggen geschieht gewissermaßen in Echtzeit. Deshalb werden hier Fotos vom Nettelbeckplatz eingefügt. Als der Blogger bei geöffnetem Fenster zum Nettelbeckplatz an seiner Besprechung schrieb, hörte er mit einem Mal Gesänge. Er hörte wenigstens zwei ausgebildete Frauenstimmen, die offenbar live sozusagen unter seinem Fenster sangen. Durch das Platanenblätterdach über dem Platz konnte er die Sängerinnen, Opernsängerinnen gar, nicht sehen. Seit März finden weltweit keine Opernaufführungen und Konzerte statt. Die Aufnahme des Opernbetriebes ist weiterhin völlig offen. Li Mingwei hat in seine Installation 禮/Lǐ Geschenke und Rituale im Gropius-Bau das Projekt Sonic Blossom eingebaut und zu Invitation for Dawn ins Virtuelle transformiert. Die Opernstimmen auf dem Nettelbeckplatz lassen den Berichterstatter sogleich an Paggliacci von Ruggero Leoncavallo denken. Der Berichterstatter muss den Opernstimmen nachgehen und trifft unter einer Platane die Sopranistin Chantale Nurse und die Koloratursopranistin Suzanne Rigden, die sich schon in einem Gespräch mit einem Passanten, Christian Wagner, finden, der wiederum als Bariton mit dem Vocalconsort Berlin ab dem 12. September den Jesus in Arvo Pärts Passio in der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum singen wird. Chantale Nurse und Suzanne Rigden gehören zum Ensemble Vocal Arts-Quebec und geben zur Zeit auf Plätzen in Berlin Pop up-Konzerte. Im Gespräch sind sich die Sängerinnen schnell einig, dass sie für mich noch einmal singen. Der Zwischenfall bringt das Bildkonzept für meinen Blog, in dem es über Suizid, Tod und Verschwörungstheorien geht, völlig durcheinander. Doch ignorieren kann der Blogger das Geschenk zweier Lieder für ihn auf dem Nettelbeckplatz nicht. Denn auch das passiert während der Covid-19-Pandemie.
Buschmann und Tsoros kontextualisieren ihre elf Autopsien der „Corona-Suizide“ mit einem Beitrag vom 22. Mai von Amy Hollyfield auf ABC7News aus San Franzisko, wo Mitarbeiter des John Muir Medical Center in Walnut Creek mehr Tote durch Suizid als durch CoVid-19 verzeichneten.[6] Die Ärzte in San Franzisko plädierten deshalb dafür, den Lockdown zu beenden. Buschmann und Tsoros grenzen sich nicht dezidiert von Amy Hollyfield und den Ärzten ab. Der in San Franzisko sicher noch einmal anders gelagerten Kritik am Lockdown wird von den Rechtsmedizinern der Charité nicht widersprochen. Statt mit der Benennung „Corona-Suizid“ Klarheit über Narrative und insbesondere Zuspitzung von Narrativen durch Entkontextualisierung in den Boulevard-Medien zu schaffen, verkennen die Rechtsmediziner die kulturhistorische Dimension des Suizids, wie sie von Thomas Macho in seinem Buch Das Leben nehmen[7] erforscht worden ist, und das Potential des Namens zur Verschwörungstheorie. Die Argumentation der Verschwörungstheoretiker lautet nun, dass der „Lockdown“ mehr Menschenleben gekostet habe und kosten werde als die Erkrankung durch Sars-Cov-2.[8]
Die Suizide durch Selbststrangulierung (5), Sturz aus großer Höhe (5) und „train suicid“ (1)[9] aus Angst vor Sars-Cov-2 folgen dem Narrativ der christlichen Apokalypse. Entgegen dem verschwörungstheoretischen Verfahren der Verrechnung von Menschenleben folgt die apokalyptische Schreibweise in Überschriften, wie sie von Buschmann beobachtet wurde, einem sehr alten Erzählmodell, das zumindest für die westlichen oder abendländischen Kulturen weiterhin wirkt. Macho hat das Kulturmodell der „Todesantinomie“ von Franz Borkenau in seinem Kapitel über den „Suizid vor der Moderne“ genauer diskutiert.[10] Die „Todesantinomie“ benennt „die Effekte des unauflösbaren Widerspruchs zwischen Leitbildern der Todesüberwindung und der Todeshinnahme“.[11] Dabei ist die „Todesüberwindung“ nach Borkenau „der Kern der christlichen Botschaft“.[12] Doch diese „Todesüberwindung“ wird narratologisch unauflösbar mit der Offenbarung als Apokalypse verknüpft.
„Kurzum, das Ende sei nah, die Vernichtung der Welt und die glorreiche Errichtung des neuen Jerusalem, der Gottesstadt, die keinen Tod mehr kennen werde: »Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal« (Offb 21, 4).“[13]
Nach Buschmann lassen sich für die Corona-Suizide drei Textelemente identifizieren, die in Berlin während eines nicht genauer benannten Zeitraums ab März bis Mai 2020 elf gewaltsame Tode von eigener Hand generierten: Der „Lockdown“ als befehlsförmige Anordnung von „Kontakt-Beschränkungen“, die „apokalyptischen Überschriften“ und die „statements made by medical experts out of context“. Kurzerhand werden die deutschen „Kontakt-Beschränkungen“ zum Oberbegriff „Lockdown“ der weltweit differierenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und Abflachung der Epidemie-Kurve als Fakt zusammengefasst. Dabei hatte sich bereits im April abgezeichnet, dass „Kontakt-Beschränkungen“ schnell zur „Kontaktsperre“ und zur „Ausgangssperre“ transformiert waren.[14] Einen „Lockdown“ als „Ausgangssperre“ hat es allerdings so nie in Berlin gegeben, vielmehr konnte sich jede und jeder zur sportlichen Betätigung in unbegrenztem Kilometerumfang in Berlin und sogar um Berlin herum zu Fuß oder mit dem Rad bewegen. In Frankreich z.B. war das nicht möglich.
Der Lockdown als eine traumatisierende Erfahrung war und ist insofern sehr wohl von seiner Formulierung abhängig. Er ist kein Phänomen an sich, das eingeordnet werden müsste. Vielmehr wurde er i.d.R. sehr differenziert formuliert. Zu den Folgen der „Kontakt-Beschränkungen“ konnte und kann allerdings bei Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz (IfSG), das am 27. März 2020 durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite[15] geändert und modifiziert wurde, Quarantäne und damit zur räumlichen Isolation verordnet werden. Anders gesagt: der „Lockdown“ wurde im März erst möglich durch eine umfangreiche Produktion von Gesetzestexten, die sich selbstverständlich an das Grundgesetz zu halten hatten. Generelle Kollisionen des Gesetzes mit Grundrechten nach dem Grundgesetz wurden durch Abwägung durchaus vermieden. Allein die Quarantänebestimmungen schränken diese sehr differenziert in § 28 Absatz 1 ein:
„6. § 28 Absatz 1 wird wir folgt gefasst:
„(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. (…) Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt.“[16]
Was beispielsweise in der Boulevard-Presse selten Berücksichtigung findet ist die Funktion der Modalverben. In Gesetzestexten entscheiden sie alles. § 28 Absatz 1 ist als eine Kann-Vorschrift formuliert: „sie (die zuständige Behörde) kann insbesondere Personen verpflichten“. Eine Kann-Formulierung im Gesetzestext ist eine relativ schwache im Unterschied zu Soll- oder Muss-Vorschriften. Das Gesundheitsamt oder eine ähnliche „Behörde“ erhält also lediglich unter Abwägung kollidierender Rechte die Möglichkeit „Kranke“ etc. unter Quarantäne zu stellen. Es geht auch lediglich um eine Verpflichtung der Person, die erst in einer weiteren Abwägung der Verhältnismäßigkeit in einen Zwang transformiert werden kann. Nun ist die Kenntnis der Funktion von Modalverben in Gesetzestexten in der Bevölkerung, geschweige die Kenntnis von § 28 Absatz 1 des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nicht vorauszusetzen. Auch der Berichterstatter hat sie erst recherchieren müssen. Allerdings kann man sich gerade in Krisensituationen in einer Demokratie wie der der Bundesrepublik Deutschland darauf verlassen, dass die Regierung als Legislative keine neuen Gesetze erfinden, sondern „ändern“ bzw. modifizieren wird.
Nicht nur das Modalverb kann ist entscheidend, vielmehr noch berücksichtigt der Gesetzesgeber die Grundrechte und benennt ausdrücklich jene, die „eingeschränkt“ werden „können“, aber nicht müssen. Der geänderte § 28 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes gibt auch einen Wink auf die Persönlichkeitsrechte, die ausdrücklich nicht eingeschränkt werden dürfen. In Satz 3 des § 28 Absatz 1 heißt es ausdrücklich: „Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden.“[17] Mit der Darf-nicht-Vorschrift ist es dem Staat und seinen Behörden ausdrücklich verboten, eine „Heilbehandlung“ anzuordnen. Das heißt letztlich auch, dass „Kranke“ etc. unter Zwang nicht geimpft werden dürfen. Ein Großteil der Ängste, die durch Verschwörungstheorien verschaltet und kombiniert werden, wird durch das Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite von 27. März 2020 dezidiert ausgeschlossen. Seither werden die Bestimmungen des Gesetzes für Infektionsschutzrecht, Sozialrecht, Wirtschaftsrecht, Baurecht ständig modifiziert und entschärft.
Der Exkurs zum für den sogenannten Lockdown relevanten Gesetzestext, der am 27. März 2020 sogleich im Bundesanzeiger digital und weltweit zugänglich war, wurde hier eingeflochten, um die hohe imaginäre Besetzung und durchaus Verfälschung der „Kontakt-Beschränkungen“ lesbar werden zu lassen. Abschiedsbriefe und polizeiliche Befragungen haben nach Buschmann die Beweggründe für die „Corona-Suizide“ geliefert. Denn in der Prosektur selbst ließ sich ja nur die Todesursache feststellen und ob sie mit einer faktischen Infektion mit Sars-Cov-2 bestätigt werden konnte. Doch die, um einmal einen umgangssprachlichen Begriff einzufügen, Selbstmörder waren nicht mit dem Virus, sehr wohl aber mit dem Wissen um ihn infiziert. Die Suizid-Begründung als „Konfliktbewältigung“ weist dabei eine deutliche Ähnlichkeit zu Verschwörungstheorien auf, wie sie in den Mosse-Lectures im Sommersemester 2020 hätten diskutiert werden sollen.[18] Die von Brükner nach den Abschiedsbriefen und polizeilichen Befragungen kolportierten Fälle werden dramatisiert, wenn es beispielsweise heißt:
„Der 39-jährige Mitarbeiter einer europäischen Botschaft nahm sich am 20. März das Leben. Kriminalpolizeiliche Ermittlungen ergaben, dass der Mann befürchtet hatte, sich mit SARS-CoV-2 infiziert zu haben. In den Tagen vor dem Tod hatte ein leichter grippaler Infekt bestanden. Ein Abstrich war durch zwei Hausärzte unabhängig voneinander als nicht notwendig angesehen und daher abgelehnt worden. Nach Angabe von Bekannten sei der Mann dennoch „regelrecht paranoid“ gewesen, sich angesteckt zu haben.“[19]
Wir erfahren aus der Fallgeschichte nicht, welche Lebensumstände den „39-jährigen Mitarbeiter einer europäischen Botschaft“ zu seiner Befürchtung einer Infektion veranlasst haben. Als eine Verkettung unglücklicher Umstände könnte die Verweigerung der „Abstrich(e) … durch zwei Hausärzte“, was die geläufige Praxis war, angesehen werden. Denn sie hätte die Infektion widerlegen können. Ob die Fallgeschichte wirklich gleich eine Diagnose „Corona-Suizid“ erlaubt, bleibt fraglich. Vielmehr gibt die Fallgeschichte einen Wink u.a. auf den Roman Der Eros des Nordens von Petri Tamminen, der 2007 erschien und den Umgang mit einer projizierten HIV-Infektion verarbeitet. Die Infektionsparanoia wäre insofern unabhängig vom Virus, während sie gleichzeitig auf narrative Prozesse und Strategien verweist.
„Kaum hat er das negative Testergebnis bekommen und die Aids-Beratungsstelle verlassen, da tastet Harri schon wieder nach seinen Lymphknoten: Womöglich, überlegt er, hat er sich überhaupt erst infiziert, als ihm einige Tage zuvor mit einer Spritze die Blutprobe für den Test entnommen wurde. … Kein negativer HIV-Test kann ihn beruhigen.“[20]
Die Bandbreite der Reaktionen auf AIDS als Wissensformation war in den 80er und 90er Jahren beträchtlich. Der Suizid gehörte gewiss auch dazu, obwohl das nicht in der von Buschmann und Tsoros angelegten Autopsie beschrieben worden ist. Mit einer großen Diversität wurden Praktiken im Umgang gegen eine Infektion und mit einer Infektion entwickelt. Sehr schnell war bei SARS-Cov-2 klar, dass sich das Virus wie bei HIV auch durch Geschlechtsverkehr übertragen lässt. Trotzdem wird Covid-19 nicht als Geschlechtskrankheit wahrgenommen. Erst langsam dringt in den öffentlichen Diskurs, dass SARS-Cov-2 auch Sexualpraktiken betrifft. Die AIDS-Hilfe hatte schon im März auf die Übertragbarkeit durch Sexualkontakte hingewiesen, da sich das Virus im Blut und im Sperma befindet. Durch die respiratorische Übertragungsweise von SARS-Cov-2, die zu einer rasanten epidemiologischen Verbreitung führte und führt, wurden allerdings die sexuellen Übertragungsmöglichkeiten strukturell ausblendet, obwohl sie genauso virulent sind. Entgegen der schwierigen Benennung einer neuen Suizidart – „Corona-Suizid“ – sieht Thomas Macho die „Frage nach dem Suizid“ als „ein Leitmotiv der Moderne“.[21]
„Für sich genommen bezeugen die Debatten um Nachahmungssuizide im 19. Jahrhundert, um Kinder- und Schülersuizide zur Jahrhundertwende, erst recht die faschistische Verschränkung von Mord und Selbstmord im »Viva la muerte!« allerdings noch keine Umwertung des Suizids, wie sie Friedrich Nietzsches Zarathustra forderte, sondern eine ambivalente Faszination, die zwischen Abwehr und Identifikation, moralischer Verurteilung und heroischer Idealisierung, Krankheitsdiagnose und ästhetischem Bekenntnis hin und her schwankte.“[22]
Der Suizid wie er mit „Corona-Suizid“ benannt und verfehlt wird, korrespondiert nicht zuletzt mit einer „Umwertung des Suizids“ durch das Szenario der Pandemie als Wissenserschütterung. Durch den permanent anschwellenden und sich auf vielfältige Weise widersprechenden Corona-Diskurs entsteht die Fiktion, dass wir schon vielmehr wüssten als zu Beginn der Pandemie. Risikofaktoren lassen sich anscheinend plötzlich mit Blutgruppen abgleichen, Apps verschaffen ein paradoxes Sicherheitswissen vor der Nähe des Todes. Thomas Macho hat am 18. April 2020 das Sterben in Zeiten der Pandemie im philosophie magazin bedacht. Da gab es zwar Suizid im Kontext der Covid-19-Pandemie, aber noch keinen „Corona-Suizid“. Die relativ schmalen Zahlen – 11 Corona-Suizide im Verhältnis zu 214 an Covid-19 Verstorbenen – und Texte zum „Corona-Suizid“ wären für Macho womöglich ein befragenswerter Bereich des Suizids in der Moderne. Denn der „Corona-Suizid“ lässt sich als ebenso elastisch wie verfehlend beschreiben. Das Wort Corona lässt sich bereits als eine ebenso weit verbreitete wie sehr elastische Benennung der Infektion von SARS-Cov-2 darstellen. Corona animierte zu humorvollen Witzen mit Flaschen einer Biermarke ebenso wie mit der spanischen Krone. Gegenüber dem Fachbegriff für die Pandemie und dem für das Virus wird Corona auf äußerst vielfältige fiktionale Weise gebraucht und verknüpft. Corona lässt sich zwischenzeitlich als ein hoch anschlussfähiges Trivialwissen für alles gebrauchen, das fachlich nicht festgelegt ist. Dieses sehr elastische und leicht ins Paranoide überspringende Wissen benennt einen neuartigen Suizid unter Vorbehalt. Statt Benennung beobachtet Macho etwas anderes:
„Manchmal zwingt sich geradezu der Eindruck auf, die übermächtige Präsenz des Todes in Bildern, Nachrichten und Statistiken verstärke nur die Abwehr, eine kollektive Angst, die sich jedem Gespräch und Trost energisch widersetzt. Leben wird als Überleben demaskiert; die Frage nach dem guten und richtigen Leben verstummt.“[21]
Das neuartige Wissen um den Tod erhält mit der Pandemie, in der wir uns alle auf dem Globus befinden, eine andere Dringlichkeit. Wir können uns unseren eigenen Tod nicht vorstellen. Der Tod macht in Massengräbern, wie es sie in Deutschland bislang nicht gegeben hat, auf erschreckende Weise alle gleich in einer Zeit, in der Friedhöfe aufgelöst werden, weil in Berlin nicht mehr „richtig“ gestorben und begraben wird. Eine Grabstein-Kultur wie sie insbesondere um 1900 auf den Berliner Friedhöfen grandiose Bauten und Verkehrungen hervorgebracht hat, ist zwischenzeitlich verfallen. Die Namen und Professionen wie die des „innigstgeliebte(n) Mann(es), unser stets treusorgende(n) Vater(s), Schwiegervater(s) und herzensgute(n) Opa(s) de(s) Innereien-Großhändlers Albert Hauschild“ auf dem Georgen-Parochial-Friedhof II werden nahezu widerstandslos dem Verfall zu Staub hingegeben.
Torsten Flüh
Vocalconsort Berlin
Arvo Pärt
Passio (Johannespassion)
Samstag, 12. September 2020 von 20:00 bis 21:30 UTC+02
St.-Matthäus-Kirche.
[1] Birgit Brükner: Berlins bekanntester Gerichtsmediziner: Corona-Suizide durch Panikmache. In: BZ 12. Mai 2020 16:21 Aktualisiert 13.05.2020 06:43.
[2] Ebenda.
[3] Siehe auch Christian Gehrke: Rechtsmediziner Michael Tsokos: Berliner nehmen sich aus Angst vor Corona das Leben. In: Berliner Kurier 1.06.20, 13:35 Uhr
Fanny Jimenez: „Corona-Suizid“: Charité-Rechtsmediziner Michael Tsokos über ein neues Motiv in der Pandemie. In: BusinessInsider 18. Mai 2020.
[4] Claas Buschmann: Corona-associated suicide – Observations made in the autopsy room. In: Legal Medicine Received 27 May 2020; Accepted 31 May 2020 Legal Medicine 46 (2020) 101723 Available online 03 June 2020.
[5] Ebenda.
[6] Amy Hollyfield: Suicides on the rise amid stay-at-home order, Bay Area medical professionals say. In: abc 7 News May 22 2020.
[7] Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2017.
[8] Diese Argumentation als eine zentrale der Verschwörungstheorien zu Covid-19 begegnete dem Berichterstatter zum ersten Mal beim Besuch eines langjährigen Freundes und Betriebswirtschaftlers.
[9] Claas Buschmann: Corona … [wie Anm. 4].
[10] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 64-65.
[11] Ebenda S. 65.
[12] Ebenda S. 66.
[xiii] Ebenda S. 67.
[14] Vgl. zu „Kontakt-Beschränkungen“ auch Torsten Flüh: Vom Wissenswunsch und zu Informationspraktiken. Ein nachträglicher Osterspaziergang über das Charité-Gelände und Heinrich von Kleists Charité-Vorfall. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. April 2020.
[15] Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite. Bonn 27. März 2020. (Bundesanzeiger)
[16] Ebenda.
[17] Ebenda.
[18] Siehe Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werden. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.
[19] Birgit Brükner: Berlins … [wie Anm. 1]
[20] Christina Hucklenbroich: Die bizarren Ängste eingebildeter Aidskranker. In: Welt 27.07.2007.
[21] Thomas Macho: Das … [wie Anm. 7] S. 200.
[22] Ebenda.
[23] Thomas Macho: Sterben in Zeiten der Pandemie. In: philosophie magazin 18.04.2020.
Ein Kommentar