Verstörend statt bezaubernd

Bruch – Material – Bild

Verstörend statt bezaubernd

Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie

Der Berliner Geschichtsbildmaler Anton von Werner und Kaiser Wilhelm II. erwarteten auf Empfehlung des international berühmten norwegischen Landschaftsmalers Adelsteen Normann am 5. November 1892 im Ehrensaal der Rotunde im Haus des Architektenvereins in der Wilhelmstraße 92/93 malerische Fjordansichten des noch unbekannten Edvard Munch. – Wenn Sie schon einmal von der Glienicker Brücke rechts hinunter die Schwanenallee zum Neuen Garten gegangen sind, dann haben Sie neuerdings Kaiser Wilhelms Norwegen mit dem Bootshaus Kongnæs im Drachenstil rekonstruiert gesehen. Das Norwegen der Fjorde und Drachenstil-Villen, wie sich Normann gerade eine am Sognefjord hatte bauen lassen, gaben Wilhelm II. Orientierung und beflügelten seine Fantasie.

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Das Kaiserreich liebte den um 1870 in Schweden konstruierten fornnordisk, Altnordischen Stil, ein nordischer Historismus, wie er im Drachenstil und noch 1911 in der norwegischen Friedhofskapelle aus Holz in Stahnsdorf zum Zuge kommen sollte. Adelsteen Normann wurde 1917 nach seinem Tod an der Spanischen Grippe unweit der altnordischen Stabkirche auf dem Friedhof Stahnsdorf beigesetzt. Der Industrie- und Imperialismus-Kaiser Wilhelm II. fuhr seit 1889 mit seiner Staatsyacht Hohenzollern jeden Sommer in die Fjorde, wo das Idyll nicht durch die bereits in Berlin fortgeschrittene Industrialisierung gestört wurde. 1891/92 ließ er die „Ventehalle“ am Jungfernsee nach Plänen des norwegischen Drachenstil-Architekten Holm Hansen Munthe errichten. In dieses imaginäre Norwegen platzten 55 Bilder von Edvard Munch, die wie Schlünde von Drachen in neuartiger Materialität des Farbauftrags einen Bruch in der Geschichte der Malerei rissen.

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Der Bruch Edvard Munchs mit der Geschichte der Malerei, wie er am 5. November 1892 in Berlin öffentlich wurde, ließ sich nicht mehr reparieren. Er riss Gräben in den Verein Berliner Künstler. Der Bruch wurde als „eine Verletzung der Gastfreundschaft“ debattiert[1], wie die Kuratorin der Ausstellung, Stefanie Heckmann, im Katalog schreibt. „Viele Mitglieder des Vereins und das Publikum waren schockiert von den Bildern, die unter anderem als roh, skizzenhaft und unfertig empfunden wurden.“[2] Anton von Werner setzte durch, dass die anstößige, die organisierten Maler beleidigende, gleichwohl revolutionäre Ausstellung am 12. November 1892 geschlossen werden musste. Der Streit um die Moderne hatte in Berlin begonnen. Edvard Munch und Berlin als aufstrebender Ort von Kunstdebatten und -handel waren mit einem Schlag bekannt geworden. Berlin wurde bis 1933 mit rund 60 Gruppen- und Einzelausstellungen zum Dreh- und Angelpunkt der Munch-Rezeption.

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Am Schluss präsentiert die von Stefanie Heckmann kuratierte Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie, die noch bis 22. Januar 2024 unter strikten Zeitfensterregeln des MUNCH-Museums in Oslo zu sehen ist, den sogenannten „Reinhardt-Fries“ aus dem Bestand der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Denn die Berlinische Galerie besitzt selbst keine Gemälde von Edvard Munch. Die Neue Nationalgalerie, das Kupferstichkabinett, die Stiftung Stadtmuseum Berlin, zahlreiche Leihgeber*innen und vor allem das MUNCH in Oslo bestreiten den größten Teil der Exponate. Aus dem eigenen Bestand kann die Berlinische Galerie mit Walter Leistikows Fjordlandschaft (um 1897), Hans Hermanns Blühende Bäume (1894) und Ludwig Hofmanns Die rosa Wolke (um 1903) drei Gemälde von in Berlin um 1900 arbeitenden Malern beitragen. Die Ausstellung stellt u.a. über den großformatigen Sommerabend in den Lofoten (1891) von Adelsteen Normann aus der Nationalgalerie Berlin Kontraste und Kontexte zu Edvard Munchs Gemälden her.

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Die Berlinische Galerie wurde 1975 als Verein von in Berlin engagierten und kunstinteressierten Bürger*innen gegründet. Sie ist seit 1994 ein Museum des Landes Berlin. Gelegentlich wird sie in der reichhaltigen Berliner Museumslandschaft übersehen, so wie jüngst ein Freund sich per Taxi in die Spandauer Straße chauffieren ließ, weil er meinte, die Berlinische Galerie habe dort ihren Sitz. Tatsächlich liegt sie seit 2004 unweit des Jüdischen Museums in der Alten Jacobstraße 124-128 im umgebauten, dem kalten Krieg geschuldeten, ehemaligen Fensterscheibenlager der Stadt Berlin. Insofern ist der von Jörg Fricke umgestaltete Industriebau zum Museum mit seinen rund 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zugleich ein Berliner Geschichtsbau. Die einst kunstinteressierten Sammler*innen der 70er Jahre und später konnten nie einen Munch erwerben. Walter Leistikow, Ludwig Hofmann und Hans Hermann waren erreichbarer. Mit der Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in Kooperation mit dem Munchmuseet Oslo ist dem Haus unter der Leitung von Thomas Köhler ein Coup geglückt. Die Ausstellung soll nun 2026 in Oslo gezeigt werden.

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Stefanie Heckmanns Ausstellungskonzept verspricht zwar mit dem „Zauber des Nordens“, indem sie an eine Formulierung von Stefan Zweig von 1925 anknüpft[3] eine Art Norwegenreise, aber wie schon bei den Fjorden steht das Berlin des Kaiserreichs und später der Weimarer Republik im Mittelpunkt. Berlin, genauer „Gustav Türkes Weinhandlung und Probierstube Unter den Linden, Ecke Neue Wilhelmstraẞe“[4] wurde nach August Strindbergs dichterischer, möglicherweise alkoholisierter Wahrnehmung „Zum schwarzen Ferkel“. Da die skandinavische Boheme in der Weinhandlung oft recht freizügig verkehrte – Strindberg, Frauen und Männer sollen auf dem Tisch getanzt haben -, könnte ebenso der Begriff der unschicklichen, sexualisierten Ferkelei[5] zur Benennung des Treffpunktes und Kunstdebattenraumes beigetragen haben. „Über der Tür hing ein Weinschlauch, den er (Strindberg, T.F.) im Dunkeln für ein Ferkel gehalten hatte.“ Nach Heckmann handelte es sich bei dem „Kreis um Munch, der sich in Berlin von etwa November 1892 bis September/ Oktober 1894 – nicht nur im Schwarzen Ferkel – traf,“ um „keine feste Gruppe“.[6]

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Das Schwarze Ferkel wurde in der nordischen Kunst-, Literatur- und Munchgeschichte mehr oder weniger ein geflügeltes Wort der initialen Berlin-Erlebnisse. Am 20. Januar 1893, etwas mehr als 2 Monate nach seiner kolossal im Verein und mehr noch in den in Berlin erscheinenden Zeitungen debattierten Ausstellung im Architektenhaus, schrieb Edvard Munch als eine Art Star der Moderne an seine Schwester Inger: „Wir Skandinavier – [August] Strindberg, Gunnar Heiberg, [Holger] Drachmann und ich und ein gewisser [Adolf] Paul sind fast immer zusammen und sitzen in einer kleinen Weinstube beieinander.“[7]  Es kamen der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski und seine Frau Dagny Juel Przybyszewska zu den Skandinaviern im Schwarzen Ferkel hinzu. 1893 malte Munch Dagny in tiefem Nachtblau mit Muff und hellem Gesicht mit feinem Lächeln.[8] Przybyszewski und Strindberg wurden gezeichnet und letzterer im Medium Druckgrafik mit verwirbelter Haarpracht zur Modernitätsikone.

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Der heute kaum mehr bekannte Schriftsteller Przybyszewski, der zunächst Medizin mit Schwerpunkt Neurologie in Berlin studiert hatte, verknüpfte die Malerei Munchs auf bahnbrechende Weise mit der neuartigen Psychologie. Der Berliner Debatten-Kosmos erlaubte es plötzlich, über Bilder oder Gemälde anders zu schreiben, als es beispielsweise in der „Zeitungskritik“ üblich war. Der kunstinteressierte Medizinstudent traf auf den Maler Edvard Munch. „Kurz zuvor hatte Przybyszewski, nachdem er aus der medizinischen Fakultät in Berlin ausgeschlossen worden war, die Schrift Zur Psychologie des Individuums I über zwei „Rauschkünstler“, den französisch-polnischen Komponisten Frédéric Chopin und den Philosophen Friedrich Nietzsche, veröffentlicht.“[9] Damit war die Bahn bereitet, die sich auf den Maler übertragen ließ. Mit der Psychologie ließ sich zugleich über die verpönte Sexualität sprechen und schreiben. Schon 1885 war es mit dem Gerichtsprozess um den u.a. Aktmaler Gustav Graef zu einem aufsehenerregenden, in den Berliner Zeitungen verhandelten Prozess um Sexualität und Kunst gekommen.

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Die Funktion, die Stanisław Przybyszewski mit der neuartigen Rede der Psychologie für die Wahrnehmung, sozusagen aus dem Schwarzen Ferkel heraus, der Arbeiten Edvard Munchs einnimmt, lässt sich vermutlich kaum überschätzen. Nach dem Bruch legte sich über die Malerei eine neuartige Rede über das Innere, das Individuum, das nunmehr, noch bevor der Maler Munch es gewusst hätte, zum Dogma der Moderne werden sollte. Die Wahrnehmung wurde gewissermaßen umgestülpt, wie es der Maler hätte nicht sagen können. Statt das Äußere der „erhabenen“ Fjordlandschaften zur Gefühlswelt im Innern werden zu lassen, wird nun mit einer neuartigen Psychologie das Innere nach außen gekehrt. Der gerade erst 29jährige, eher eigenbrötlerische, kaum redegewandte Maler, der geradezu rauschhaft produzierte, geboren am 12. Dezember 1863, erhält durch Przybyszewskis experimentelle Verwendung der Psychologie eine Sprache für seine Bilder. Denn an der Sprache hatte es bei der Beschreibung der Ausstellung und ihrem Abbruch gehapert.

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Die Einleitung von Stefanie Heckmann legt ihren Fokus auf Munchs Ausstellungen in Berlin als eine Art Erfolgsgeschichte der Moderne bis 1933. Berücksichtigt und rekonstruiert wird dabei das persönliche Umfeld des Malers. Doch das Kunst-Debatten-Umfeld bleibt ein wenig vage. In Berlin kristallisiert sich um 1890 eine Naturalismus-Debatte in der Malerei wie der Literatur und dem Theater heraus. 1892 hatte Gerhard Hauptmann sein Drama Die Weber veröffentlicht, das 1894 am Deutschen Theater uraufgeführt werden sollte. Am 14. März 1889 war August Strindbergs naturalistische Tragödie Fröken Julie in Kopenhagen uraufgeführt worden. Gut drei Jahre später am 3. April 1892 wurde im Residenztheater in der Stralauer Vorstadt in der Nähe der Jannowitzbrücke Fräulein Julie vom Verein Freie Bühne erstmals in Deutschland aufgeführt, was zu einem derartigen Skandal geführt hatte, dass es in Berlin bis 1904 die einzige Aufführung blieb. In dieser aufgeheizten Debatte zum Naturalismus bespricht der Berliner Kritiker Adolf Rosenberg die Bilder in der Ausstellung als „Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind“.[10]

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Welche Gemälde wurden 1892 gezeigt? Die Titel der Gemälde, die Edvard Munch am 5. November 1892 ausstellte, sind nur rudimentär überliefert. Einige wurden anscheinend im Laufe der Zeit umbenannt. Sabine Meister kommt in ihrem Essay für den Katalog auf gerade einmal 4 identifizierte Titel: „Mit 55 Gemälden, darunter Das kranke Kind, 1885, Nacht in Saint-Cloud, 1890, Kuss und Verzweiflung, beide 1892, bespielte Munch nun also die Rotunde im Erdgeschoss.“[11] Die Schwierigkeit der Rekonstruktion dessen, was die Maler und das Publikum bei der Eröffnung zu sehen bekamen, führt in der Ausstellung der Berlinischen Galerie dazu, dass kaum ein Gemälde von damals mit Bestimmtheit gezeigt werden kann trotz der umfangreichen Leihgaben aus Oslo. Der berühmte Schrei, zuerst Verzweiflung, der gezeigt wurde, musste quasi als norwegischer Staatsschatz in Oslo bleiben. Doch schon Monika Krisch hatte herausgearbeitet, dass sich bereits die umfangreiche Berichterstattung in den Zeitungen mit dem Begriff Gemälde schwertat.
„Als frappierendste Wirkung der beiden Ausstellungen im Architektenhaus und im Equitable-Palast beschreiben fast alle Kritiker ihren Eindruck, daß es sich bei den Exponaten gar nicht um vollendete Gemälde handele, sondern bloß um „große Skizzen“, in „bisher unerhörter Flüchtigkeit hingewischte Farbenskizzen“, „flüchtige Farbennotizen“, willkürliche Farbenexperimente“, „impressionistische Studien“, „Studienmaterial“. Die Bilder dieser Kollektion seien „bis zur Unkenntlichkeit in den Anfängen belassen“ und letztendlich nur „Fragmente“.“[12]

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Der wichtige Beitrag für die Munch-Kunstkritik der Zeitungsstadt Berlin von Monika Krisch wird leider für die Ausstellung und die Essays nicht weiterentwickelt. Um 1892 entwickelt sich das Zeitungsviertel zwischen Friedrichstraße und Jerusalemer Straße sowie Zimmer- und Kochstraße zu einem internationalen Medienzentrum. Rudolf Mosse wird einer der reichsten Männer Berlins durch Zeitungen als Geschäftsmodell.[13] Aus dem Zeitungsviertel gehen Debatten hervor. Krisch hat eine Vielzahl von Kritiken der Zeitungen gesammelt, gelesen und ausgewertet. Adolf Rosenberg mag einer der Meinungsführer gewesen sein, der in den Arbeiten Munchs den Naturalismus auch verkennt. Doch die „Zeitungskritik“ in Berlin war 1892 von einer Vielfalt geprägt, die eine Debatte über Munch überhaupt möglich machte. So kommt der Kritiker des Deutschen Reichs-Anzeigers mit einer gewisser Verzögerung am 30. Dezember 1892 zum Schluss:
„Solche Kunst kann unmöglich das durch gefällige Linien und sanfte Vermittlung der Farben verwöhnte Auge beim ersten Anblick gewinnen, aber bei längerem Betrachten überzeugt sie umsomehr von ihrer Wahrhaftigkeit.“[14] 

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Die Debatte um die Munch-Ausstellung geht weit über den Maler hinaus, weil sie als eine Debatte um das Bild, und was es sein soll, geführt wird. Sie reißt bereits die Frage des Bilderatlasses als Wissensformat, wie er von Aby Warburg entwickelt wird, an.[15] Das Bild wird als Wissensträger formuliert. Adolf Rosenbergs Kritik vom 9. November 1892 im Berliner Tageblatt, gegründet von Rudolf Mosse, in der Rubrik Theater Kunst Wissenschaft bricht die Debatte an den Bildern los. Was ist ein Bild? An den Begriff Bild sind um 1892 solche wie Gemälde, Bildnisse, Abbildung, Schönheit, Sittlichkeit, Genre etc. geknüpft. Doch Munch verweigert das Bild im Modus einer Abbildung. Im Hintergrund spielt nicht zuletzt eine kaum zu Ende gehende Debatte um die Fotografie und die neuartigen Vervielfältigungsmöglichkeiten der Zeitungen und Druckmaschinen eine Rolle. Wo soll sich da ein Maler verorten? Die Zeitungen sind noch bildlos. Aber erste illustrierte Zeitschriften werden im Zeitungsviertel verlegt und gedruckt. Doch Rosenberg beharrt auf das Bild:
„In den Munch’schen Bildern handelt es sich nämlich um Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind. Was der Norweger in Bezug auf Formlosigkeit, Brutalität der Malerei, Rohheit und Gemeinheit der Empfindung geleistet hat, stellt alle Sünden der französischen und schottischen Impressionisten wie der Münchner Naturalisten tief in den Schatten. Es sind Bildnisse …, die in der liederlichsten Art hingeschmiert sind, so dass es bisweilen schwer [fällt], eine menschliche Form daraus zu erkennen oder überhaupt nur die Natur eines dargestellten Gegenstandes zu bestimmen. Selbst die beredtesten Verteidiger des naturalistischen Kunstprinzips sind vor solchen rohen Anstreicharbeiten in die bitterste Verlegenheit geraten.“[16]

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Bemerkenswerterweise mischt sich in Rosenbergs Rede vom Bild das Gefühl, wenn er u.a. von „Gemeinheit der Empfindungen“ spricht. Das, was Rosenberg von einem Bild erwartet, sind angenehme Gefühle im Rahmen der moralischen Regeln. Die Verletzung des Gefühls berührt das narzisstische Bild vom Menschen, wenn Rosenberg keine „menschliche Form“ erkennen kann und will. Er kritisiert nicht nur die „Munch’schen Bilder()“ vielmehr verwirft er sie mit einem Wissen vom Menschen und der Natur, das von Munch zutiefst verunsichert wird. Gleichzeitig wird in Berlin durch die rasante Industrialisierung und die einhergehenden sozialen Verwerfungen das Bild vom Menschen erschüttert. Die Industrialisierung bringt zugleich eine Wiederholung und Serialisierung von Formen und Bildern mit sich, die bei Munch vom Kritiker der Berliner Börsen-Zeitung am 10. November 1892 in Anschlag gebracht wird.
„… Munch ist gar vielseitig, gleich gewandt im Genre, wie in der Landschaft; Wiese, Wald und Strand, der hohe Norden und der tiefe Süden, Boudoir, Straßen- und Ballszenen – ihm ist Alles toute la même chose, d. h. er stippt den Pinsel oder vielmehr die Fingerspitze in die Farbe und schmiert darauf los. In einer halben Stunde hat er voraussichtlich so ein Ding fertig, und nach der Menge der Meisterwerke zu urtheilen, ist er im Stande, mit beiden Händen gleichzeitig zu malen.“[17]

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Die Kritik in der Berliner Neueste Nachrichten am 31. November 1892 gibt einen Wink auf das Problem der Titel und der Materialität. Denn statt eines Bildes erkennen die Kritiker vor allem „Farbe“, „Anstreicharbeiten“, einen „Oelkleks“ und „Weißtüpfelung“ etc. Statt der Hand eines Malers mit dem Pinsel wird die „Fingerspitze“ zum Malen vorgestellt. Statt einen Titel des Bildes zu nennen, wird es zur „Nr. 53“. Mit dem Wissen der Kunst wird all das spöttisch benannt, was heutzutage wie die „Verwischung jeglicher Konturen“ zur Beschreibung einer Malpraxis dient. 
„… es mag im Prinzip des Munchschen Verismus liegen, durch Verwischung jeglicher Konturen (wie auf dem seltsamen Bild Nr. 53, das, von der Nähe besehen ein einziger Oelkleks, eine Straße in Paris mit dem Weltstadttreiben der Passanten und Fuhrwerke vorstellen soll) das kaleidoskopische Gewühl einer Menschenmasse oder durch Weißtüpfelung den eigenthümlichen Luftschimmer eines Frühlingstages malerisch wiederzugeben: jedem harmlosen Beschauer, der deshalb kein Pendant der Säuberlichkeit zu sein braucht, erscheinen derartige Dinge als kindische Spielereien oder, falls er ein bisschen kritischer Natur ist, als starke Zumuthungen.“[18]

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Mit den Kritiken wird nicht zuletzt eine Krise des Subjekts um 1890 formuliert. Weder lässt sich an den Bildern ein ausgebildetes Malersubjekt erkennen, noch wird eine „Erregung“ sichtbar, die ein spielendes Subjekt auszeichnen müsste. Vielmehr wird „Eduard Munch“ als „Kleiner Moritz“ mit einem Kind verglichen. Die Kritiken formulieren nicht zuletzt Ängste der Auflösung, wenn „Köpfe ganz in Eins verfließen“, wie in der Berliner Zeitung vom 9. November. Sowohl die Subjekte am Spieltisch wie das Subjekt der Betrachtung lösen sich zu einem „Sonst aber nichts!“ auf. Der klangvolle Titel „Spielende in Monte Carlo“, woher er auch immer kommen mag, konfrontiert den Betrachter mit Deformierungen – und einem Nichts.
„Für die Art seiner Kunstübung ist besonders charakteristisch das Bild ,Spielende in Monte Carlo‘. Da Eduard Munch die Köpfe selten durcharbeitet, kann man seinen Spielern auch keine Erregung ansehen: sie können ebenso gut um Pfeffernüsse spielen und doch nicht anders aussehen. Rechts sitzt ein Mann mit brünetten, breiten Gesichtszügen, der direkt aus dem Schreibheft des Kleinen Moritz herstammt. Links aber stehen zwei Männer, deren Köpfe ganz in Eins verfließen – von dem einen Mann sieht man eine Augenbraue, von dem andern eine Augenwimper. Sonst aber nichts!“[19]

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In der Ausstellung in der Berlinischen Galerie lassen sich beispielsweise an Der Tod und der Frühling (1893) oder auch am Portrait von Walther Rathenau (1907) Arbeitsweisen mit Farbe erkennen, für die Munch in den Kritiken als (Nicht-)Maler gescholten wurde. Im unteren schwarzen Feld von Der Tod und der Frühling wird der Farbauftrag mit einem Gegenstand abgekratzt. Sollte etwas unkenntlich gemacht werden? Wird eine Aggression gegen das Bild ausgeübt? Verzweiflung der Trauer? – Wir wissen es nicht! – Auf dem Portrait von Walther Rathenau werden ebenfalls Wischspuren mehr als Malweisen erkennbar. – Ist das noch oder schon Malerei? – Nach den Kriterien der Kritiker 15 Jahre zuvor bleibt es „unfertig“. Das Unfertige wurde gleichsam zur Signatur der Moderne wie es die Mosse-Lectures im Wintersemester 2017/2018 mit der Vorlesungsreihe non finito, unfinished, unfertig thematisiert haben.[20] Ob sich auf der Wand neben der Figur in lässiger Körperhaltung Rathenaus Schatten oder ein Gespenst oder eine Frauengestalt abzeichnet, lässt sich nicht entscheiden. Munch zeichnet ebenso Harry Graf Kessler. In Berlin entdeckt Munch die Druckgrafik als Medium, ebenso die Fotografie und er entwickelt das serielle Format „Lebensfries“ als ein visuelles Wissen vom Leben.

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Die Bilderserie „Lebensfries“ soll vom Leben in Sequenzen als eine Art Erfahrungswissen erzählen. Janina Nentwig nennt ihren Essay Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902.[21] Mit dem „Lebensfries“ entwickelt der Maler ein Format, das von ihm variiert und wiederholt wird. Der sogenannte Reinhardt-Fries, der für einen Veranstaltungsraum im Deutschen Theater von Max Reinhardt in Auftrag gegeben wurde, bildet im Ausstellungsrundgang einen Abschluss. „Mondschein auf dem Meer“, „Begierde“, „Sommernacht“, „Frauen bei der Obsternte“, „Sonnenblume“, „Zwei junge Frauen in Rot und Weiß“, „Kuss am Strand“, „Bäume am Meer“, „Zwei Menschen. Die Einsame.“, „Tanz am Strand“, „Junge Frauen am Strand“ und „Melancholie“ bilden in unterschiedlichen Begriffen aus Natur und Gefühlsleben („Begierde“ und „Melancholie“) eine Abfolge von Szenen aus dem Leben. Der Schwellenraum des Strandes kommt visuell mehr oder weniger deutlich in jedem Bild als Schauplatz zum Einsatz. Am Strand, auf der Schwelle zum Meer, vielleicht auch zwischen Leben und Tod, zeichnen sich Bäume abund eine Figur sitzt vornüber gebeugt auf einem Stein, während die Sonne als roter Ball untergeht.

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Torsten Flüh

Edvard Munch
Zauber des Nordens

Berlinische Galerie
Alte Jacobstraße 124-128
10969 Berlin
bis 22. Januar 2024 nur mit Zeitfenster

Hg. Stefanie Heckmann, Thomas Köhler, Janina Nentwig
Edvard Munch
Zauber des Nordens
Beiträge von P. Behrmann, C. Feilchenfeldt, S. Heckmann, T. Köhler, S. Meister, J. Nentwig, A. Schalhorn, D. Scholz, L. Toft-Eriksen
304 Seiten, 246 Abbildungen in Farbe
21,7 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4217-4
49,90 €


[1] Zur Holzkirche auf dem Stahnsdorfer Friedhof siehe: Torsten Flüh: Wenn Nosferatu kommt. Zur Kulturnacht auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf mit der norwegischen Holzkirche. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. August 2014.
Stefanie Heckmann: Zauber des Nordens. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard Munch – Zauber des Nordens. Berlin: Berlinische Galerie/Hirmer, 2023, S. 19.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda S. 17.

[4] Ebenda S. 21.

[5] Seit 1880 gibt es lässt sich in der Gebrauchshäufigkeit der „Ferkelei“ ein leichter Anstieg ausmachen. DWDS: Wortverlaufskurve seit 1600: Ferkelei. Siehe für die Gebrauchsweise auch Wiktionary: Ferkelei.

[6] Stefanie Heckmann: Zauber … [wie Anm. 1] S. 21.

[7] Zitiert nach ebenda.

[8] Ebenda S. 22.

[9] Ebenda S. 23.

[10] Biografie S. 268.

[11] Sabine Meister: Affäre, Skandal, Fiasko? Munchs Debüt in Berlin – ein Blick hinter die Kulissen. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 166

[12] Monika Krisch: Die Munch-Affäre – Rehabilitierung der Zeitungskritik. Mahlow bei Berlin: TENEA, 1997, S. 57.

[13] Zu Rudolf Mosse und der Familie Mosse siehe: Torsten Flüh: George L. Mosses Erinnerung an den Klippen Europas und 50 Jahre Stonewall. Zur Konferenz Mosse’s Europe im Deutschen Historischen Museum und in der W. Michael Blumenthal Akademie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2019.

[14] Deutscher Reichs-Anzeiger, 30. 12. 1892 zitiert nach ebenda S. 73.

[15] Zum Bild und Bilderatlas siehe: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[16] Adolf Rosenberg zitiert nach Monika Krisch S. 60.

[17] Berliner Börsen-Zeitung 10.11.1892 zitiert nach Krisch S. 60.

[18] (Munch schuf „Rue Lafayette“ mit einer Reihe anderer Bilder, bei denen er sich impressionistischer Stilmittel bediente, während eines Frankreichaufenthaltes im Frühjahr 1891.) Berliner Neueste Nachrichten, 31. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 61.

[19] Berliner Zeitung, 9. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 66.

[20] Zum Unfertigen siehe die Besprechungen zum Semesterthema:
Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. November 2017. (PDF unter Publikationen)
ders.:  Unendliche Erhebungen.  Georges Didi-Huberman spricht über Endless Uprisings. The Image as a Medium of Desire in seiner Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2017. (PDF unter Publikationen)

[21] Janina Nentwig: Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 174-190.

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