Krieg – Fibel – Bild
In der Hand kaum auszuhalten
Zum Konzert Die Kriegsfibel in der Friedrich-Ebert-Stiftung anlässlich des Jahrestages von Putins Angriffskrieg auf die Republik Ukraine
In der Friedrich-Ebert-Stiftung fand am 2. März in der Hiroshimastraße 17 in Berlin das musiktheatralische Konzert Die Kriegsfibel mit Marie-Luise Kunst, Felix Meyer, Johannes Feige und Jörg Mischke statt. Die FES als sogenannte parteinahe Stiftung der SPD engagierte sich damit im Programmbereich Kultur & Politik mit ihrer Referentin Franziska Richter für das Gedenken an den Jahrestag des russischen Angriffskrieges auf die Republik Ukraine. Anknüpfend an Bertolt Brechts Kriegsfibel mit Zeitungsausschnitten und 69 vierzeiligen Versen zu diesen inszenierten die Musiker*innen eine bild- und textreiche Revision der über 365 vergangenen Tage des Krieges in den Medien.
Das Ausschneiden von Fotos und Kriegsberichten aus der Zeitung, das Bertolt Brecht im Exil seit 1939 unregelmäßig praktizierte, führte 1955 zur Herausgabe des Buches Kriegsfibel durch Ruth Berlau im Eulenspiegel Verlag.[1] Brechts Dramaturg und Mitarbeiter am Berliner Ensemble Peter Palitzsch hatte das Buch mit den „Fotoepigrammen“ gestaltet. Beim Eintreten in den Konferenzsaal der FES liest und schneidet Felix Meyer an einem alten Küchentisch Kriegsartikel aus Zeitungen unter einer Kamera aus. Im Bühnenraum sind 4 Leuchtgloben mit hellen Flecken, die Krisen- oder Kriegsherde markieren könnten, verteilt. Über der Bühne erscheinen im Wechsel das Ausschneiden und News der letzten Monate wie ein Bild Gerhard Schröders.
Das Medium Zeitung führt 2022/2023 in der Medienflut zum Krieg von Social Media und Fernsehen, Dokus und News fast schon eine marginale Rolle. Felix Meyer hat den Kopf am Küchentisch über der Zeitung auf den Arm gestützt. Die Geste des Denkers, bevor das Konzert mit seiner Bilderwucht beginnt. Die meisten Menschen und vor allem die jüngeren halten heute allerdings das Smartphone in der rechten Hand und wischen. Gelesen wird im Tempo des Wischens durch die Alerts, latest & breaking News aller Kanäle. Mehr als jemals zuvor hat sich der Angriffskrieg Wladimir Wladimirowitsch Putins auf die Republik Ukraine in einen globalen Alert-Tsunami der Bilder und der Narrative verwandelt.[2]
Walter Benjamin konnte im März 1934 im Umfeld zu seinem Buch EINBAHNSTRASSE noch in seinem Text Die Zeitung von einer „Literarisierung der Lebensverhältnisse“ schreiben.[3] Rainald Goetz habe am 22. Februar 2023 im Berliner Wissenschaftskolleg eine flammende Rede auf die „Zeitung“ gehalten, wie es im Untertitel des Abdrucks in der ZEIT heißt. Da hat der Titelredakteur lexikalisch etwas geschummelt. Denn die gedruckte Rede geht mehr über eine „Zeitschrift“ im Format „Heft“. Hefte sind auch handlich. Nämlich die „Zeitschrift für Ideengeschichte“. Auf die „reale() Zeitung“, soweit ist es gekommen, geht Goetz nur anlässlich der „Ankündigung von Springerchef Döpfner, daß es bei Springer bald keine gedruckten Zeitungen mehr gibt,“ ein.[4] Die Zeitung wird exemplarisch nur mit der „Tageszeitung WELT“ im Druck besprochen:
„Die Tageszeitung WELT druckt schon seit einiger Zeit ihre Artikel, die oft viel interessanter sind, als es das snobistische Vorurteil gegen die Welt wissen will, vor allem im Feuilleton so irr über die Doppelseite hin gelayoutet, daß man die Zeitung mehrfach mühsam umfalten muß, um einen Artikel ganz lesen zu können, so als sollte auch noch den letzten Anhängern der realen Zeitung, die die sogenannten Inhalte immer noch auf Papier gedruckt aufnehmen wollen, der Spaß an der Sache endgültig verleidet werden.“[5]
Das goetzsche Umfalten ist jenseits einer an Literaturen interessierten Szene dem Wischen gewichen. Während das von Goetz gefeierte Format „einer großen Zeitungsseite von etwa 40 auf 57 Zentimeter, die er eine extrem angenehme Standardgröße” nennt, vor allem unhandlich ist z.B. in der 2. Klasse des ICE, wird die Welt auf dem denglischen Handy handlich. Auf den iPhones, Handys, Mobiles oder Smartphones werden die Alerts von oben nach unten, links nach rechts, unten nach oben und rechts nach links mit dem Zeigefinger einfach ins Off gewischt. Wir müssen angesichts des Krieges in der Ukraine mehr über das Wischen sprechen und singen wie in der FES. Das kritisierte Umfaltenmüssen war nicht nur schlecht oder gut. Es erforderte von den Leser*innen eine zeitungsspezifische Handhabung, Praxis, die das Umblättern für das Buch oder die Zeitschrift erweiterte. Literaturen stellen gewisse lebens- wie lesenspraktische Anforderungen. Doch diese kommen im Alert-Tsunami gar nicht erst zum Zuge. Das Konzert Die Kriegsfibel reagierte auf diese praktische Verschiebung.
Die Fibel spielt weiterhin an auf das Format Buch, obwohl es nach dem „Zeitungskorpus“ des DWDS seit den 1980er Jahren stark aus dem Gebrauch gekommen ist.[6] Sie wird als „bebildertes Lesebuch“ genutzt, wobei sich bei Brechts Kriegsfibel das Verhältnis von Bild und Text mit den Zeitungsausschnitten bereits umdreht. Sie wird zu einem bedichteten Fotobuch. Die Verse werden nachträglich zu den Fotos formuliert. Diese Nachträglichkeit der Verse kommt beispielsweise bei dem anfangs eingeblendeten Zeitungsfoto mit der Bildunterschrift „The face of the German Army in Russia now appears frozen, dazed, ehausted of will or pride. These were once crack troops, the terror of the world of 1940 and 1941 but the farther they got into Russia, the less they liked cold and ample room to die in. However, as the Russians advance westward, the warmer it feels and the more delightful the prospect.”[7] Marie-Luise Kunst hält es auf der Bühne am Mikro als Cover im Arm. Brecht schnitt die Bildunterschrift mit aus. Doch sein Vers schlägt einen anderen, mitfühlenden Ton an, wenn es heißt.
„Seht unsre Söhne, taub und blutbefleckt
Vom eingefrornen Tank hier losgeschnallt:
Ach selbst der Wolf braucht, der die Zähne bleckt
Ein Schlupfloch! Wärmt sie, es ist ihnen kalt.“[8]
Im Unterschied zur wenigstens polemischen Bildunterschrift in der englischsprachigen Zeitung formuliert Brecht mit der Zeigegeste auf das Foto, „Seht unsre Söhne“, Empathie für die deutschen Soldaten, indem er sie als „Söhne“ benennt. Für die englischsprachige Zeitung waren die acht Gesichter auf dem Foto „The face of the German Army“ und „once crack troops“. Die Empathie gegenüber den gefangengenommenen deutschen Soldaten – Stalingrad wird nicht genannt – mit dem Aufruf, sie zu wärmen, steht im Widerspruch zur Rhetorik des Krieges und Sieges über „the German Army“. Dass unter den Fotografierten ebenso Beteiligte an Kriegsverbrechen sein könnten, die die „Wehrmacht“ und entsandte Polizeieinheiten beim Vormarsch in russischen Dörfern und Städten begangen hatten, bleibt ebenfalls unerwähnt. Brechts Vers ist empathisch und mehrdeutig. Denn „der Wolf“ kann ab 1941 ebenso als Adolf Hitler im „Führerhauptquartier Wolfsschanze“ gelesen werden. Dann hätte Hitler die Söhne geraubt.
Der Raub und Verrat der Söhne als Soldaten in einem Angriffskrieg schimmert als Narrativ in Brechts „Fotoepigramm“ durch. Narrative sind hartnäckig, resistent und übertragbar. Das gilt insbesondere für vermeintlich und tatsächlich hierarchische Befehlsketten, die die Armee strukturieren. Die Kriegsführung des Kriegsverbrechers Putin hat allerdings in den vergangenen Monaten auch immer wieder gezeigt, dass die Hierarchie eine Fiktion und brüchig ist. In der Praxis werden Kriegsverbrechen wie in Butscha begangen, für die niemand und am allerwenigsten der Präsident im Kreml verantwortlich sein will. Dennoch gehören sie zur strukturellen Praxis des Angriffskrieges. Der ukrainische Präsident Selenskyj und sein Umfeld haben frühzeitig erkannt, dass (russische) „Söhne“ zu Kriegsverbrechern werden können. Das dokumentarische Theaterstück Sich waffnend gegen eine See von Plagen (ОЗБРОЮЮЧИСЬ ПРОТИ МОРЯ ЛИХ) in der Schaubühne hat dies mit Smartphone-Telefonaten zwischen russischen Soldaten an der Front und ihren Frauen bzw. Freundinnen eindrücklich vorgeführt.[9] Befehlsketten werden mit aktuellen Medien auch umgangen.
Im Musiktheaterstück Die Kriegsfibel forschen die Musiker*innen den medialen Strukturen des Krieges nach. Bereits Hanns Eisler hatte begonnen, die Kriegsfibel mit den Versen als Lieder zu komponieren. Sie entwickelt als Fotobuch eine eigene Dramaturgie, wenn sie mit einem Foto von Adolf Hitler am Rednerpult gestikulierend – rechter Arm ausgestreckt und Blick nach oben gewendet, als solle aus dem Himmel eine Botschaft kommen –, und einem Foto aus dem Krieg in Spanien 1928 einsetzt. Sie endet mit einer Frau, die mit Säcken und Taschen als Flüchtende in den Trümmern einer deutschen Stadt ausruht und in die Kamera blickt. Ruth Berlau setzte der Kriegsfibel ein kurzes Vorwort vorweg:
„… Nicht der entrinnt der Vergangenheit, der sie vergißt. Dieses Buch will die Kunst lehren, Bilder zu lesen. Denn es ist dem Nichtgeschulten ebenso schwer, ein Bild zu lesen wie irgendwelche Hieroglyphen. Die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge, die der Kapitalismus sorgsam und brutal aufrechterhält, macht die Tausende von Fotos in den Illustrierten zu wahren Hieroglyphentafeln, unentzifferbar dem nichtsahnenden Leser.“[10]
Berlaus Programm, Bilder lesen zu lehren, wird nicht anders als in der Bild-und-Textpraxis der Kriegsfibel vermittelt. Wie erfolgreich dieses breit angelegte Medienprogramm war oder wurde, wissen wir nicht. In Berlaus Formulierung wird der Begriff Krieg nicht einmal gebraucht. Stattdessen wird eine mediendidaktisches Leseprogramm formuliert, das sich vor allem gegen den „Kapitalismus“ wendet. Die Bildunterschrift zu den frierenden Soldaten und Brechts Vers geben auch einen Wink auf den „Kapitalismus“ als Erzähl- und Lesepraxis. In der Bildunterschrift wird eine erzählende Kausalität zwischen den „crack troops“ und dem „Face of the German Army“ hergestellt. Kapitalistisch wäre hier nicht zuletzt die Siegeslogik der Bildunterschrift. Die Frage, wie „Fotos in den Illustrierten“ zu lesen sind, bleibt weiterhin ungeklärt, wenn nicht Brechts Strategie berücksichtigt würde. Mehr noch die kapitalistische Erzähl- und Lesepraxis hat sich mit den Bildmedien, den Pics des Kriegs in der Ukraine zugespitzt. Mit den Pics wird sowohl Wissen verbreitet als auch zerstreut. Wir tun mit einem Blick auf das Smartphone in der Hand, als wüssten wir, nun alles über den Krieg.
Die Kriegsfibel wurde schnell als Aufruf zu einer Friedensbewegung gelesen. „Die Kriegsfibel ist Bertolt Brechts letztes lyrisches Werk und Kultbuch der frühen Friedensbewegung“, schrieb Daniel Seiffert in einer Hausarbeit 2000.[11] Wie konnte die Kriegsfibel zum „Kultbuch der frühen Friedensbewegung“ werden? Ein Aufruf zum Frieden oder zu Friedensverhandlungen wird nirgends formuliert. Ruth Berlau schreibt nicht von Frieden, sondern von „Unwissenheit“ in der Medienpraxis. Vielleicht gibt die bibliothekarische Einordnung des Buches einen Wink. In der Zentralbibliothek der Humboldt Universität zu Berlin im Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum befinden sich zwei Exemplare im 5. Stock mit der Signatur „Gesch.“ wie Geschichte neben Büchern zur Geschichte Mexikos etc. Die Originalausgabe von 1955 und die Wiederauflage von 1968 anlässlich des 70. Geburtstages von Bertolt Brecht. Der medienpraktische Ansatz des Buches wurde nicht zuletzt im akademischen Apparat mit Geschichte überschrieben. Krieg sollte der Geschichte angehören, während sich die Aufrüstung nicht stoppen ließ und der Kalte Krieg tobte.
Die auch verfehlte Rezeption der brechtschen Kriegsfibel durch die Friedensbewegung und die Geisteswissenschaften erinnert nicht zuletzt mit dem dünnformulierten Manifest für den Frieden[12] – „Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt!“ – an „die große Unwissenheit über gesellschaftliche Zusammenhänge“. Eine Analyse der Redeweisen und Bilderfluten wird im „Manifest“ von lateinisch manifestus wie „handgreiflich“ gar nicht erst angesprochen, weil sie zutiefst das eigene Handlungsbedürfnis bestimmen. Allein Putins Rhetorik der Drohung[13] – „Geraten wir dann unaufhaltsam auf eine Rutschbahn Richtung Weltkrieg und Atomkrieg?“ – wird von Wagenknecht und Schwarzer kassandrahaft fragend übernommen, weil sie miserable Rhetoriker*innen sind. Friedensbestrebungen müssen nicht ängstlich bittend formuliert werden. Da macht vielmehr der sozialdemokratische, einst als Scholzomat diskreditierte Bundeskanzler einiges richtig. Das öffentliche Rede- und Geltungsbedürfnis von Olaf Scholz ist begrenzt, was ein Vorteil ist, wenn alle meinen, nach den erstbesten Bildern und Narrativen greifen zu müssen.
Der Begriff des Narrativs hat in den Talkshows eine enorme Karriere gemacht. Auch das ist ein Effekt des in einer Rede legitimierten Angriffskrieges. Allerdings wird der Begriff besonders häufig so gebraucht, als ob nur Putin in einem falschen, lügenhaften Narrativ rede und denke. Bertolt Brecht hat in seiner Kriegsfibel ein feines Gespür für visuelle und textliche Narrative, wie beispielsweise die „Söhne“ zu bedenken geben. Ein anderes verbreitetes Narrativ kommt schon in der Kriegsfibel mit „SEXY CARROT“ zum Zuge, das Wladimir Putin mit Stewardessen am Tisch gleich zu Anfang des Krieges in Szene gesetzt hat.[14] Ein John Bretherick aus Philadelphia schickte das Foto einer Karotte aus seinem Garten an die Redaktion einer Zeitung. Die Natur habe „a pin-up vegetable“ produziert. Eine zweibeinige Karotte, die an ein reizvolles Revuegirl erinnere. Sex und Krieg gehören als patriarchales Narrativ zusammen. Das hatte selbst Brecht verstanden, der zwar nicht auf Revuegirls, sondern eher auf intelligente Frauen wie Ruth Berlau stand.
„Damit ihr auch bekommt, was euch gefällt
Sei euch dies Rübenbildnis angeboten.
Das halt‘ euch überm Meer im Dschungelzelt!
Ein solches Bild weckt, hör ich, einen Toten!“[15]
Der russische Angriffskrieg mit knatternden und bald treibstofflosen Panzern ist zu einem der Digitalität in Abwehrschildern, Drohnen, Fotos, Posts, Likes, Emoticons und Hashtags geworden. 2022/23 passt der Krieg in die „Hosentasche“, wie es im Programm zum Konzert im Konferenzsaal heißt. Die Digitalität materialisiert sich im multifunktionalen Smartphone, das wir einfach meistens links in der Hand halten und rechts den Coffee-to-go im nachhaltigen Mehrwegbecher, „mit nur wenigen Klicks ist man mitten im Geschehen, kann nahezu „live“ und in Farbe dabei sein. News im Sekundentakt, Kommentarschlachten auf Social Media, Doomscrolling, Fake News; aber auch: einende Hashtags globaler Solidarität und neue Dimensionen internationaler Spendenbereitschaft“.[16] – „emilio_morenati Kyiv, Ukraine“ postet auf Instagram das Foto aus einem Krankenhausflur direkt in die Hand auf das Smartphone. Im Gegenlicht zeichnet sich der Körper eines Mannes an Krücken ab, dessen linkes Bein oberhalb des Knies amputiert worden ist. „mental_health_esther und 12.531 weiteren Personen“ gefällt das. – Bitte? Wie kann das gefallen?!
Die Handlichkeit des Krieges durch die Digitalität ist für Millionen User Wirklichkeit geworden. Mit Posts und Shares, Likes und Hates nehme „ich“ möglichst lässig oder engagiert am Krieg und seinen Medienschlachten teil. Selbst die Schlachten auf den Kriegsfeldern werden digital durchdrungen. Heute erhielt ich von einer Freundin auf WhatsApp einen Twitter-Link: „Visegrád on Twitter „23-year-old Vitaly Sukhotsk has …“. Dazu meine Freundin: „Er sieht aus wie ein Bub“ Emoticon: Traurig. Das Foto: Vitaly vielleicht 18jährig in besticktem ukrainischen Trachtenhemd. Schräger, schwarzer Balken. 879 Kommentare, 1.157 Geteilt, 17.881 Herzen. „23-year-old Vitaly Sukhotsky has been killed in battle against Russian Army near Bakhmut. His task during the war was to make the mathematical calculations needed for his artillery unit. He was from a village in the Lviv region.” Dass die Ukraine und viele Kriegsberichterstatter*innen zwischenzeitlich die digitalen Medien z.B. mit dem hübschen Bubenbild von Vitaly nutzen, ist ihr gutes Recht, weil Vitali sicherlich nicht vor 13 Monaten von der Verteidigung seines Landes im Krieg geträumt hat. Aber die Fotos und Videos sind immer auch verfänglich.
Natürlich ist ein junger Mann von 23 Jahren viel zu jung, um in einem Angriffskrieg getötet zu werden. Sich der Drohungen aus Moskau zu unterwerfen, wie durch Friedensaktivist*innen angedacht, war natürlich keine Alternative. Aber das emotionale Potential des Fotos vermutlich aus einem heimischen Fotostudio in einem Hemd, das nicht seines gewesen sein muss, hat schon seine eigene Qualität. Das wäre heute wie damals ein Fall für ein Fotoepigramm von Bertold Brecht. In der Musiktheateraufführung wurde vielfältiges Bildmaterial projiziert und besungen. Vierzeiler sind kurz. Man hätte gern die neuen als Text gedruckt oder digital vorliegen. Vierzeiler verdichten. Sie sind aber auch schnell vorbei. Gehört hat man die Kurzlieder zum Wischen und zum Foto von den jungen Leuten, die im Frühjahr 2022 Molotowcocktails, kurz Mollis gegen russische Panzer basteln und damit nicht erfolglos geblieben sind. Was fast wie ein Spiel aussieht, gehört zum Widerstand gegen ein Regime des Terrors. Ironischerweise wurden die einfachen Brandflaschen nach Stalins „Außenminister“ Wjatscheslaw Molotow benannt.
Es gibt Narrative der Macht wie dem des Patriarchats und solche die weniger mächtig und subversiv sind. Bertolt Brecht und die Künstler*innen der FES können die der Macht in Vierzeilern aufbrechen. Aber es ist auch eine Frage des gedruckten Wortes, das in der Kriegsfibel die subversive Mehrdeutigkeit aufblitzen lässt. Aus der Kriegsfibel lässt sich viel zur Inszenierung von Bildern lernen. Brecht war ein Spezialist darin. Schließlich hatte er 1941 das Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Aturo Ui, das in zeitlicher Nähe zur Kriegsfibel erst postum 1958 uraufgeführt wurde, im Exil geschrieben. Doch schon das „Lustspiel“ Mann ist Mann mit dem narrativen Untertitel „Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig“ von 1926 ließe sich als ein Antikriegsstück lesen. In Militärbaracken wurde bislang jeder „Bub“ in eine Kampfmaschine oder/und Kanonenfutter verwandelt.
Torsten Flüh
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Veranstaltungen
[1] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel. Berlin: Eulenspiegel, 1955, (letzte Seite, unnummeriert)
[2] Siehe: Torsten Flüh: Putins Bücherverbrennung zwischen Propaganda und Postmoderne. Zu Wladimir Putins Geschichtsrecycling und Vladimir Sorokins Texte Die rote Pyramide, Manaraga und Das weiße Quadrat. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. April 2022.
[3] Siehe: Torsten Flüh: Zeitung – Walter Benjamin. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen, 2017, S. 155-168. Und als Vorstufe: Torsten Flüh: Zeitung und Blog als „Literarisierung der Lebensverhältnisse“. Zu Walter Benjamins Buch EINBAHNSTRASSE und dem Nachtrag Die Zeitung. In: NIGHT OUT @ BERLIN Januar 7, 2015 19:22.
[4] Rainald Goetz: Soziale Energie. Er ist wieder da: RAINALD GOETZ hielt im Wissenschaftskolleg in Berlin eine Rede. Es war eine Feier der Zeitung und des gedruckten Wortes und die lang erwartete Rückkehr des Schriftstellers in der Öffentlichkeit. In: DIE ZEIT N° 10, 2. März 2023, S. 48. (Print)
[5] Ebenda.
[6] Siehe: Wortverlaufskurve für Fibel im DWDS.
[7] Fett im Original. Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 62. (unnummeriert)
[8] Ebenda.
[9] Siehe Torsten Flüh: Kriegswinter in Europa. Zu Sich waffnend gegen eine See von Plagen auf Ukrainisch und Deutsch im Globe der Schaubühne. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Dezember 2022.
[10] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. ohne Seitenzahl.
[11] Daniel Seiffert: „Bert Brechts Kriegsfibel“ oder „Wie und warum 69 Bilder das Sprechen lernten“. München: GRIN Publishin, 2000. (GRIN)
[12] Sarah Wagenknecht, Alice Schwarzer: Manifest für den Frieden. (ohne Datum, ohne Ort)
[13] Zu Putins Rhetorik der Drohung siehe: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.
[14] Ruth Berlau (Hg.): Kriegsfibel… [wie Anm. 1] S. 42.
[15] Ebenda.
[16] Zitiert nach: Friedrich-Ebert-Stiftung: Vertonte Fotoepigramme zum Krieg – Eine performative Annährung aus Musik, Bildern und Social-Media-Kommentaren. Berlin 2023.