Zukunft – Virtuose – Erinnern
Komponiertes Erinnern
Zum gefeierten Konzert des Orchestre de Paris unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen beim Musikfest Berlin 2025
Das Konzert des Orchestre de Paris mit Esa-Pekka Salonen thematisierte das Erinnern auf mehrfache Weise in drei unterschiedlichen Kompositionen. Der aktive Vorgang des Erinnerns hat für Luciano Berio in seinem Stück Requies (1983/84) für Kammerorchester ebenso eine starke Funktion wie in seinen späteren Vorlesungen Remembering the Futur. Esa-Pekka Salonen erinnert als Komponist im als Deutsche Erstaufführung gespielten Konzert für Horn und Orchester (2025), das er für den Hornisten der Berliner Philharmoniker Stefan Dohr komponiert hat, an das Genre der Konzerte für Instrumentalsolisten. Schließlich spielt das Erinnern an den eigenen Kompositionsweg und einen Schwarm von Schwänen in Jean Sibelius‘ Sinfonie Nr. 5 in Es-Dur eine strukturierende Rolle.

Erinnern als Prozess funktioniert anders als eine konkrete, plötzliche Erinnerung. Luciano Berio hat wiederholt das Prozesshafte des Erinnerns und Komponierens formuliert. Mit Requies erinnert Berio an das Requiem vom lateinischen Psalmvers „Requiem aeternam dona eis, Domine“ (Ewige Ruhe schenke ihnen, oh Herr) als liturgisches Kompositionsformat und zugleich im Englischen mit Ruhe an den plötzlichen Tod seiner ersten Ehefrau Cathy Berberian am 7. März 1983. Sie lernten sich im Studium zuallererst über die Musik kennen. Es wird genauer zu bedenken sein, wie Luciano Berio mit einem leisen cis das Erinnern in der Musik entstehen lässt. Die wohl persönlichste Komposition Berios ist nicht nur eine Trauermusik. Vielmehr gibt sie einen Akkord für Berios Komponieren.

In seinen Charles Eliot Norton Lectures an der Harvard University spricht Berio im 2. Teil vom Vorgang des Übersetzens, der einen Wink auf sein Komponieren gibt. Die informellen Vorlesungen wurden 2006 postum von seiner dritten Ehefrau, der Musikologin Talia Pecker Berio nach den Hand- und Mitschriften Berios als Band der Norton Lectures in der Havard University Press veröffentlicht. Pecker Berio ordnet die Vorlesungen insofern ein, dass sie im Wintersemester nach Umberto Ecos Six Walks in the Fictional Woods im Frühjahrssemester gehalten wurden. Auch habe Luciano Berio den Titel zufälligerweise vom Italienischen un re ascolto, einem Musiktheatertext von Italo Calvino übersetzt.[1] Doch Berio formuliert die Musikgeschichte als eine Geschichte der Übersetzungen:
„Music is translated, apparently, only when a specific need arises and we are compelled to go from the actual musical experience to its verbal description, from the sound of a musical text to its performance. In reality this need is so pervasive and permanent that we are tempted to say that the history of music is indeed a history of translations.”[2]

Berio schließt seine zweite Vorlesung mit der Hoffnung, dass die musikalische Erfahrung als eine „language of languages“ etabliert werden könne, um „a constructive interchange between diverse cultures and a peaceful defence of those diversities“ zu schaffen.[3] In der Zwischenzeit werde man weiter übersetzen. Die Übersetzung der musikalischen Erfahrung (musical experience) von Seiten der Musiker*innen wie der Zuhörer*innen spielt nicht zuletzt für Requies eine Rolle. Denn es bleibt in der Schwebe, was Berio alles mit dem Stück übersetzt hat. Mit einem beginnenden cis und einem cis am Ende gibt es einen Anfang und Ende. Die Ruhe (requies) des „cis, das in Klangfarbe und Rhythmus sanft fluktuiert“[4], kann auch im Verhältnis zur Melodie gehört werden, die das Orchester im Weiteren spielt. Ist die Melodie das Leben von Cathy Berberian? Berio formuliert dazu, dass das Orchester eine Melodie spiele, „oder vielmehr: es beschreibt eine Melodie – aber nur wie ein Schatten ein Objekt und ein Echo einen Klang beschreiben kann“.[5]

Zu bedenken ist, dass Berio kein Requiem schreibt, aber daran erinnert. Anders formuliert: aus dem Erinnern an die Funktion und Form des Requiems entsteht Requies. Nicht unerwähnt soll dabei bleiben, dass Cathy Berberian am 7. März 1983 zum 100. Todestag von Karl Marx im Fernsehen auftreten sollte, um die Internationale „im Stil von Marylin Monroe“ zu singen. Der Atheismus Karl Marx‘ stand insofern für Requies Pate. Nur noch in der Beschreibung kann das Requiem wie ein Echo nachklingen. Die kompositorische Kombination wird dadurch ein wenig besser hörbar. In den langen Fermaten von Requies klingt vieles nach. Sie sollen allerdings nichts darstellen. Esa-Pekka Salonen dirigierte das Orchestre de Paris ohne Taktstock.[6] Er folgte Berio auf ebenso artifizielle wie bravouröse Weise.

Als Deutsche Erstaufführung dirigierte Esa-Pekka Salonen seine Komposition Konzert für Horn und Orchester mit Stefan Dohr als Solohornisten mit erweiterten Spielweisen. Erinnerungen als ein individualisiertes Wissen spielen auf vielfache Weise in die Komposition hinein. In einem längeren Text schreibt er über seine Komposition. Die Musikgeschichte der Konzerte für Horn und Orchester spielt für Salonen in seinem Text eine strukturierende Rolle, womit sich der Modus des Erinnerns beim Komponieren bereits deutlich von Luciano Berios Überlegungen zur Musik unterscheiden. Salonen folgt Berio nicht in seiner Kompositionspraxis – und das lässt sich hören. Dass er das Konzert für Stefan Dohr geschrieben hat, wird nicht nur mit dem Kompositionsauftrag durch Michael Haeflinger vom Lucerne Festival zu tun gehabt haben.[7] Vielmehr kannte er Dohr bereits aus Dirigaten mit den Berliner Philharmonikern. Er wird ihn somit auch „im Ohr“ gehabt haben.

Während das Erinnern bei Berio in der Schwebe bleibt, beschreibt Salonen seine Komposition aus Erinnerungen und Neuem detailliert. Zwei Dinge kommen dabei vermutlich zum Zuge. Salonen spielte das Horn selbst als erstes Instrument und wurde so früh mit die Hornkonzerten vertraut. Als Dirigent nahm er eine andere Position im Dirigieren von Hornkonzerten ein, wobei die solistischen Passagen der Konzerte vom Dirigenten aufgenommen werden, ohne dass er sie beherrschen könnte. Die Doppelbegabung von Komponist und Dirigent bei Esa-Pekka Salonen orientiert sich durchaus an einem erinnerten Repertoire, das in die „eigene harmonische Welt eingebettet“ wird:
„In einigen Fällen habe ich ein bekanntes Stück in meine eigene harmonische Welt eingebettet, zum Beispiel Mozarts 2. Hornkonzert in den 1. Satz und das eröffnende Solo aus Bruckners 4. Sinfonie in den 2. Satz. Meist sind diese Rückblenden genau das: flüchtige Momente, fast zu kurz, um sie bewusst zu erfassen.“[8]

Das Hornkonzert ist nicht zuletzt ein Genre des Virtuosentums, das um 1800 als eine strukturierende Hochleistung entsteht. Nicht der Orchestermusiker wird in die Aufmerksamkeit gerückt, vielmehr wird das Konzert komponiert, um die außergewöhnlichen, solistischen Fähigkeiten einer Hornist*in zur Geltung zu bringen. Salonen erinnert an den Hornisten Joseph Leitgeb, der mit Wolfgang Amadeus Mozart zusammen musizierte und einiges zum „Hornrepertoire“ beigetragen habe.[9] In seiner Komposition knüpft der dirigierende Komponist daran an. Salonen baut sein Konzert nach eigenen Angaben mit einem „Leitmotiv“ im 1. Satz bis in den 3. Satz auf. Anders als die echohafte Melodie bei Berio wird das strukturierend „Leitmotiv“ in erweiterter Weise angewendet. Salonen zitiert und praktiziert erinnernd den Begriff „Leitmotiv“ aus Richard Wagners Kompositionslehre, um es vom Solohornisten spielen und singen (!) zu lassen:
„Nach einem kurzen Abschnitt, in dem der Solist das „Leitmotiv“ gleichzeitig spielt und singt (Hervorhebung, T.F.) leitet eine Accelerando-Passage zu schnellerer Musik über, (…). Die Musik beruhigt sich allmählich und am Ende des Satzes erklingt erneut das Thema, diesmal von Piccoloflöte und Englischhorn gespielt.“

2020 wurde das Hornspiel für Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien in Verbindung mit Gesang, Atemkontrolle, Vibrato, Ortsresonanz und Geselligkeit als immaterielles Kulturerbe von der Unesco anerkannt. Während das Horn bzw. Pedalhorn zu den Blechblasinstrumenten gehört, ist das Englischhorn ein Holzblasinstrument. Das immaterielle Kulturerbe bezieht sich vor allem auf das Horn als Blechblasinstrument in eigenen Vereinen und Gruppen anstatt auf das Orchesterinstrument im Konzertsaal. Dennoch gibt das Hornspiel einen Wink auf dessen Herkunft als Konzert-, Orchester- und Soloinstrument. In der Begründung heißt es.
„The musical art of horn players, an instrumental technique linked to singing, breath control, vibrato, resonance of place and conviviality, brings together the techniques and skills used to play the horn. The pitch, accuracy and quality of the notes produced are influenced by the musician’s breath and the instrumental technique is based on the players’ body control. The timbre of the instrument is clear and piercing, especially in high notes, and the instrument’s sound range is based on natural resonance with rich harmonics.”[10]

Die Virtuosität wird von Salonen als ein Grenzereignis formuliert, wenn er schreibt, dass das Horn in der „virtuose(n) Coda (…) bis an die Grenzen des physikalisch Möglichen gebracht wird“.[11] Das physikalisch Mögliche wird nicht nur vom Pedalhorn als Musikinstrument bestimmt, vielmehr hat Stefan Dohr eine besondere Bandbreite von extrem kraftvollen bis exzeptionell zarten Spiel- bzw. Blasweisen entwickelt. Es gibt bereits mehrere Hornkonzerte, die ihm gewidmet sind. Beim Spiel des Konzertes muss er mehrfach die Ventilbögen abziehen, um sie von Spielwasser zu leeren. Die Steigerung des Tempos in der Musik gehört ebenfalls zur Virtuosität.[12] Für Esa-Pekka Salonen ist mit seinem Konzert für Stefan Dohr eine starke Erinnerung verknüpft.
„Als ich die letzten Minuten des Konzerts schrieb, wurde ich irgendwie direkt in meine Kindheit und Teenagerzeit zurückversetzt. Eine sehr starke Nostalgie, aber keine traurige, eher ein schöner Traum.“[13]

Das Virtuose, das sich z.B. bei Mozart und Leitgeb in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt, um im 19. Jahrhundert mit virtuosen Pianisten und Komponisten eine Blüte zu entfalten, lebt bei Salonen/Dohr fort. Es ist eine Taxonomie, in der das Leistungsprinzip der Maschinen gilt. Im Aufbau des modernen Horns heißt die zentrale Spielvorrichtung Maschine.[14] Es geht nicht zuletzt um eine Beherrschung der Maschine, was einen Wink auf das Maschinenzeitalter gibt. Das Versprechen des Virtuosen funktioniert im Konzertbetrieb weiterhin. Der Virtuose wird gefeiert. Und Salonen als Komponist wird für die Einfälle gelobt, die das Hornspiel erweitert haben. Gerade im Kontrast zu Luciano Berio, der die Kompositionen des 19. Jahrhunderts hinter sich lassen wollte, kann man sich mit Esa-Pekka Salonen fragen, wie viel 19. Jahrhundert in dem Konzert für Horn und Orchester wiederkehrt. Bei der Deutschen Erstaufführung in der Philharmonie wurden der dirigierende Komponist und der Hornist umjubelt.

In der 5. Sinfonie von Jean Sibelius wird ein Hornruf zu einem entscheidenden Thema. Wie will der Hornruf gehört werden? Ist es ein Ruf aus der Erinnerung? Aus der Einsamkeit des komponierenden Individuums? Eine Art Selbstanalyse und Naturbegeisterung strukturieren Sibelius‘ 5. Sinfonie, die durchaus umstritten war. Eine der durch Sibelius selbst formulierten Passagen seiner Sinfonie wird am 21. April 1915 von ihm niedergeschrieben. Sibelius kann den Moment des Naturerlebnisses ziemlich genau nach der Uhr bestimmen. Schaute er tatsächlich auf die Uhr? Eine Armbanduhr? Lässt sich ein Erlebnis nach der Natur bestimmen? Der Augenblick, in dem er einen Schwarm von 16 majestätischen Schwänen wahrnimmt, verkehrt sich in eine Erinnerung an sein früheres Außenseitertum.
„Heute um 10 vor 11, sah ich 16 Schwäne. Gott, wie schön! Sie kreisten lange über mir, verschwanden dann im Dunst der Sonne wie ein schimmerndes silbernes Band. Sie klingen wie Kraniche, ein tiefer Refrain. Naturmystik und Lebensschmerz! Das wird das Finale meiner 5. Sinfonie, legato in den Trompeten! Ausgerechnet mir musste das geschehen, der so lange ein Außenseiter gewesen ist. Aber heute war ich auf diese Weise an einem heiligen Ort.“[15]

Das Finale der 5. Sinfonie ist in seiner Zeitlichkeit gerade wegen der detaillierten Beschreibung nicht leicht zu verstehen. In welchem Verhältnis stehen die Erinnerung an das Ereignis und die Ankündigung einer zukünftigen Musik für das Finale? Der gemeinsame Flug der Schwäne wird von einem Klang begleitet, der vermeintlich an andere Vögel, nämlich Kraniche, erinnert. Das ist auch ein wenig seltsam. Mit der BirdNET-App „Vogelstimmen einfach erkennen“ hätte Sibelius die Kraniche nicht gebraucht[16], um es ein wenig scherzhaft zu formulieren. Nein, Schwäne klingen anders als Kraniche. Schwäne schreien mehr, würde ich sagen. Aber Schwäne kommen im Schwarm seltener vor als Kraniche. In deutschen Breiten bleiben die Schwäne in ihren Gewässern wie Park-Seen oder werden in Hamburg vom Schwanenvater von der Alster ins Winterquartier gebracht. Sie ziehen, anders als Kraniche nicht in großen Schwärmen in den Süden. Schwäne leben auch eher als Einzelfamilien. Die merkwürdige Überlagerung der Schwäne mit den Kranichen in Sibelius‘ Wahrnehmung, die zu Musik wird, hat wohl eher etwas mit dem Erleben des Komponisten als Außenseiter, der in einem Schwarm ziehen möchte, zu tun.

Schwärme und Außenseiter werden heute in Forschungen und Debatten zur Schwarmintelligenz verhandelt.[17] Das, was Jean Sibelius mit „Naturmystik und Lebensschmerz“ umschreibt, wird in seiner 5. Sinfonie durchkomponiert. Ob es die ziehenden Schwäne um 10 vor 11 wirklich gegeben hat oder es sich um eine Fiktion handelt, wissen wir nicht. Indessen ringt Sibelius darum, ein Verhältnis von Natur, Individuum und Gemeinschaft nicht nur in der Musik zu komponieren, sondern auch sprachlich zu erfassen. Das ist offenbar nicht einfach. Nur die Schwäne zu sehen oder hören zu wollen im Finale der 5. Sinfonie, müsste die Musik auch verfehlen. Esa-Pekka Salonen und das Orchestre de Paris entfachten mit ihrer Interpretation in der Philharmonie jedenfalls einen fast naturgewaltigen Beifallssturm.
Torsten Flüh
Musikfest Berlin 2025
bis 23. September 2025
[1] Talia Pecker Berio: Preface. In: Luciano Berio: Remembering the future. The Charles Eliot Norton lectures. Cambridge, Massachusetts/London 2006, S. V.
[2] Luciano Berio: Remembering … ebenda S. 31.
[3] Ebenda S. 60.
[4] Thorsten Preuß: Glück und Abgrund. In: Abendprogramm: 1.9.2025 Orchestre de Paris Berio/Salonen/Sibelius. Berlin: Berliner Festspiele, 2025, S. 8.
[5] Berio zitiert nach ebenda.
[6] Zum Dirigieren mit und ohne Taktstock siehe auch: Torsten Flüh: Furios tänzelnde Eröffnungen des Musikfestes Berlin 2025. Klaus Mäkelä dirigiert das Royal Concertgebouw Orchestra und Karina Canellakis das Netherlands Radio Philharmonic Orchestra. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. September 2025.
[7] Esa-Pekka Salonen über sein Konzert für Horn und Orchester (2024/25). In: Abendprogramm: 1.9.2025 … [wie Anm. 4] S. 17.
[8] Ebenda.
[9] Ebenda.
[10] Unesco: Musical art of horn players, an instrumental technique linked to singing, breath control, vibrato, resonance of place and conviviality. (List)
[11] Esa-Pekka Salonen über … [wie Anm. 7) S. 18.
[12] Siehe zum Virtuosen auch: Torsten Flüh: Das (Anti-)Virtuose. Maurizio Pollini spielt Werke von Chopin und Liszt in der Philharmonie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2011.
[13] Esa-Pekka Salonen über … [wie Anm. 7) S. 18.
[14] Siehe hilfsweise: Einzelteile des Waldhorns: … 8 Maschine … (Wikipedia).
[15] Sibelius zitiert nach Thorsten Preuß: Glück … [wie Anm. 4] S. 12.
[16] Center for Conservation Bioacoustics at the Cornell Lab of Ornithology and the Chair of Media Informatics at Chemnitz University of Technology: BIRDnet.
[17] Siehe zu Schwärmen und Schwarmintelligenz: Torsten Flüh: Schwärme und das Waldbühnen-Konzert, das nicht stattfand. Berliner Philharmoniker sagen ihr Waldbühnen-Konzert 2011 in letzter Minute ab. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Juli 2011.

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