Fotografie – Wirklichkeit – Film
Vom Konstrukteur der Träume
Zur Werkschau Julian Rosefeldt Nothing is Original bei C/O Berlin
C/O Berlin zeigt im Amerika Haus am Bahnhof Zoologischer Garten in der Hardenbergstraße eine umfangreiche Werkschau zum Künstler und Filmemacher Julian Rosefeldt. Nahezu das ganze Haus wird mit der Werkschau bespielt. Die Werkschau in dem der Fotografie und Medienkunst gewidmeten Ausstellungshaus wirft die Frage auf, ob Julian Rosefeldt in die Kategorie des Fotografen passt. In der Ausstellung Nothing is Original können wir erfahren, dass Rosefeldt, als er es sich endlich leisten konnte, eine Spiegelreflexkamera zu kaufen, zuerst mit der Kamera seines Bruders das schwarze Objekt seines Spiegelreflexapparates fotografierte. Faszinierte ihn mehr der Apparat, der die Bilder macht, als die Bilder?

Rosefeldts kurze Erzählung vom ersten Foto wird in der Ausstellung zusammen mit Scripts, kurzen Filmsequenzen auf Tablets, Dias, unveröffentlichten Storyboards, Making-Of-Dokumentationen etc. zum ersten Mal gezeigt. Am Anfang war das Foto vom Spiegelreflexapparat, der Fotos machen sollte, möchte ich sagen. Das gibt einen Wink auf die Verfahren der Bildgenerierung, die Julian Rosefeldt auf einzigartige Weise erarbeitet hat. Er interessiert sich für die Apparate, die die Bilder machen, die unsere Wahrnehmung bestimmen. Das reicht von Archive of Archives bis Manifesto oder The Swap im Berliner Westhafen. In American Nights steht auf einem Bildschirm eine Frau vor einer Western-Hütte-Tür. Dann wird das Bild durch eine Kamerafahrt und eine Fahrt der Kulissentür auf einmal ein anderes. Er zeigt wie das Bild gemacht wurde.

Julian Rosefeldt lässt sich in seiner meisterlichen Kunst zwischen Fotografie, Film und Forschung schwer verorten. Mit Nothing is Original knüpft er nicht nur an eine Formulierung von Jim Jarmusch in den Golden Rules of Filmmaking im MovieMaker Magazine vom Januar 2004 an. Vielmehr gibt der Titel zugleich einen Wink auf eine Literatur der Manifeste, die Julian Rosefeldt 2015 in seiner Installation Manifesto mit Cate Blanchett in 13 Rollen verarbeitet hat. Er hat dafür Manifeste des 19. und 20. Jahrhunderts erforscht und komponiert. Als Prolog zu Manifesto komponiert Rosefeldt das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels[1] mit dem Dada Manifesto von Tristan Tsara und Literature and the Rest von Philippe Soupault.

Für einige Wochen war da auf dem Bahnsteig des Ring-S-Bahnhofs Wedding die Plakatwand mit der Werbung für Nothing is Original. Als ich sie am Mittwoch noch einmal mit der Sony-Kamera fotografieren wollte, war sie weg. Ich musste das Smartphone-Foto für die Besprechung nehmen. Das Still aus Rosefeldts Videoinstallation American Nights 2008/2009 riss ein Loch der Wirklichkeit in das städtische Szenario von Hinterhäusern und Parkhaus der Bayer AG im Schering-Gebäude.[2] In der Ausstellung ist die Szene mit der Frau, ein Tuch über den Schultern, vor der Western-Hütte-Tür auf einem neben 4 weiteren Bildschirmen zu sehen. In einer Naheinstellung steht die Frau vermutlich auf jemanden wartend im Wind vor der Tür.

Es ist ein Bild des Wartens, wie es in vielen Westernfilmen zitiert wird. Mit dem Bild des Wartens wird auch der so wichtige Suspense im Film aufgerufen. Was wird passieren? Wer wird kommen? Eine Gruppe apokalyptischer Reiter, Gauner, Feinde oder der Geliebte? Die Frau steht in einem Türrahmen. Eine Rückansicht mit grandioser Landschaft wird im Gegenschnitt ebenfalls gezeigt. Dann fährt die Tür auf einem Schienenweg rückwärts von der Frau weg. Die Konstruktion der Westernidylle oder des Suspense im Western wird auf aberwitzige Weise sichtbar. Denn sie ist in eine menschleere Wüste vor einem Gebirge als Kulisse hineingebaut. Film- und Bildtechnisch arbeitet Julian Rosefeldt auf höchstem Niveau.

Julian Rosefeldt verwendete den Titel Nothing is Original für den Epilogue von Manifesto. Der Epilog ist dem Medium FILM mit Cate Blanchett als Lehrerin in einer Grundschulklasse gewidmet. Er montiert manifestartige Texte von Stan Brakhage, Jim Jarmusch, Lars von Trier, Werner Herzog und Lebbeus Woods. Die Texte werden von der Figur der Lehrerin gesprochen, als kämen sie ihr gerade in den Sinn. Doch plötzlich steht an der Wandtafel die Projektion „NOTHING IS ORIGINAL“ und die Lehrerin gibt ihren Schüler*innen die Anweisung: „Steal from anywhere that resonates with inspiration or fuels your imagination. […] It’s not where you take things from – it’s where you take them to.”

FILM aus Manifesto wird zur Eröffnung auf die erste Wand der Ausstellung als 10 min 30 sec-Loop projiziert. Die Textcollage, die bei der Installation im Hamburger Bahnhof anlässlich der Berlinale 2016 zusammen mit den 12 anderen Manifesto-Filmen im 26-channel sound (13 x stereo) gezeigt wurde, erhält allein durch die Installation eine andere Gewichtung.[3] Sie hallt durch mehrere Ausstellungsräume als Message. Im Hamburger Bahnhof war aus den Manifest-Texten ein Sound entstanden. Der rauschhafte Zusammenschnitt der Manifest-Texte hatte sie von ihrem apodiktischen Gestus befreit. Julian Rosefeldt spricht in einem Interviewfilm in der Ausstellung von der Schönheit der Texte, die er für Manifesto komponiert habe.

Manifesto wurde bis 2020 auf Festivals und in erstklassigen Ausstellungshäusern vom Australian Centre for the Moving Image, Melbourne, über den Hamburger Bahnhof und Ruhrtriennale ebenso wie Park Avenue Armory, New York, Athens and Epidaurus Festival, Athens, sowie The Israel Museum, Jerusalem, bis Museum MACAN, Jarkata, gezeigt. Damit ist Manifesto wohl die erfolgreichste bzw. meist gezeigte Installation von Julian Rosefeldt. Ebenfalls 2015 entstand The Swap im Berliner Westhafen mit zahlreichen Containern, Tanks und dem markanten Behala-Speicher[4] im Hintergrund.

The Swap, der ebenfalls in der Werkschau gezeigt wird, inszeniert im Stil eines Gangsterfilms einen Tausch von Aktenkoffern. Was in den Koffern ist, wird nicht gezeigt. Geld? Geschäftsunterlagen? Stoff? Julian Rosefeldt arbeitet immer wieder an der Schnittstelle der Genres z.B. vom Genrefilm – Western, Gangsterfilm, Werbefilm, Heimatfilm etc. Denn die Genrefilme stellen wiederholbare Wirklichkeiten von Heimat, Amerika, Verbrechen und einem schöneren Leben her. The Swap könnte eine Parodie auf das Genre Gangsterfilm sein, wenn die Container von Hapag Loyd, GESeaco, VAN DEN BOSCH, TRITON, NYK LOGISTICS & MEGACARRIER, CMA CGM, P€CL nicht einen globalen Tauschhandel aufriefen.

Im Film wird der mafiöse Tausch von Männern in schwarzen Lederjacken und Pelzmänteln vor zwei schwarzen, amerikanischen 60er-Jahre-Limousinen im Westhafen zur Globalisierungskritik. Denn der Tausch unter Einsatz von Maschinengewehren wirkt einerseits als Gangsterballett choreographiert komisch und andererseits zeigt er im Handumdrehen, dass der Tausch nicht funktioniert. Allerdings hat die zweite Amtszeit von Donald Trump mit einer vermeintlichen Antiglobalisierungspolitik für die amerikanische Wirtschaft bereits gezeigt, dass der Welthandel nicht etwa reguliert wird, sondern mit beliebigen Zöllen durch Trump noch mafiöser geworden ist. Trump nennt es nun Deal, obwohl er bekanntermaßen seinem geerbten Immobilienunternehmen mit mafiösen Strukturen zum Misserfolg verholfen hat.[5] The Swap lässt sich insofern als nach wie vor aktuelle Kritik lesen.

Was wir in The Swap sehen können, ist ein Deal. Es gehört zur Kunst Rosefeldts, dass seine Filme und Fotografien keine Eindeutigkeiten herstellen. Vielmehr performen sie Mehrdeutigkeiten, die gerade dadurch Kritik freisetzen. Globalisierung und Gangsterästhetik im Westhafen sind eine Sache. Aber man kann zugleich fragen, ob Donald Trump mit seiner Politik nicht nur die amerikanischen Globalisierungsverlierer in der Industrie, Autoindustrie und Landwirtschaft als Wählerklientel befrieden will, sondern zugleich eine globale Herrschaft der United States und seiner MAGA-Bewegung propagiert? Die Gangsterästhetik funktioniert als ein ständiges Szenario der Drohungen, die bei Rosefeldt als leer, redundant und lächerlich inszeniert werden.

Durch die Werkschau erhält der Besucher einen guten Einblick in die Produktionsprozesse der Arbeiten von Julian Rosefeldt. Drängt sich in The Swap eine ebenso komische wie absurde Konstruktion des Welthandels – und der Weltpolitik – an einem realen Ort auf, so sind es die filmisch-technischen Mittel ebenso wie die Choreographie (Grayson Millwood und Julian Rosefeldt), die den Mythos des Tausches im Deal dekonstruieren. Denn Deal heißt nicht nur einen Handel oder ein Geschäft machen, vielmehr wurde mit Deal im Deutschen besonders nach dem 2. Weltkrieg mit der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten immer eine „zweifelhafte“ Abmachung, ein zweifelhaftes oder gar schmutziges Geschäft verstanden.[6] Es ist nicht zuletzt der Begriff des Dealers, bei dem Drogenabhängige ihre Substanzen kaufen müssen und ständig übers Ohr gehauen werden, bis sie sterben, der den Klang des Begriffs Deal prägt.

Es geht Rosefeldt nicht nur um Konstruktionen im Film, vielmehr werden die Konstruktionen von Wirklichkeit seit den Anfängen zum Thema beispielsweise im Fotoprojekt Archive of Archives von 1995. Die Stempel im Zeitungsarchiv der Süddeutschen Zeitung sind nicht nur lückenhaft auf einem quadratischen Brett geordnet, sie stellen mit ihren Begriffen wie „Aussenpolitik“ „Weltpolitik“ „Innenpolitik“ „Bundesrepublik“ „Deutschland“ „Bund-DDR“ … eine Ordnung der Zeitung her. Die Ordnung und Unordnung der Archive generiert selbst schon Konstruktionen von Wirklichkeit. Die Stempel, mit denen früher die Artikel den Ressorts der Zeitung nicht nur ab- sondern zugestempelt worden sind, bilden auf dem fotografierten Stempelbrett eine ganze Weltwahrnehmung.

Bereits der Titel der Serie von Schwarzweiß-Fotografien, Archive of Archives, gibt weiterhin einen Wink auf die archivierende Praxis der Fotografie. Fotografieren heißt immer auch archivieren. Indem Julian Rosefeldt die unterschiedlichen Archive fotografiert, lotet er das Potential der Fotografie aus. Jedes Foto erzählt mit dem Titel zugleich eine kurze Geschichte. Denn es gibt Archive, die systematisch angelegt werden, und solche, die zufällig entstehen wie die Pokale im Regal mit den Aktenordnern. „Trophy cups of former German ice hockey champion FC Hedos after going bankrupt”. Jedes Archiv hat seine eigenen Regeln oder auch gar keine.

Julian Rosefeldt arbeitet mit Texten und Geschichten, die uns erzählt werden und die wir zu unseren eigenen machen. In einem weiteren Raum wird Stunned Man aus der Trigolgy of Failure auf einer geteilten Projektionsfläche quasi synchron gezeigt. Ein Mann wird in seiner Wohnung auf Kamerafahrten gefilmt. Die Kamera fährt von links nach rechts und wieder zurück. Auf der einen Projektionsfläche scheint das Leben des Mannes in seiner Wohnung zu funktionieren. Auf der anderen Projektionsfläche mit der identischen Wohnung rastet der Mann irgendwann aus. Er beginnt die Regale in seiner Wohnung zu zerstört, er wirft sich an eine Wand, die sogleich durchbrochen und als Filmkulisse entlarvt wird. Die zwei konkurrierenden Projektionsflächen könnten ebenso gut aus einem Werbefilm mit Vergleichseffekt stammen. Superspüli löst das Fett total auf. Die Trilogie des Scheiterns und der Sprachlose Man als Titel eröffnen weitere Sichtweisen. Während es bei dem Mann auf der linken Projektionsfläche um einen ruhigen Mann geht, der vielleicht nichts zu sagen hat, könnten auf der rechten Fläche seine Emotionen gezeigt werden.

Leider wird der Film in Schwarzweiß Deep Gold (2013/2014), der das Träumen zwischen Lust- und Albtraum thematisiert, in der Ausstellung nur in Stills gezeigt. Vielleicht war den Kurator*innen die Obszönität der Theaterszenen mit der Sängerin Peaches in einem vielbusigen Kostüm mit Puppenköpfen als Brustwarzen und zwei Frauen, die pantomimisch auf zwei Penissen reiten zu heikel. Seit 2013/2014 hat sich viel in den Debatten um das Geschlecht verändert. Der Film war 2015 immerhin im Deutschen Historischen Museum in der grandiosen Ausstellung Homosexualität_en gezeigt worden.[7] Heute spricht der Bundeskanzler von „Zirkus“, wenn es um Geschlechtlichkeiten und Liebe geht. Filmhistorisch knüpft Julian Rosefeldt mit Deep Gold an Luis Buñuels bahnbrechenden Skandalfilm L’Âge d’Or (1930) an. Im Traumfilm ist alles (nur) Kulisse und Wirklichkeit zugleich ebenso lust- wie angstbesetzt. Es gibt viel Nacktheit und Obszönität im Film. Salvator Dalí arbeitete an der freudschen Bildwelt von Krieg, Sexualität und Filmmontage mit. Rosefeldt zeigt in seinem Film immer, dass der Traum eine vieldeutige Konstruktion ist.

Indem wie Julian Rosefeldt die Konstruktionen, die unsere Wirklichkeiten bestimmen, höchst kunstvoll dekonstruiert, verrät er sie nicht. Er arbeitet dafür in einer Medienwelt und Welt der Medien, der wir nicht nur ausgeliefert sind. Vielmehr können wir sie genießen, darüber lachen oder die Konstruktionen beispielsweise von Heimat im deutschen Wald leicht verschieben und prüfen. Brauchen wir die Konstruktion so, wie an einem Sumpfgebiet mit einem kaputten Stuhl? Lügt der Kunstnebel über dem Fels nicht mehr, als dass er anheimelt. Rosefeldt erforscht die Bildwelten aus Film, Funk und Fernsehen, könnte man sagen. Tatsächlich hat er die Produktionsprozesse der News im Umfeld von Manifesto untersucht. Und es ist vielleicht seine Einstellung zu den Konstruktionen, die ihn mehr faszinieren, als dass sie belehrend kritisiert werden müssen, die ihn so erfolgreich macht.

Torsten Flüh
Julian Rosefeldt
Nothing is Original
bis 16. September 2025
C/O Berlin Foundation
Hardenbergstraße 22-24
10623 Berlin
[1] Dass wahrscheinlich auch Jenny Marx, geb. von Westfalen und Lizzie Burns am Manuskript zum Kommunistischen Manifest mitgeschrieben haben, hat 2017 der Film Le jeune Karl Marx vorgeschlagen. Siehe: Torsten Flüh: Ein Gespenst wird gefeiert. Hostages und Le jeune Karl Marx auf der Berlinale 2017. In: NIGHT OUT @ BERLIN 15. Februar 2017. (PDF)
[2] Zum brutalistischen Verwaltungsgebäude der Schering AG, heute Bayer, in Berlin-Wedding siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Februar 2021.
[3] Siehe: Torsten Flüh: Die Wiederkehr des Manifests als Fake. Zur grandiosen Filminstallation Manifesto mit Cate Blanchett von Julian Rosefeldt im Hamburger Bahnhof. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Februar 2016 (PDF).
[4] BEHALA: Berliner Hafen- und Lagerhausgesellschaft mbH.
Zur BEHALA siehe auch: Torsten Flüh: Im Megaspeicher der Betriebssysteme. Zur Fachkonferenz Microsoft Build 2022 in der Lagerhalle 1 des Westhafens. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juni 2022.
[5] Siehe u.a. Carolyn Osorio: All Of The Times That Trump Went into Bankruptcy… In: Money Digest Feb. 1, 2025.
[6] Siehe auch die Wortverlaufskurve in DWDS: Deal.
[7] Zur Ausstellung Homosexualität_en siehe: Torsten Flüh: Jenseits von HOMOLULU. Zur Geschichtlichkeit und Visualität der HOMOSEXUALITÄT_EN im Deutschen Historischen Museum und dem Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2015. (PDF)
