Israels rosa Wolke – Zu Aeyal Gross‘ Kritik am Homoglobalismus

Pinkwashing – Fortschritt – Nationalisierung

Israels rosa Wolke

Zu Aeyal Gross‘ Kritik am Homoglobalismus. Oder: Gibt es eine Global Gay Governance?

Dank Netta und ihres Songs Toy findet am Samstagabend ab 21:00 Uhr das Finale des 64. Eurovision Song Contest in Tel Aviv, Israel, statt. Tel Aviv gilt international als Top-Reiseziel für den schwulen Tourismus. American Airlines ernannte Tel Aviv gar zur „best gay city in the world“. Die größte Gay Pride in ganz Asien nach amerikanischer Perspektive findet hier statt. Vielleicht wird der ESC deshalb in diesem Jahr noch ein bisschen schwuler werden. Und Schwule lieben Netta wie auch Madonna, die vorbeischauen will. Aeyal Gross lehrt als Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der Juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv. Er kritisierte und diskutierte in der 5. Rainbow Lecture als queerer Aktivist Pinkwashing, Homoglobalismus und Global Gay Governance.

Aeyal Gross‘ Familiengeschichte ist mit Berlin verknüpft. Sein Vater lebte in der Neuen Grünstraße in Berlin-Mitte und musste 1933 Deutschland verlassen. Am 5. April 1933 erhielt er ein Visum für Palästina als Reisender von der Britischen Botschaft in Berlin. Aeyal Gross projizierte das Dokument am 3. Mai für seine Rainbow Lecture in der Kantine der TAZ in der Friedrichstraße. Es war die fünfte Rainbow Lecture, mit der auf auch kontroverse Weise der 150. Geburtstag von Magnus Hirschfeld in Kooperation mit der TAZ von Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e.V. und Initiative Queer Nations e. V. gewürdigt wird. Aeyal Gross sieht sich sozusagen seinem Familienerbe wie dem Erbe Magnus Hirschfelds verpflichtet. Ist die liberale Politik der Regierung Netanjahu ein Fortschritt für die Rechte von LGBTI*? Oder wird sie strategisch genutzt, um Israel zu Unrecht im Licht des Liberalismus erscheinen zu lassen?

Gibt es einen Fortschritt in den Rechten von LGBTI*? Müssen wir den Politikern für z.B. die „Ehe für alle“ dankbar sein? Oder geht es um unteilbare Menschenrechte, die oft in Verfassungen formuliert und festgeschrieben sind, aber mangelhaft umgesetzt wurden? Heute, am 17. Mai 2019 hat das Parlament von Taiwan in Taipeh die Ehe für alle legalisiert! Das ist fast schon eine Ironie der Geschichte in Zeiten der Globalisierung. Denn der 17. Mai oder 17.5. galt wegen der strafrechtlichen Diskriminierung durch den § 175 Strafgesetzbuch der Bundesrepublik Deutschland bis zu seiner Streichung 1994 als Tag der Homosexuellen. Seit 2005 gilt er als internationaler Tag gegen Homophobie, Transphobie und Biphobie. Nun hat das taiwanische Parlament gegen den Widerstand der konservativen Kuomintang für die völlige Legalisierung und Gleichstellung von Ehen unter Menschen gleichen Geschlechts gestimmt.   

In Israel werden gleichgeschlechtliche Ehen, die im Ausland geschlossen worden sind, zwar respektiert, aber zuletzt wurde im Juni 2018 in der Knesset ein Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit 42 zu 39 Stimmen abgelehnt. Gleichwohl propagiert die konservative, israelische Regierung von Benjamin Netanjahu, dass Israel im Vergleich zu seinen arabischen Nachbarländern besonders gay friendly und damit liberal sei. Aeyal Gross führte in seiner Rainbow Lecture nun zahlreiche Beispiele an, wie das Paradox von staatlicher Vereinnahmung und Verhinderung von verfassungsrechtlich formulierten Grundrechten ständig aufgeführt wird. Der ESC führt mit staatlicher – und militärischer – Unterstützung nun den ultimativen Liberalismus mit der Vielfalt der Sänger*innen auf. Als Verfassungsrechtler nimmt Gross wenigstens seit 2015 eine standhafte Position zum Pinkwashing ein.

Vielleicht muss schon hier Aeyal Gross‘ Haltung ein wenig genauer kontextualisiert werden. Denn er steht nicht völlig allein mit seiner Kritik am israelischen Staat und seiner Regierung. Sie gibt vielmehr einen Wink auf aktuelle Entwicklungen in Israel wie sie schon im November 2016 mit der Mosse Lecture Religion, Nationalism, and the Cult of Death: The case of Israel von Eva Illouz zur Sprache kamen.[1] Die israelische Soziologin Eva Illouz machte in ihrer Mosse Lecture zum Thema Populismus und Politik darauf aufmerksam, dass der säkulare Staat Israel zunehmend in einen religiösen verwandelt wird. „Die Wahrheit sagen muss (der jüdische Intellektuelle, T.F.) nämlich gleichzeitig einem mächtigen Militärstaat, der an der Schwelle zu einer ethnischen Hegemonie steht – Israel –, und einer jüdischen Diasporagemeinschaft, die von der Erinnerung an ihre fürchterlichen Verfolgungen heimgesucht wird.“[2] Der „mächtige() Militärstaat“ steht ebenso im Kontrast zur säkularen Verfassung des Staates Israel wie die religiöse Aufladung der Lebenspraktiken.

Der ESC in Tel Aviv findet genau in diesem Spannungsfeld von Pinkwashing, Militärstaat, Zivilgesellschaft, Orthodoxie und Fundamentalismus statt. Anders als es in den Nachrichten und kurzen Reportagen abgehandelt wird, betreffen diese widerstreitenden Positionen den ESC im allerhöchsten Maße. Ein Vergleich, der naheliegen könnte, zwischen dem ESC und einer anderen, internationalen Großveranstaltung im 20. Jahrhundert wird hier aus Pietät nicht ausgeschrieben. Die Orthodoxie in Israel hat die Austragung des ESC am heiligen Sabbath scharf kritisiert und hätte sie am liebsten verboten. Die israelische Regierung Netanjahu hat argumentiert, dass keine Juden hinter der Bühne arbeiteten und damit das Gebot, am Sabbath nicht zu arbeiten, eingehalten werde. Vor allem schwule Männer aus aller Welt sind nach Tel Aviv gereist, um neben dem Gesangswettbewerb noch ein bisschen Spaß zu haben. Die Stadtverwaltung von Tel Aviv, hat eine inoffizielle Cruising Area am Strand, per Regenbogenflaggen legalisiert, wie Aeyal Gross in seinem Vortrag erklärte und warnte.

Die Hamas schießt ein paar Raketen nach Israel, um den ESC zu stören. Israelreisende und ESC-Fans bekunden am Strand von Tel Aviv gegenüber der Reporterin vom ARD Morgenmagazin, dass sie sich durch das israelische Militär trotzdem sicher und geschützt fühlen. Madonna ist gar angereist und wird für vermutlich sehr viel Geld ein oder zwei Songs singen. Auch sie fühlt sich offenbar geschützt und hat gerade eine Rede bei den schwulen GLAAD Media Awards gehalten. Vor allem gehört Israel zur ESC-Gemeinde, damit zu Europa und wird eben in dieser ESC-Woche eine Art europäische Hauptstadt. Israel und wenigstens Tel Aviv will so europäisch wie Berlin, Amsterdam, Dublin, Paris oder Oslo sein. Das existentielle Dilemma des Staates und seiner Bürger, wie es mit dem israelischen Berlinale-Wettbewerb-Gewinner Synonymes von Nadav Lapid in Szene gesetzt worden ist[3], will oder soll für das Finale des ESC vergessen werden.

Wie europäisch ist Queerness? Nicht zuletzt der familiäre Wink auf die in gewisser Weise  glückliche Emigration des Vaters nach Palästina macht Aeyal Gross auch zum Europäer ebenso wie Israel wenigstens an der Grenze zu Europa liegt. Es ist gewiss europäischer als Australien, das zum fünften Mal teilnimmt. Es gibt schwule ESC-Fans, die aus USA nach Tel Aviv gereist sind. Bereits 2015 hat Aeyal Gross anlässlich der größten Gay Pride des Nahen und des Fernen Osten in Tel Aviv die Veranstaltung als Pinkwashing kritisiert. In der englischen Online-Ausgabe von Haaretz fragte die Zeitung:

„Is gay pride more complex when it comes to Israel? Should we be questioning whether Israel is using gay rights to „pinkwash“ its actions in the West Bank and Gaza, or are pinkwashing charges just an irrelevant ploy to change the subject back to the Palestinians?“[4]

Pinkwashing, Homoglobalismus und Global Gay Governance wurden und werden von Aeyal Gross engagiert in Frage gestellt. Vielleicht hat Haaretz die Frage nicht ganz präzise formuliert. „(G)ay pride“ ist wahrscheinlich nicht komplexer, wenn sie in Israel stattfindet, sondern „Israel“ müsste längst die verfassungsrechtlich immanent garantierten Rechte umsetzen. Man könnte sagen, dass die Regierung „gay pride“ unterstützte, damit sie die Rechte nicht umsetzen muss! Der vermeintliche Liberalismus hat konservative Folgen. So habe ich das zwar nicht im Vortrag von Aeyal Gross gehört, aber das scheint dem Berichterstatter der springende Punkt. „Israel“ tut alles für LGBTI*, damit es ihre Rechte nicht umsetzen muss. Nach Haaretz formulierte er es 2015 etwas anders.

„Gross replied that he „sees politicians who never work to advance LGBT rights in Israel flaunt it abroad for propaganda.“

Gross continued to call politicians who speak out against gay rights yet brand Israel as pro-gay guilty of pinkwashing, adding that „even when they speak for gay rights but do nothing to promote it actively, that’s domestic pinkwashing.““[5]

Jan Feddersen, der den Vortrag in der TAZ-Kantine moderierte und danach fragte, ob die aktuelle Politik nicht schon ein erfreulicher „Fortschritt“ für die Rechte von LGBTI*s in Israel und der Welt sei, wollte Gross‘ Ausführungen nicht folgen. Man muss allerdings den Unterschied machen, ob man verfassungsrechtlich für einen Staat argumentiert oder ob man aus einem allgemeinen Gefühl des Fortschritts von schwulen Rechten in der Welt spricht. Das Gefühl des Fortschritts wird im Falle Israels ganz offensichtlich von der Regierung instrumentalisiert. Verfassungsrechtlich sind sich Taiwan und Israel vermutlich sehr viel näher, als man auf den ersten Blick denkt. In Taiwan hat der Umsetzungsprozess zu einer konkreten Gesetzgebung geführt. In Israel wird die Gesetzgebung durch Mehrheitsverhältnisse von Politikern verhindert, um Schwule zugleich als Tourismusversprechen für ein freies Land zu nutzen.

Vielleicht sind Schwule ganz besondere Gefühlswesen. Sie fühlen sich frei und geschützt, wenn sie wie nach Gross in Tel Aviv bestimmte Areale zugewiesen bekommen. Er benutzt den abwertenden Begriff Propaganda, um die politische Strategie deutlich zu machen. Propaganda spricht Gefühle an, um sie zu verstärken und für politische Zwecke zu nutzen. Der Historiker Sven Oliver Müller hat nicht zuletzt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den Einsatz von Musik für die Propaganda untersucht.[6] Denn die Musik spricht Gefühle scheinbar unvermittelt an, verstärkt, kanalisiert und steigert sie. Doch auch durch Bilder wie das im Internet aufgetauchte Foto von zwei händchenhaltenden israelischen Soldaten im Dienst auf einer Facebook-Seite spricht Wünsche und Ängste an. Der eine Soldat telefoniert, während er mit seinem „Freund“ an der Hand auf einer Straße in einem Wohngebiet geht. Wenigstens das Sicherheitsgefühl wie das Gefühl von Normalität werden mit dem Foto angesprochen. Der Ursprung des Fotos blieb dann allerdings unklar.

Anders als Gay Pride lässt sich Queerness weniger gut durch Propaganda normalisieren und instrumentalisieren. Aeyal Gross hat ein Gespür für Propaganda mit Schwulen entwickelt. Denn es sind gerade Bilder und Erzählungen von Normalität, die „Israel“ für seine Selbstdarstellung nutzt. Sie stehen auch im Kontext ökonomischer Nutzung. Gerade unter amerikanischen Gays kursierte in den 80er und 90er Jahren die Formulierung money speaks. Mit der ökonomischen Kraft z.B. von schwulen Touristen sollten gesellschaftliche Verhältnisse in den Destinationen verändert werden. In Tel Aviv scheint sich nicht nur diese Strategie umgedreht zu haben. Vielmehr hat sie Tel Aviv verändert und normalisiert, damit sich Israel nicht verändern muss. Queerness widersteht dagegen Normalisierungsprozessen. Dabei wird der Wunsch nach Normalisierung besonders häufig von ökonomisch abgesicherten Schwulen formuliert.

Neben Pinkwashing wendet sich Aeyal Gross gegen Homoglobalismus. Diesen Begriff hat er erst in den letzten Jahren entwickelt. Er beschreibt damit einen Wandel in politischen Strategien wie beispielsweise von Israel, in denen „Homosexuelle“ soweit normalisiert wurden, dass sie im Militär im nationalen Interesse agieren. Seine Kritik an einer Global Gay Governance ist nicht etwa als Studie abgeschlossen, sondern ein „Work in progress“. Er knüpft dabei bereits im Titel an die Queer Theory an: Gay Governance: A Queer Critique.[7]

„In den letzten zwanzig Jahren hat sich in einigen Ländern ein dramatischer Wandel vollzogen von der Abkehr der Darstellung des Homosexuellen als Bedrohung für die Nation (manifestiert sich unter anderem in einem weit verbreiteten Einspruch gegen Schwule, die im Militär dienen), hin zu einer Anschauung von Homosexuellen als integraler Bestandteil der Staatsbürgerschaft und als Teil dessen, was dazu dient, einen Staat (sowohl intern als auch extern) als liberal und demokratisch zu markieren. Dieser Prozess wurde teilweise in der Diskussion über „Homonationalismus“ festgehalten. Jasbir Puar beschreibt das als „nationalistische Homonormativität“. In diesem Rahmen bieten „domestizierte“ schwule Wesen Munition zur Stärkung des nationalistischen Projekts.“[8]

Die zuvor angesprochene Unterscheidung zwischen Queerness und Gayness kommt in Aeyal Gross‘ Kritik zum Zuge. Denn es geht mit seinem Beispiel der Verweigerung von Unterstützung des Gesundheitswesens in Uganda 2011, weil LGBTI*-Rechte dort nicht umgesetzt bzw. schwule Ugander verfolgt werden, um die Strategie des money speaks. David Cameron knüpfte als Premierminister die Vergabe von Hilfsmitteln an die Einhaltung und Umsetzung von Rechten der LGBTI* in Uganda. Als konservativer Premierminister und Wegbereiter des Brexit hat David Cameron insofern eine Gay Governance zu einer machtpolitischen Entscheidung gegenüber Uganda benutzt. Und er wird von konservativen Schwulen in Großbritannien gewiss Beifall dafür bekommen haben. Aeyal Gross spricht zugleich mit seiner Kritik einen überaus wichtigen und problematischen Bereich der Männlichkeit im Spektrum des schwulen Männlichkeitsaktivisten Jack Donovan, The Way of Men 2012, an.[9]

Die Normalisierung der Homosexuellen hat dazu geführt, dass sie mit Männlichkeits- und Rassefantasien im Spektrum der Neuen Rechten agieren. Schwule Männlichkeits- und Rassefantasien wie Suprematie bei Jack Donovan haben mittlerweile schwule Karrieren generiert, die vom Populismus eines Donald Trump und der Neuen Rechten instrumentalisiert worden sind, um Geschlechtergrenzen zu „re-konstruieren“. Das ist ein Programm, das vom rechten, deutschen Antaios Verlag für jedermann nachlesbar formuliert worden ist. Richard Grenell ist stolz darauf, dass er für Trump und sein Team schwule Wählerstimmen mobilisieren konnte. Dafür ist er Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin geworden. Doch die Pointe liegt darin, dass er keine private Ausnahme ist, sondern ein politisches Karrieremodell des Homoglobalismus verkörpert. Dem muss selbstverständlich argumentativ entgegen gewirkt werden.

Torsten Flüh


[1] Siehe: Torsten Flüh: Emotionale Verstrickungen. Zur Populismus-Debatte bei Eva Illouz und Didier Eribon. In: NIGHT OUT @ BERLIN  November 30, 2016 19:29.

[2] Eva Illouz: Israel – Sozilogische Essays. Berlin: edition suhrkamp, 2015, S. 7.

[3] Vgl. Torsten Flüh: Vaterkonflikte und Heimatlosigkeit. The Boy Who Harnassed The Wind und Synonymes auf der Berlinale – Goldener Bär. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 16, 2019 22:18.  

[4] Haaretz: Pinkwashing Debate: James Kirchick and Aeyal Gross Face Off on Complexities of Gay Pride in Israel. Jun 10, 2015 6:30 PM.

[5] Ebenda.

[6] Siehe u.a. BF/HR: Propaganda mit Gefühl – Musik als Instrument gesellschaftlicher Zwecke. Max-Planck-Gesellschaft: Propaganda mit Gefühl – Musik als Instrument gesellschaftlicher Zwecke. 2. Dezember 2012.

[7] Aeyal Gross: Gay Governance: A Queer Critique. (ohne Ort, ohne Jahr) (PDF) GOVERNANCE FEMINISM: AN INTRODUCTION (Janet Halley, Prabha Kotiswaran, Rachel Rebouché & Hila Shamir eds., 2018)

[8] Ebenda (Übersetzung, T.F.)

[9] Zu Jack Donovan vgl. Torsten Flüh: TEDDY macht Politik. Die 32. TEDDY AWARD Zeremonie war politischer denn je. In: NIGHT OUT @ BERLIN Februar 28, 2018 17:43.

Ein Kommentar

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert