Smartphone – Körper – Spiegel
Verliebt ins Display
Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater
Kurz bevor der Schlussapplaus im Chamäleon in den Hackeschen Höfen aufbrandet, bilden die Körper der Artist*innen senkrecht ein Smartphonedisplay. The Mirror heißt die neue Show der australischen New Circus Kompanie Gravity & Other Myths, mit der das Team des Chamäleon Theaters seit Jahren zusammenarbeitet. Tatsächlich haben die Zuschauer’innen nach der Show das Gefühl, dass es sich bei der Schwerkraft nur um einen Mythos handele und sie ebenso auf die Bühne springen könnten, um sich selbst durch die Luft zu wirbeln. Darcy Grant hat für seine Show als Regisseur die Augen aufgehalten: Fast alle vom Kleinkind bis zur Neunzigjährigen starren heute auf ein – ihr(!) – Smartphonedisplay.
Jacques Rancière formuliert in seinem Buch Aisthesis die These, dass gerade die populären Künste wie Varieté oder heute New Circus seismographisch gesellschaftliche Umbrüche vorwegnähmen. The Mirror lässt sich parallel zur Artistik und den Songs mit Megan Drury als fragmentarische Mediengeschichte und Transformation des Showbusiness‘ lesen. Denn niemand anderes als Deutschlands erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, kooperiert mittlerweile mit der Übermutter des New Circus‘, dem Cirque du soleil. Doch ihre Show ist nicht so nah an den medialen Umbrüchen und Verwerfungen der Alltagspraktiken am Smartphone dran, wie es Darcy Grant mit Gravity & Other Myths gelingt.
Zunächst steht vor dem Vorhang auf der Bühne ein größerer Kassettenrekorder mit Radiofunktion aus den analogen Urzeiten der 70er oder 80er Jahre. Radio wurde nicht im Internet gestreamt, sondern mittels Wellen vor allem über UKW – Ultrakurzwelle – gesendet, was nicht immer störungsfrei verlief. Manchmal mischten sich störende Stimmen in die Wellen ein. Die wellenbedingten Stimmen ließen an Geister denken. In der elektronischen Musik wurden die Wellen des Radios und der Tonbandgeräte für künstlerische Transformationen genutzt.[1] Megan Drury im Bademantel wird auf der Bühne des Chamäleon von diesen Geisterstimmen irgendwie heimgesucht. Visuell wird durch das Verschieben von schwarzen Vorhängen auf der Bühne von den Artist*innen durch Formationen, die auf geradezu gespenstische Weise plötzlich entstehen und verschwinden, eine Geisterstimmung andeutungsweise erzeugt.
Der New Circus bietet mit The Mirror Assoziationsfelder an, die ebenso plötzlich und vor allem schnell aufblitzen, wie sie verschwinden. Dramaturgisch wechselt Darcy Grant zwischen Schnelligkeit, Ausdauer und Überraschung. Das Tempo der Aktionen und ihre Abfolge bestimmen, was die Artist*innen mit ihren Körpern machen. Ihre große Kunst besteht darin, immer alles zu zeigen und gleichzeitig zu verbergen. Insofern ist die Episode mit den schwarzen Vorhängen, die auf der Bühne hin- und hergezogen werden, prototypisch. Immer wird genau austariert, was gezeigt und was verborgen wird. Für die Artistik des New Circus könnte dieses Prinzip der Vorhänge geradezu stilbildend sein. Zugleich wecken die Vorhänge im Publikum den Wunsch, hinter sie zu schauen. Am Trapez oder auf dem Hochseil soll vor allem ein mögliches Halteseil nicht zu sehen sein, damit die Exzeptionalität der Aktion entstehen kann.
Schon für die Artistik und den Lichttanz der Wende zum 20. Jahrhundert formuliert Jacques Rancière eine Verwandlung der Materie in Geist. The Mirror thematisiert als New Circus und Paraphrase auf aktuelle Smartphone-Praktiken die Verwandlung der Körper und der Subjekte in eine hastige Eskalation der Datenströme. Von und nach immer und überall. Die neue Kunst von The Mirror schafft es anders als bei Rancière nicht mehr, „eine Gesellschaft vorweg(zu)nehmen“. Vielmehr inszeniert sie heute Soziopathen auf dem Display.
„Die neue Kunst ist jene Kunst, die eine Gesellschaft vorwegnehmen will, in der der Geist völlig Materie geworden ist, während die Materie sich gänzlich in Geist verwandelt hat. „Die Bühne in Freiheit, Fiktionen preisgegeben, dem Spiel eines Schleiers nebst Attitüden und Gesten entströmt“, dieses „hochreine Ereignis“ ist viel mehr als eine Zusammenkunft von Ästheten. Sie ist die Bühne einer neuen Welt, in der die Kunst und die Wissenschaft übereinstimmen und das sinnliche Milieu des Daseins und die Form der Gemeinschaft ein und demselben Prinzip gehorchen.“[2]
Die Artist*innen von Gravity & Other Myths erzeugen eine Exzeptionalität ohne Netz und doppelten Boden aus dem Tempo und dem Timing ihrer Aktionen. Ihre Kunst kreist um das Spiegelbildliche des Smartphones zwischen Narziss-Mythos und Leere. Es ist kaum noch ein Telefon, aber ganz bestimmt protothetisch nach dem deutschen Begriff ein Handy. Das neue Tool für das Ich ist nur vermeintlich handlich und greifbar, während kaum jemand wissen kann, was mit seinen/ihren Daten, Pics und Videos passieren wird. Die Artist*innen müssen auf einander vertrauen, indem das Zufällige und Exzeptionelle durch pure Körperbeherrschung vorgeführt wird. Insofern scheint mit den Artist*innen in The Mirror ein Soziales auf, das mit dem Medium Smartphone gefährdet ist. Spielt das Ich mit dem Smatphonedisplay oder verspielt das Display das Ich?
An diesem Punkt wurde die Premiere von The Mirror in einer weiterentwickelten Form und mit neuen Artist*innen am 7. September im Chamäleon zu einem aufschlussreichen Ereignis. Denn beim Spiegel wie dem Smartphone als Spiegelmedium geht es immer darum, etwas zu zeigen, um anderes nicht sichtbar werden zu lassen. Es geht immer um eine Konkurrenz, einen Krieg des Sichtbarwerdens. Aufmerksamkeitsfenster. Mit den Worten der Co-Produzenten vom Chamäleon:
„(…) The Mirror (bleibt) eine raffinierte Körperkunst-Performance, die sich spielerisch bis philosophisch mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, mit medialer Selbstinszenierung, mit Körperwahrnehmung und zerbrechlicher Selbstliebe. Wie viel wollen, wie viel sollen wir zeigen, scheinen sich die Performer:innen zu fragen, wenn sie sich dem Publikum offenbaren, mit Bewegungen, Gesten, Blicken; wenn sie von der Handkamera auch bis in den Backstage-Bereich verfolgt werden. Immer den Spiegel im Blick, das Tor zum Ich, zur Seele oder zum Abgrund.“[3]
Zwischen Apps wie TicToc, Weibo, WhatsApp, Facebook und X etc. auf dem Smartphone spielen immer ein Sichtbarwerden, ein Sichtbarwerdenwollen und Verschwinden eine Rolle. Was als exzeptionell erscheint, wurde bereits millionenfach eingeübt. Dieses Paradox, das sich von der Artistik her entwickeln lässt, durchzieht die Praktiken des Smartphones, die in The Mirror andeutungsweise kritisch vorgeführt werden. Auf großen, senkrechten LED-Wänden werden die Sängerin und die Körperkünstler*innen projiziert. Die smartphoneartigen LED-Wände werden verschoben, zu Hintergründen und Live-Screens. Das artistische Smartphone-Rendezvous auf der Bühne erscheint synchron auf dem Display. Zur Pause sieht das Publikum die Artist*iinnen Backstage. – Ob die Synchronizität tatsächlich auf dem Display stattfindet oder auf ein nur eingespieltes Video umgeschaltet wurde, verschwindet für das Publikum hinter einem Fragezeichen, falls es überhaupt gestellt wird.
Die en passant abgespielte LiveCam-Sequenz aus dem Umkleideraum gibt zugleich einen Wink auf den lustvollen Voyeurismus der Zuschauer*innen, die immerschon wissen wollten, was in der Pause im Umkleideraum passiert. Sichtbarwerdenwollen und Voyeurismus bedingen einander und stiften Schnittpunkte. Wobei der Voyeurismus am Smartphone mit den entsprechenden Apps, positiv formuliert, vor allem Sicherheit durch Distanz verschaffen soll. Negativ formuliert, entspringt der Voyeurismus einer panischen Angst, nicht den imaginierten Ansprüchen gerecht werden zu können. Voyeurismus verwandelt Ängste in Lust und Kontrollphantasien. Videos und Pics vom Smartphone-Speicher werden zu Kampfmitteln.
Der Begriff Artistik und sein Gebrauch im Deutschen wurde schnell mit dem Zirkus als „Zirkuskunst“ verknüpft.[4] Weiterhin wird er für „außerordentliche körperliche Geschicklichkeit“ und ein „großes Maß an formaler Beherrschung“ verwendet. Zugleich wird seine Herkunft ungenau aus dem Französischen angegeben. Dabei ist es wenigstens erwähnenswert, dass wohl ARTISTE von D’Alembert und Diderot in der Encyclopédie berücksichtigt wurde, aber eine Artistik nicht genauer formuliert wird. Die Fähigkeiten, die den artiste auszeichnen, werden insbesondere hinsichtlich der Mechanik und der Intelligenz formuliert. Im Unterschied zur deutschen Artistik wird der artiste nicht im Zirkuszelt, sondern der Wissenschaft und Praxis im Labor angesiedelt:
„ARTISTE, s. m. nom que l’on donne aux ouvriers qui excellent dans ceux d’entre les arts méchaniques qui supposent l’intelligence ; & même à ceux, qui, dans certaines Sciences, moitié pratiques, moitié speculatives, en entendent très-bien la partie pratique, ainsi on dit d’un Chimiste, qui sait exécuter adroitement les procédés que d’autres ont inventés, que c’est un bon artiste ; avec cette différence que le mot artiste est toûjours un éloge dans le premier cas, & que dans le second, c’est presque un reproche de ne posséder que la partie subalterne de sa profession.“[5]
(KÜNSTLER, s. m. Bezeichnung für Arbeiter, die sich in den mechanischen Künsten auszeichnen, die Intelligenz voraussetzen. Und selbst denen, die in bestimmten Wissenschaften, die halb praktisch, halb spekulativ sind, den praktischen Teil sehr gut verstehen, wird von einem Chemiker, der weiß, wie man die von anderen erfundenen Prozesse geschickt ausführt, gesagt, dass er ein guter Künstler ist; mit dem Unterschied, dass das Wort Künstler im ersten Fall immer ein Lob ist und dass es im zweiten Fall fast ein Vorwurf ist, nur den untergeordneten Teil seines Berufs zu besitzen.)
Die Ambiguität der Gebrauchsweisen des artiste‘ im 18. Jahrhundert gibt einen Wink auf das Problem von Praxis und Mechanik im Horizont der Aufklärung bezüglich der Intelligenz. Denn der Begriff des Artisten oder Künstlers kann nach D’Alembert und Diderot zugleich abwertend gebraucht werden. Der Artist soll sein praktisches Handeln mit Intelligenz verstehen und nicht nur auf geschickte Weise nachahmen. Im Falle der Nachahmung kippt der Begriff sogleich vom Respekt in Spott. Im Deutschen schimmert diese Ambiguität weiterhin durch. Beiläufig werden damit die Künste oder artes neu formuliert. Sie sollen sich nun stärker an einer vernunftorientierten, empirischen Wissenschaft ausrichten. Insofern wird der Begriff des Künstlers und damit auch der Artistik nicht nur als mechanische Zirkuskunst anders formuliert. Die populäre Körperkunst der Artistik wird kulturell nicht zuletzt vor diesem Hintergrund geringer geschätzt.
Die Elastizität der nur durch Lieder kommentierten Artistik ermöglicht unterschiedliche Sichtweisen von The Mirror. Unter dem Begriff des Spielgels werden unterdessen Praktiken der Mediennutzung im 21. Jahrhundert angerissen, wenn nicht verhandelt. Die Materialität der Spiegel hat sich seit dem 18. Jahrhundert grundlegend verändert. Selbst seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich viel verändert, wenn Megan Drury Sweet Dreams (1983) von den Eurythmics singt. „Some of them want to get used by you, Some of them want to abuse you”, klingt in Zeiten von Cybergrooming mit wiederholt tödlichem Ausgang anders als vor 40 Jahren. Die Anbahnung von sexuellen Kontakten mit Minderjährigen durch ein drehbuchartiges Handeln und Texten im Chat kann heute jede und jeder durchschauen. Die Aufklärung über Cybergrooming des Bundeskriminalamtes kann jede/r sofort bei Google finden.[6] Dennoch gehört es weiterhin zur geübten Praxis nicht nur am PC zuhause, sondern am unentbehrlichen Smartphone.
Das Smartphone ist mit der Spiegelfunktion zu einer Ich-Prothese geworden. Niemand will es missen. Von der Bezahl- und Bank-Funktion bis zur Verabredung zum Sex findet alles am Display statt. Das lässt sich auf der Bühne insbesondere in den LifeCam-Sequenzen beobachten. Megan Drury wird von den Artist*innen ständig in neue Positionen versetzt. Schnell blitzt dabei die Erinnerung an Berichte auf, wie Smartphone Nutzer*innen verunglückten, weil sie ein besonders spektakuläres Live drehen wollten. Das Display in der Hand taugt zum Suizid. Die Artist*innen – Emily Gare, Lewis Rankin und Maya Tregonning, Hamish McCourty, Jack Manson, Jordan Hart, Josh Strachan und Megan Giesbrecht sowie die Tänzerin und Luftakrobatin Isabel Estrella – erzeugen mit Schnelligkeit, Kalkül und Körperkunst all diese Spiegeleffekt.
Unversehens werden im Strudel der Körperbilder der Artist*innen die Geschlechter durcheinander gewirbelt. Vom Bodybuilding-Körper bis zum eher fülligen werden mit der Artistik die Kategorien der Körpermaße widerlegt, um die Schwerkraft zu widerlegen. Doch nicht die Schwerkraft wird widerlegt, sondern vielmehr durch andere Gesetzmäßigkeiten als Mythos apostrophiert. Im Spiegel, dem entscheidenden Einrichtungsgegenstand der Fitnessstudios, werden Körper und Geschlecht ständig überprüft und geformt. In der Artistik stört der Spiegel eher, weil es um eine permanente Bewegung geht. Im Spiegel wird nicht die Bewegung, sondern die Effekte der Bewegungen an Sixpack, Bizeps und Oberschenkelmuskulatur überprüft, bewertet, genossen oder verworfen. Stärke wird in der Dreierpyramide durch die Ausdauer beim Tragen der beiden anderen Körper und ein sichtbares Zittern vorgeführt.
Vier Zweierpyramiden und ein darüber gespannter Körper bilden schließlich ein senkrecht aufgestelltes Orthogon, das ein Display andeuten könnte. Wir wissen nicht, ob die Körper ein Display bilden sollten. Im nächsten Augenblick war die artistische Figur schon wieder verschwunden, weil die Körper auseinander sprangen.
Torsten Flüh
Chamäleon
The Mirror
Hackesche Höfe
bis 7. Januar 2024
täglich außer montags.
[1] Zum Radio, Tonbandgerät und Wellen siehe auch: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.
[2] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen, 2013, S. 147.
[3] Chamäleon: Pressemappe: The Mirror. Berlin, S. 5.
[5] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1751 — 1772 : ARTISTE.
[6] BKA: Cybergrooming.
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