Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Freiheit – Zukunft – Verlag

Ringen um Freiheit durch Wort und Bild

Zum außergewöhnlichen Verlag PalmArtPress und die fantastischen Romane RUA 17 von Volker Kaminski und Der Ideenfabrikant von Wolfsmehl

In der Pfalzburger Straße, Berlin-Wilmersdorf, Nähe Fasanen- und Uhlandstraße, stadtauswärts rechts vom Hohenzollerndamm mit der U3 unterirdisch nach Dahlem zur Freien Universität, herrscht tiefer Berliner Westen mit einer gewissen Schriftsteller*innen-, Akademiker*innen- und Künstler*innendichte, wo Catherine Nicely ihren Literatur- und Kunstverlag PalmArtPress seit 2008 zwischen Buchhandel, Galerie und Salon etabliert hat. In den gerade eingerüsteten Räumen – runterherum unweit der Landesbank Berlin werden Kriegsbaulücken bebaut, geschlossen, wird neu gebaut und saniert – der Hausnummer 69 haben sich am sommerlich temperierten Abend des 13. April, einem Samstag, ca. 50 Personen eingefunden, die von der Verlegerin, Wolfgang Nieblich u.a. oft persönlich begrüßt werden. Catharine Nicely lässt ihre PalmArtPress-Community eintauchen in die jüngst erschienen Zukunftswelten zweier Autoren: Volker Kaminski und Wolfsmehl.

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Wolfsmehl ist ein beziehungsreiches Autorenpseudonym, wie sich in diesen Räumen überhaupt ein literarisches Beziehungsnetz der Mehrdeutigkeiten ausspinnt. Wolfsmehl? Wolfsmehl? Ohne Vorname. Name als Programm und Fingerzeig? Letterntausch m statt k: Wolfskehl. Karl Wolfskehl war ein deutscher Lyriker (1869-1948). George-Kreis. Beziehungsfäden zwischen Worten. So auch im Verlagsnamen der in Ohio geborenen, Deutsch in der Schule, von Deutschland faszinierten literatur- und kunststudierten Verlagsgründerin Catharine Nicely. PalmArtPress, klar! Palme. Steht sogar eine Palme im Galerieraum. Nein, nicht nur! Johann Philipp Palm auch, der Erlanger Buchhändler und Nürnberger Apothekersohn, der 1806 auf Napoleons Dekret hin als Autor einer deutschen Freiheitsschrift erschossen wurde. Motto: IN ADVERSIS VIRTUS. Deutsch: Stärke in der Not oder auch anders mit Männlichkeit und Freiheitsdrang übersetzt. Übersetzungsbewegungen.

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Am Lesepult hängt gerahmt als Motto das gestickte Palm-Wappen: Eule mit ausgebreiteten Flügeln auf Krone, horizontal links und rechts Palmwedel – Stechpalme? – darunter wieder Eulen wie Schilde, Palmenkrone, IN ADVERSIS VIRTUS PALM. Catharine Nicely zählt Johann Philipp Palm zu ihren entfernten Vorfahren. In Ohio mit den Großstädten Cleveland, Cincinnati, Toledo, Akron und Dayton mit der Hauptstadt Columbus gab es viele deutschstämmige Einwanderer. Am Denkmal für Friedrich Ludwig Jahn in der Hasenheide gibt es eine Plakette der „Turngemeinde Cincinnati, Ohio.“ von 1865. Der Turnvater schrieb sich ebenfalls die Freiheit in schwierigen Zeiten auf die Fahnen seiner Turnübungen. In ihrem Verlag kommen für Catharine Nicely seit 2008 ihre unterschiedlichen Lebensbereiche zusammen. Auf Nachfrage, ob die Büchervorstellung zum „Fantastische(n) Realismus“ (Wolfsmehl) mit dem Imbiss, Getränken und Gesprächen für sie eine Art Salon[1] sei, bestätigt die Verlegerin erfreut, dass sie gern Gastgeberin sei.  

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Zu den ersten Veröffentlichungen im Verlag PALMARTPRESS gehörten die beiden Bände Auf Beton I und II von Wolfgang Nieblich, bei denen es um Öffentlichkeit geht. Auf Beton ist Berliner Stadtkunst, Streetart aus dem Moment.[2] Seit 2013 beschriftet der Buchkünstler Nieblich an der Schnittstelle von Bildender Kunst und Literatur Halterungen für oberirdische Behelfsleitungen, wie sie seit Jahren überall in Berlin wegen Sanierungsarbeiten über längere Zeit aufgestellt wurden, aus Beton. Von Seneca bis Sartre wurden Aphorismen zur Öffentlichkeit auf die vier Horizontalseiten der Halterungsblöcke aus Beton vom Künstler geschrieben. Brutalistische Adhoc-Betonkunst im öffentlichen Stadtraum.[3] Nicely und Nieblich lieben das Medium Buch. Nieblich sitzt gar seit 2005 im Stiftungsrat der Stiftung Zentrum für Bucherhaltung. RUA 17 ist als Hardcover erschienen. Allerdings hat Wolfgang Nieblich trotzdem den Einblattdruck erfunden, von dem es mittlerweile der Zählung nach ca. 150 gibt. Der vierseitige Einblattdruck Nr. 10 ist mit dem Text Im Kaufrausch von Christoph Geiser[4] und einem Bild Dialektik und Ordnung von Nieblich erschienen.[5]  

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Der Singer-Song-Writer Herbert Dauksch-Maus eröffnet mit Who are you? an der Gitarre die Buchvorstellung. Gute Frage: who are you? Herbert ist bereits mehrfach bei Lesungen mit Volker Kaminski aufgetreten. Das Programm ist abgestimmt. Im Roman geht es schließlich um die Frage von Mensch oder Maschine. Was heißt Menschsein für die allgegenwärtigen humanoiden Assistenten?[6] Sind die Maschinen noch Maschinen? Pflegemaschinen in einer überalterten Gesellschaft. Volker Kaminski hat seinen Roman in das Jahr 2084 gelegt, sagt die Verlegerin in ihrer Anmoderation. 2084 ist quasi übermorgen. Die Zukunft steht schon in den Puschen. Wolfmehls Ideenfabrikant spielt ca. 50 Jahre später in den 2130er Jahren. Deine Zukunft ist näher als Du denkst. 2084 spielt auf 1984 von George Orwell an. Sechzigjährige werden sich vielleicht an ein gelindes Erstaunen erinnern, dass das Jahr 1984 weit weniger von einem totalitären System beherrscht wurde und weit weniger spektakulär verlief als die ausgerufene Zeitenwende.

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Volker Kaminski hat seinem Roman ein Glossar zu „Namen, Orten und Dingen in der Zukunftswelt“[7] im Anhang hinzugefügt. Die Zukunft wird immer von einer zukünftigen Sprache geprägt. Wie schnell kann es passieren, dass Leser*innen selbst zu Lebzeiten von neuen Sprachen und Praktiken heimgesucht werden?! Das ist so tiefgreifend und schlimm, dass die christsozial-freiwählerische Regierung im Freistaat Bayern nun trotz oder gerade wegen des ganzen Freien das Gendern in Schulen und Behörden verboten hat. Frei bleiben ohne gendern, was nie und nimmer ein deutsches Wort ist. Selbst dann nicht, wenn die KI des Word-Programms gendern im Deutschen akzeptiert. Also braucht es ein Glossar, mit dem sich nicht zuletzt der Titel entschlüsseln lässt:
„RUA: heruntergekommenes Altstadtviertel, zugewiesener Wohnort für Menschen ab etwa 55, Abkürzung für „Region Unter Assistenz“, überbevölkert; Bewohner der RUA = RUAner.“[8]

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Zur Eröffnung las Kaminski den Anfang des ersten Teils mit dem Titel „Die Assistenten“, in dem die Lebensverhältnisse der „unfreiwillige(n) Hauptfigur“[9] Meister in einer Wohngemeinschaft mit Assistenten und anderen Menschen über 55 geschildert werden. Es wird hin und wieder „ein Glas Favorit getrunken“[10] und „ein blau gekleideter Assistent“ berichtet Meister, dass „(n)ichts Ungewöhnliches“ passiert, „alles normal, fehlerfrei und sicher“ sei. Währenddessen bemerkt Meister „hinter der glatten, wächsernen, leicht transparenten Stirn des Assistenten (…) ein Flackern“.[11] Das „Flackern“ wie die Antwort verraten den Assistenten als humanoide Pflegemaschine, die ihn und die anderen Bewohner „sanft und träge machte“. Die am „SYSTEM“ angeschlossene Pflegemaschine hat gewissermaßen eine sedierende Wirkung, die zum Programm des „SYSTEM(s)“ gehört. In Zeiten eines Pflegenotstandes in vielen Industrienationen und so auch in Deutschland mögen die freundlichen, blauen Assistenten mit ihren fürsorglichen Fähigkeiten zunächst einmal utopische Züge bekommen. Alles normal, fehlerfrei und sicher. Doch zugleich fällt Meister auf, dass er und alle anderen möglicherweise „vergessen“ sollen.
„Nicht zum ersten Mal störte ihn die Arglosigkeit seiner Mitbewohner. Er war zwar gern mit ihnen zusammen, doch manchmal vermisste er ihren Willen zur Erkenntnis. Er hätte sie gerne aufgerüttelt, doch wollte er sie andererseits nicht beunruhigen.“[12]   

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Mit der Eröffnungssequenz wird von Kaminski im Reich des Zusammenlebens von Menschen und Maschinen eine Fährte gelegt, ob es sich hier um eine Utopie oder eine Dystopie handelt, weil Menschen wie Meister, Hölzer, Reeder, Braun und die am stärksten vergessliche Oma Ka nicht nur gepflegt, sondern von den Assistenten des Systems beherrscht und entsorgt werden. Die verkürzten Namen der Protagonist*innen entpersönlichen sie und machen sie ein wenig unheimlich. In der Übergangszone am Strand erinnert vieles an einen kalkulierten schönen Tod: Euthanasie. Obwohl Meister anfangs nichts davon ahnt, stört ihn „die Arglosigkeit seiner Mitbewohner“. Zwischen „Favorit“, Singen, Erinnerungskino und einem „karge(n) Dasein“, in dem „(a)lles (…) zunehmend karger wurde“ (S. 12) spielt sich das Leben in „Haus 1021“ ab. Meister fällt dieser Widerspruch auf. Doch zunächst lacht er mit den Anderen „ausgelassen“. (S. 13) Liest man schon Kaminskis Eröffnungssequenz, wie er sie las, und kennt sowohl das Vergessen von über 70jährigen und ihrem Medienkonsum im Liegen, hat die Zukunft längst begonnen. Kommen dann auch noch Kenntnisse über die Pflegesituation in Berliner Seniorenpflegeheimen hinzu, wird aus dem fantastischen Realismus ein nackter.

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Wird Meister ein Rebell im SYSTEM, Kaminski schreibt es immer in Majuskeln, werden? Entwickelt er einen Freiheitsdrang, um aus dem System auszubrechen? Wird er womöglich gar zum Systemsprenger? Liegt in seinem Arg eine Chance, um das System zu ändern? Zukunftsromane entstehen meistens, wenn nicht ausschließlich wie beim Science-Fiction-Autor Dietmar Dath aus einer vielschichtigen „Verknüpfung von Theoremen, Elementen und Diskursen“, wie es Stefan Willer bereits 2013 formuliert hat.[13] Bei Volker Kaminski lassen sich gut die aktuellen Diskurse zum Pflegenotstand, Pflegerobotern, Künstlicher Intelligenz, Rentenalter, Todeswünschen und -ängsten, gemeinschaftlichen Lebensformen, Massentourismus etc. identifizieren. Meister liest in seinen eigenen Notizen über die sogenannte „PORTA“ und das „CAMP“:
Das CAMP befindet sich in Nordafrika, so erzählt man uns. Ich meine mich an den Schriftzug KARTHAGO an einer Wand zu erinnern. Ein anderer Schriftzug lautete SCHLEMMEN TRINKEN LIEBEN. Weitere Plakate trugen Botschaften wie GREIF ZU, BEREUE NICHTS, SEI DU SELBST. Ein einstündiger Flug mit der Schnell-Transport-Linie (STL) hatte mich dort hingebracht.[14]

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Karthago? Warum Karthago, wenn Katar am Wüstenstrand schon alles inklusive Fußballweltmeisterschaft bietet? Katar und Saudi-Arabien bieten heute so viel, dass selbst Weltfußballer Christiano Ronaldo für al-Nassr FC spielt. Und der kriegt natürlich alles zum Schlemmen und Lieben. Der Strand in Nordafrika ruft heute beim Lesen widersprüchliche Assoziationen bis nach Arabien aus: in Seelenverkäufer steigende Flüchtlinge und vergoldete Steaks essende Promis im Strandrestaurant.
Eines Nachts bin ich Ballerina durch einen dichten schwarzen Wald hinunter zum Strand gefolgt. Ich erinnere mich, dass wir uns der PORTA näherten. In der Dunkelheit schimmerte der Torbogen silbern und erhaben in der Ferne. Ein Eingang tat sich vor uns auf, wir näherten uns, bis unsere Körper von der Schwärze geschluckt wurden und wir bis zur Brust ins Wasser glitten.“[15] 

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In der Eröffnungssequenz von RUA 17 geht es um die Zukunft. Volker Kaminski kristallisiert die Zukunft im „CAMP“. Dabei trägt es Züge von Berghain und Baumschulenweg (Krematorium). Doch die Grenzen zwischen Berghain und Baumschulenweg werden derart verwischt, dass der Bericht aus dem „CAMP“ für Meister ebenso verlockend wie ein Reiseprospekt als auch erschreckend ist. Die systematische Lösung des Überbevölkerungsproblems wie der Überalterung muss bestmöglich verkauft werden. Den „hohe(n) Preis“ wert sein. Die paradiesische CAMP-Beschreibung findet ihre Sprache zwischen petite mort, wie der Orgasmus im Französischen heißt, und dosiertem Drogenkonsum, während vom globalen, überwiegend jungen Berghain-Publikum so viel konsumiert wird, dass es schon gar nicht mehr zum petite mort kommen kann.
Was ist das CAMP? Überwältigung. Duft. Lust. Nichts wünschen wir uns sehnlicher als ein paar Wochen im CAMP zu verbringen. Die Sinne vergehen dir, der Taumel erreicht stündlich seinen Höhepunkt. Berührungen, Stöße, Singen, Saugen, Miauen, wilder Tanz, das Derwisch-Programm, (…) die Hände auf dem nackten Körper, die weißen Handschuhe der Assistentin, die perfekte Anpassung an die Altersgruppen, das Schlangenspiel mit den Mädchen, das Trinkgelage am rauschenden Grottenbrunnen, der perlende Platinwein, der Übergang ins Weißlicht, die personalisierte Dosis Morpheus-Bowle, das Ableben im Hymnensaal, die Veilchen- und Rosenbank, das Ende-so-nah-Erlebnis, das Auffahren ins neue Leben, die grünen Auen.[16]   

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Das lässt sich als Diskurs des Hedonismus im Berghain mit Panoramabar lesen, wo richtig teure, riesige Gemälde im Laserlicht bei 110 Dezibel aufflackern. Echte Biskys schon im Eingangsbereich hängen. Sorry, wer nicht weiß, was Biskys sind: Der Maler Norbert Bisky dürfte bereits mit zukünftigen Gemälden auf Lebzeit ausverkauft sein. Seine bunten Ölgemälde u.a. aus der Club-Szene kursieren zu Höchstpreisen global im Kunstmarkt. Allerdings verkehren im Berghain alle Geschlechtsvarianten fließend, was bei Kaminski leider völlig binär formuliert wird. Und das hat nichts mit queerer Literatur zu tun, sondern diskursiver Zukunftsvernetzung bzw. Vernetzung der Diskurse für eine Zukunft. In den Berliner Clubs mit globalem Publikum wird kaum noch zwischen queer und hetero unterschieden. „No Ageism. No Rassism. No Sexism.“ etc. steht irgendwo gerahmt im KitKat Club. Zur CarneBall Bizarre-KitKatClubnacht liegen hunderte Menschen aller Geschlechter am Swimmingpool, in den Nackte aus der Sauna kommend springen jeden Samstag für 20,- €. Da bleibt das CAMP mit seiner Altersdiskriminierung wie seinem Sexismus hinter zurück.

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Der Hedonismus kann sich in ein Freiheitsproblem verwandeln. Denn im Berghain und KitKat muss er durch strenge Kontrollen bis zur Leibesvisitation am Eingang ermöglicht werden. Mitarbeiter*innen der Clubs kontrollieren während der Partys, dass keine verbotenen Substanzen verkauft werden oder sich Gäste übergriffig verhalten. Wer sich nicht daran hält, wird mit lebenslangem Hausverbot bestraft. Praktizierte Freiheit lässt sich kaum ohne Kontrolle leben.[17] Ein Konsens über die Freiheit muss eingehalten werden, was sich gerade im Grenzbereich zwischen Bouncer bei der Einlasskontrolle und Kontrollgängen in der Berliner Clubszene quasi täglich zeigt. Aus diesem Kontext wird das Freiheitsproblem im Roman RUA 17 ein wenig schlicht mit Todesdrohungen beseitigt, wenn Grandin Bäumer droht:
„„Ich werde mit Ihnen nicht über Freiheit diskutieren!“ Im Aufstehen beugte er sich noch einmal zu ihm hinunter. „Sie werden nicht mehr lange Gelegenheit haben mich zu ärgern, Bäumer, das verspreche ich Ihnen. Diesmal lasse ich den Assistenten freie Hand. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, sind Sie Asche!““[18]

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Die Freiheit und die „freie Hand“ der mit dem System verschalteten Assistenten blenden einen anderen Aspekt der Zukunft aus, der an Berghain und KitKat Club als große Geldmaschinen deutlich wird. Die utopische Freiheit der Clubs generiert hohe Geldsummen bei fast demokratisch niedrigen Eintrittspreisen. Im globalen Vergleich bieten die Technoclubs in Berlin eine einzigartige Kultur der „Freiräume“, so dass sie 2024 zum Immateriellen Kulturerbe der Unesco in Deutschland erklärt worden sind.
„Bei der Technokultur in Berlin handelt es sich nicht nur um eine spezifische Musikstilrichtung, sondern auch um einen gelebten Gegenentwurf zu klassischen Praktiken des Musikhörens. In Deutschland etablierten sich Mitte der 1980er Jahre die Frankfurter und Berliner Clubszene. Aus der in vorherigen Jahren entstandenen DJ-Kultur wurde Techno zum Soundtrack der Aufbruchstimmung nach der Wende. Die entstandenen Freiräume verhalfen zur Etablierung der Techno- und Clubszene, die in Berlin so präsent ist.“[19]

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Die literarische Verknüpfung der Diskurse im Namen der Zukunft ist bei aller Erzähldramaturgie in RUA 17 nicht einfach, weil sie sich immer auch an der Gegenwärtigkeit der Diskurse messen lassen muss. Wolfsmehl schlägt für seine Zukunftserzählung in Der Ideenfabrikant einen anderen Weg ein. Die Kombinatorik der Begriffe führt zu utopischen Formulierungen, wenn es schon zu Anfang heißt:
„Die Pulte türmten sich in die Tiefen der Gedankenhalle. Die Reihen bildeten Jahresringe. Über dem Nordtor, dessen inwendiger Fortlauf das Wirrwarr wie eine Hauptschlagader durchzog, prangte eine schwarze Eisentafel. Die Buchstaben blitzten in goldener Schrift.

Diese Ideenfabrik wurde von Seiner Exzellenz,
dem Weltbotschafter Dr. Webwablü,
am 30. Januar im Jahre 2133
in Betrieb genommen.“[20]

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Die eröffnende Wiederholung des Datums der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg 1933 lässt aufmerken. Wie wird Wolfsmehl damit verfahren, was an dem schwierigen historischen Datum vor 200 Jahren begann? Er wendet die Sprache durch eine schwindelerregende Kombinatorik ins Fantastische. Wenn es gleich nach der Eröffnung heißt:
„Die Manege, ein mit dem Mehl zerriebener Gehirne bedeckter Kreis, trug die Arbeitsplattform des Produktionsleiters Orplid, die auf einem turmhohen Mast ruhte, der durch zahlreiche Sprossen zu erklimmen war und auf dem man im Schnittpunkt Hunderttausender von Augen thronte. Von dieser Höhe aus schrumpften die Antreiber zu Bleistiften, die Arbeiter zu Grashalmen und die Pulte zu Nussschalen.“[21]

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Die Gigantomanie der Architektur eines Albert Speer für Berlin mit einzigartigem Schwerbelastungskörper[22] zum Test der Statik im Urstromtal der Spree wird von Wolfsmehl „mit dem Mehl zerriebener Gehirne“ in Aberwitz und Schrecken gewendet. Damit wendet sich zugleich die Geste der Beschreibung und Berechnung ins Unsinnige. Gerade die sprachlichen Praktiken, die Sinn und Größe herstellen sollen, gipfeln in einer aberwitzigen Hierarchie. Auf diese Weise können im Text Der Ideenfabrikant mit seinen den Namen nach Produktionsleiter, Antreiber und Arbeiter Menschen durchschimmern. Doch zugleich flackert das „AI-powered language model“-Schreibprogramm ChatGPT auf.[23] Lexik, Syntax und Grammatik sind zwischenzeitlich so effizient programmiert, dass sie einen Zukunftsroman binnen Sekunden, allenfalls Minuten schreiben können. Was mit der Figur des Fabrikanten aus dem 19. Jahrhundert noch als menschlich evoziert wird, leistet als Open AI eine Maschine.

Torsten Flüh

Volker Kaminski
RUA 17
Seiten: 330
Hardcover 14 x 21 cm
Umschlag: Wolfgang Nieblich
Sprache: Deutsch
Erschienen: Oktober 2023
ISBN: 978-3-96258-144-2
Preis: 25,- €

Wolfsmehl
Der Ideenfabrikant
Klappenbroschur 10,5 x 14,8 cm
Sprache: Deutsch
Erschienen: Mai 2023
ISBN: 978-3-96258-139-8 
Preis: 15,- €


[1] Zum Salon siehe: Torsten Flüh: Gespräche – Bettina von Arnim. In: ders.: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 79-99.
Und: Torsten Flüh: Neues von den Berliner Salonièren. Zu Private Thursday, Wikimedia-Salon und zur Salonforschung von Hannah Lotte Lund. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. Juni 2014.

[2] Wolfgang Nieblich: Auf Beton II. Berlin: Palmartpress, 2014. (Verlagsseite)

[3] Zum Brutalismus siehe: Torsten Flüh: The Beauty and The Logic of Brutalism. Zur Zukunft der Wissenschaft anhand des Brutalismus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2021.

[4] Zu Christoph Geiser siehe auch: Im Netz der Literaturen. Über die kaum sommerliche Veranstaltung Kleine Verlage am Großen Wannsee und Friedrich Kröhnkes politischen Jugendroman Spinnentempel. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Juli 2023.

[5] Wolfgang Nieblich: Einblattdruck Nr. 10. Berlin: Palmartpress, ohne Jahr. (Verlagsseite)

[6] Zur Frage der Conditio Humana, des Menschseins oder der Menschlichkeit siehe auch: Torsten Flüh: Müssen wir Menschlichkeit neu bestimmen? Zur Konferenz Humanity Defined: Politics and Ehtics in the AI Age des Aspen Institute Germany. In: NIGHT OUT @ BERLIN 13. April 2019.

[7] Volker Kaminski: RUA 17. Berlin: Palmartpress, 2023, ohne Seitenzahl (S. 4).

[8] Ebenda S. 329.

[9] Ebenda S. 327.

[10] Ebenda S. 9.

[11] Ebenda S. 8.

[12] Ebenda S. 12.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Von den Anfängen des Universums und dessen Verabschiedung. Zum Semesterthema Across the Universe. Aktuelle Blicke ins All der Mosse-Lectures im Tieranatomischen Theater der Humboldt-Universität zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Mai 2013.

[14] Volker Kaminski: RUA … [wie Anm. 7] S. 14-15.

[15] Ebenda S. 14.

[16] Ebenda S. 15.

[17] Zum KitKat Club, der kürzlich sein 30jähriges Jubiläum feierte, als Freiheitsprojekt aus der SM- und Fetischszene von Simon Thaur und Kirsten Krüger wäre noch mehr als zum Berghain.

[18] Die Schreibweise der Anrede in direkter Rede mit Großschreibung, nimmt der Berichterstatter als ungewöhnlich wahr. Oder sollte hier eine widersprüchliche Höflichkeitsform markiert werden. Ebenda S. 267.

[19] unesco Deutsche Unesco-Kommission: Immaterielles Kulturerbe: Technokultur in Berlin. (Aufnahmejahr 2024)

[20] Wolfsmehl: Der Ideenfabrikant. Berlin: Palmartpress, 2023, S. 5.

[21] Ebenda S. 6.

[22] Zum Schwerbelastungskörper siehe: Torsten Flüh: Angst und Schrecken der Nord-Süd-Achse. Zur Lesung SCHWER BELASTUNGS KÖRPER im Kontext der Ausstellung Macht Raum Gewalt in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Juli 2023.

[23] Siehe Bing Search ChatGPT.

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