Auf dünnem Eis

Generation – Reden – Übertragung

Auf dünnem Eis

Zur gefeierten Deutschen Erstaufführung von Falk Richters The Silence an der Schaubühne

Am 19. November feierte The Silence seine Deutsche Erstaufführung an der Schaubühne am Lehniner Platz mit Dimitrij Schaad als Falk Richter in der Regie von Falk Richter. Der Erfolg ist nicht zuletzt Doris Waltraud Richter als sie selbst zu verdanken, weil der Berichterstatter in den Videoeinspielungen zunächst dachte, dass es eine tolle Schauspielerin sei, die Falk Richter im Wohnzimmer in Buchholz in der Nordheide als seine Mutter interviewe. Frau Richter wird ebenso hintergrundfüllend beim täglichen Kraulen im Freibad eingespielt. Was die Frau, die wenig spricht, die oft geschwiegen hat, für eine Energie im hohen Alter von schätzungsweise über dem 80. Lebensjahr hat! Ziemlich gegen Schluss sagt diese Frau, die kaum eine Schulbildung wegen des 2. Weltkrieges genossen hat, sie hätte vielleicht Ärztin werden wollen.

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Falk Richter verhandelt in seinem Stück über das Schweigen in seiner Familie generationelle Übertragungen, die sich im eigenen Verhalten fortsetzen und das Ich  bilden. Denn: „Die Zeit ist nicht linear.“ Die Frage der Akzeptanz als queerer Sohn durch die Eltern ist dabei ebenso wichtig, wie das politische Verhalten der Schweigenden, wenn es oft in der Formulierung einer schweigenden Mehrheit benannt wird. Falk Richter hadert mit seiner Familie, dem Vater, der Mutter und der älteren Schwester auf ebenso witzige wie tiefgründige Weise. Dramaturgisch ist die Frage nach der „Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität“ berührend und bravourös durchgearbeitet. Immer wieder gibt es noch einen Turn. Wenn z. B. der Schauspieler Schaad als Ich-Autor bemerkt, dass es mit dem Schweigen bei ihm als 1985 in der Sowjetunion Geborenen und Deutschen doch noch viel schlimmer sei.

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Die blitzschnellen Wendungen im Theatertext und seiner Performance sind gewiss eine eigene Kunst Falk Richters in seinen Stücken und Inszenierungen. Timing. Die Figur des Vaters wird von ihm wie schon im Januar 2020 mit In My Room im Gorki Theater in unterschiedlichen Konstellationen durchgespielt. 2016 trat er mit Fear an der Schaubühne[1] eine politische Debatte und einen Gerichtsprozess über die Freiheit der Kunst auf dem Theater los. Eine gewisse Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, prozessierte gegen den Theatertext. 2017 inszenierte er Elfriede Jelineks Theatertext zu Donald Trump, Am Königsweg[2], als schmerzhaft aktuelle Ödipus-Show am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Twists durchziehen Falk Richters Texte und Inszenierungen. Zugleich legen sie das Stethoskop an die aktuellen Debatten der deutschen und europäischen Gesellschaft. Zuletzt hat er in Straßburg und Kopenhagen gearbeitet und inszeniert. Mit Dimitri Schaad, der im Januar 2023 den Hamburger Ulrich-Wildgruber-Preis für seine außergewöhnliche darstellerische Arbeit erhielt, hat er mehrfach zusammengearbeitet.

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Auf der Bühne (Katrin Hoffmann) breitet sich eine Landschaft mit weißen Gartensteinen, getünchten Backsteinmauern und einer vom Wind schief gewachsenen Birke, wie man sie aus Norddeutschland kennt, aus. Eine Art Indianerzelt, vorne rechts ein Schreibpult, an dem der Schauspieler als Autor schreibt. Die Landschaft mit der Projektionsfläche für die Videos (Lion Bischof) aus Buchholz in der Nordheide mit gehobenem Eigenheim und Carport, Wohnzimmer, Schwimmbad und Wiesenlandschaft mit Baum, an dem Falk Richter lehnt, um die Mutter zu fragen, was sie in ihrem Leben gern hätte werden wollen, visualisiert zugleich ein Innenleben. Es ist ein beredtes Schweigen, das aus dem Eigenheim mit Hecken spricht. Sehr deutsch und durchaus von gewisser Repräsentanz. Deutscher Mittelstand. Unverwechselbar. Buchholz in der Nordheide liegt nicht nur in der Nähe von Hamburg, vielmehr lässt es sich zwischen Flensburg und dem Tegernsee mit einer gewissen Stilsicherheit überall finden.

© Gianmarco Bresadola

Das Individuelle und das Generationelle korrespondieren wenigstens miteinander. Das Generationelle erschöpft sich nicht in der Generation als Altersgruppe wie die der Mutter, vielmehr hat es eine oft schwer abzugrenzende Geschichtlichkeit. Ganz genau lässt sich die Zugehörigkeit zu einer Generation, wie sie aktuell von der Generation Z oder Letzten Generation gesellschaftlich bestimmt wird, nicht eingrenzen. Generation Golf, Generation Z, Boomer etc. sind generationelle Schlagworte und Kampfbegriffe. Man könnte in Deutschland auch von einer Generation Tschernobyl und Generation AIDS sprechen. COVID, Sars-Cov-2 hat es bedenkenswerterweise noch nicht zur Generationalität gebracht. Eine Generation lässt sich schwer verallgemeinern.[3] Die Traumatisierung durch fast 3 Jahre COVID-Pandemie, also leben in Angst und Schrecken, war nun wirklich nicht ohne. Kommt auch bei Falk Richter nicht vor. Irgendwie weggerutscht. Oder zu frisch? Nie geht das Individuelle ganz im Generationellen auf und viceversa.
„In meiner Familie wurde unentwegt geredet, und doch war all das Reden wie ein GROSSES SCHWEIGEN und dieses Schweigen konnte unerträglich laut werden. Ich saß oftmals da, müde, kraftlos und sagte nichts mehr, da alles, was ich erzählte, alles, was ich war, an diesem Ort falsch erschien, und ich verschwand, war körperlos nicht mehr lebendig, wie ausgeschaltet.“[4]   

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter unternimmt eine Art Forschungsreise in das „GROSSE SCHWEIGEN“, weil es ihn mit dem Gefühl des „falsch“-seins verletzt hat. Es bleibt unklar, ob seine Mutter wirklich weiß, was ihr Sohn macht und in welcher Liga – „Schaubühne, Bayern München der deutschen Theater“ – er spielt. Sie erklärt sich das „GROSSE SCHWEIGEN“ am ehesten noch als ihre Normalität, in der sie lebte und lebt. Falk Richter zeigt dafür im Video ein deutliches Unverständnis. Im Lebensabend oder wie man das Alter über 80 nennen will, wenn es einem denn vergönnt ist, so alt zu werden, mag es erscheinen, dass man nicht anders hätte leben können und wollen. Zumindest Falk Richters Mutter, aber ganz bestimmt nicht nur bei ihr, wird eine Ratlosigkeit darüber formuliert, wie es denn hätte anders sein können. Ein Protest war bei den 1933 und später Geborenen nicht vorgesehen. Vereinzelt gab es ihn. Aber dann störte er in der Normalität.
„Ein Beispiel: das Auftauchen der Kriegskinder. Ihr Schicksal wurde 60 Jahre nach Kriegsende erstmals von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Vorher hatten sie im gesellschaftlichen Bewusstsein keinen Platz. (…) Eine Redakteurin fragte mich, als wir über den Kongress sprachen, ob es sich hier nicht um ein Modethema handeln könne, und mir entfuhr der Satz: »Wer beschäftigt sich schon freiwillig mit so einer Scheißzeit!«“[5]  

© Gianmarco Bresadola

Das Private wird von Falk Richter als politisches formuliert und analysiert. Genau in dieser Form des Eigenheims im bundesdeutschen Mittelstand. Dieses Private reicht bis in das Sexuelle und die sexuellen Praktiken. Der Auftrag der familialen Reproduktion wurde gleichsam als Befehl akzeptiert und ausgeführt. Wie weit reichte er? Sagen wir ein junger Soldat G. wird in Festungshaft gesetzt wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen und darf sich „im Feld“ unter signifikanten Kriegsverletzungen bewähren.[6] Doch G. wählt nach dem Krieg keine andere Lebensform als die heterosexuelle, macht als Literaturmensch eine Verlagskarriere mit der Schiller-Gesellschaft, zeugt Töchter und unterstützt das Calligrammes von Fritz Picard in Paris.[7] Er wird politisch aktiv in der CDU und tanzt mit seiner Gattin auf dem Bundespresseball in Bonn am Rhein stolz an der Seite von Helmut Kohl. Er sucht Kontakt zu jüngeren Männern. Als Landrat in den neuen Bundesländern beendet er seine politische Karriere.
„Die »schweigende Mehrheit«, das ist ein bequemes Konstrukt, in dem viele der Demokratie abträgliche Phänomene versteckt sind, wie: die Erfahrung der Undurchschaubarkeit politischer Prozesse, die soziale Kontrolle, die politisches Engagement schon in seinen Anfängen negativ bewertet, die erlernte Hilflosigkeit, mit der sich abzufinden viele Menschen früh gelernt […].“[8]

© Gianmarco Bresadola

Wahrscheinlich wurde nie lauter geschwiegen als in der Ära Kohl 1982-1998. Insofern ist die generationelle Erzählung G.s nicht nur als Selbsterzählung exemplarisch. Die Normalität besteht eben in der Erfüllung einer Norm, so obsolet sie auch geworden sein mag. Kohl, möchte ich formulieren, speiste seine dreimalige Wiederwahl aus einem Schweigegebot, dessen breiten Konsens er sich vergewissern konnte. Alte und älteste Netzwerke wie Burschenschaften konnten sich nach `68 konsolidieren, ohne auch nur in Frage gestellt zu werden. Es ist nicht zuletzt jene Zeit der Eigenheime, die Falk Richter anspricht, wenn er in einer Videosequenz von seiner ersten Liebe für einer Jungen erzählt, die bei den Eltern nur auf Unverständnis, Ablehnung, ja, Abwehr stößt. Warum? Nach `68 und der Sozialliberalen Koalition gab Kohl die Devise aus: Ihr müsst Euch nicht ändern! Schweigt weiter! Pennt weiter. – Dafür erhielt er seine Mehrheiten. Plötzlich wurde `89 sogar noch G. gebraucht. Die Mehrdeutigkeit des gebotenen Schweigens formuliert ebenso Falk Richter:
„»>To silence someone< beschreibt im Englischen den Prozess, jemanden zum Schweigen zu bringen, es ist ein aktiver Vorgang: Nicht-Sprechen, das Schweigen muss aktiv hergestellt werden. >To silence someone< ist ein gewaltsames Unterdrücken einer unliebsamen Stimme. Jemandes Geschichte soll nicht erzählt werden, jemandes Zeugenschaft soll nicht gehört werden, jemandes Erinnerung soll ausgelöscht werden.«“[9]  

© Gianmarco Bresadola

Falk Richter beherrscht es, als Autor und Regisseur Kernfragen der politischen und wissenschaftlichen Debatten en passant so zu formulieren und servieren, dass die geschulten Zuhörer*innen allenfalls getriggert werden und alle anderen einfach nicht hinhören müssen. Die Frage nach der Unterscheidung von „Literatur, Autofiktion, Fiktion“ und „Realität“ bleibt vage. Ganz ohne „Fakten“ erodiert wie in den Narrativen von Donald Trump jegliche Belastbarkeit von Wissensformationen. Die Rettung vor den unablässigen Lügen des Präsidenten Trump bestand nicht allein in den „Fakten“ beispielsweise zum Ursprung des Sars-CoV-2 bei Menschen durch Zoonose, was tatsächlich bis auf den heutigen Tag nicht einwandfrei bewiesen werden konnte, sondern in der klaren Formulierung eines harten Nichtwissenkönnens. Denn Trump wollte „unbedingt eine Frage beantworten, weil er es als Demonstration seines Wissens und seiner Macht praktiziert, (einfache) Antworten auf komplexe Fragen zu geben“.[10]
„Egal, wie sehr ich mich darum bemühe, an den Fakten entlangzuschreiben, ehrlich und wahrhaftig zu sein? Ist all das hier eben doch nur … Literatur, Autofiktion, Fiktion und keine Realität?“

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Die Realität ist ein unzulängliches Argument. Denn die Realität der Eltern Richter war die Reproduktion. Gerade die COVID-Pandemie hat vorgeführt, dass eine nicht geringe Zahl von Menschen einer gegensätzlichen Realität folgen können, die als Verschwörungstheorien prominent wurden. Sagen wir ruhig, dass sich Millionen nicht impfen ließen, weil sie eine andere Realität wahrnahmen, in einer anderen Realität leben. Fakten und Argumente selbst nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation mit Beatmung änderten überhaupt nichts an der Realität dieser Menschen. Sie wollen sich weiterhin nicht impfen lassen, weil … Deep State etc. Trump hat nie zugegeben, dass er eine Infektion als Präsident hatte. Es wird weiterhin gern mit Fakten und Realität im Unterschied zu Literatur, Autofiktion und Fiktion argumentiert, gesprochen. Doch das dünne Eis der Fakten und Realität für eine deutsche und europäische Gesellschaft hat Risse bekommen, das ist während der Pandemie offenbar geworden. Die Folgen sind noch nicht abzusehen. Ebenso werden Putins Angriffsdrohung auf die westliche Zivilisation, der völkerrechtswidrige Angriff auf die Ukraine, die UN-Charta wurde gebrochen, der Hamas Terror an israelischen Zivilisten und die Politik der Auslöschung des Staates Israel als Repräsentanten westlicher Werte geleugnet. Realität? Welche?

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Falk Richters The Silence mit Dimitrij Schaad ist queer theater, owohl es über weite Strecken gar nicht so scheint. Eine Dramaturgie des Queeren ist einerseits immer noch nicht selbstverständlich. Andererseits hätte Falk Richter vielleicht gar nicht an die Debatte der Kriegskinder und der Geschädigten anknüpfen können, wenn er nicht selbst eine queere Haltung eingenommen hätte. Schwule Orientierung ist immer noch einer Rechtfertigung gegenüber der Norm unterworfen. Warum anders – und nicht nach der Norm? Nach der Norm lebt es sich doch bisweilen bequemer und sicher. Man wird auf der Straße nicht angepöbelt oder gleich auf der Sonnenallee zusammengeschlagen, weil ein Palästinenser einen Iraker für schwul hält. In den Debatten der Community wird es bestimmt Stimmen geben, die den Autor und Regisseur viel zu sehr einen Cis-Mann finden. Also einem biologischen Mann, der sich als Mann artikuliert. Das hieße dann in etwa, dass er nicht queer genug agiert. Doch Richter und Schaad ebenso wie Schaad als Richter mit Plattensammlung, also Vinyl – eURYTHMICs – Sweet dreams … – legen es auch darauf an, dass sich nicht nur queere Aktivist*innen mit dem Thema beschäftigen können. – Ein großartiger, abwechslungsreicher und berührender Theaterabend sozusagen beim Bayern München.

Torsten Flüh

schaubühne
The Silence
von Falk Richter
Regie: Falk Richter
weitere Aufführungen   
17. Januar 2024 (Ausverkauft)
18. Jaunar 2024 (Ausverkauft)


[1] Torsten Flüh: Das Nachleben der Diskursfriedhöfe. Falk Richters Fear an der Schaubühne am Lehniner Platz. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. Mai 2016.  

[2] Ders.: Oedipus‘ Tragedyshow. Falk Richter inszeniert Elfriede Jelineks Am Königsweg in der Uraufführung als Tragedyshow. NIGHT OUT @ BERLIN 1. November2017.

[3] Siehe zur Frage der Generation auch: Torsten Flüh: Generationenwechsel per Gong im LCB. Zu XYZ-Casino: Drei Generationen Erbe im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. April 2023.

[4] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The Silence. (Programmheft) Berlin, November 2023, S. (ohne Seitenzahl) S. 14.

[5] Sabine Bode: Kriegsspuren: Die deutsche Krankheit German Angst. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … S. 9.

[6] Die hier kolportierte Erzählung, oral history, aus den 80er Jahre gibt einen Wink auf die Praktiken der Verfolgung in der Wehrmacht in Korrespondenz mit der Polizei: Torsten Flüh: Wie Homosexualität zum Feind des Staates gemacht wurde. Zum Vortrag von Ralf Kempe, Erster Polizeihauptkommissar Polizei Berlin, über die Ermordung von 4 schwulen Polizisten auf dem Polizeiübungsgelände in Spandau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 30. Juli 2023.

[7] Siehe: Une Éducation sentimentale et imaginaire. Ulrike Ottinger erhält die Berlinale Kamera und zeigt Paris Calligrammes als Weltpremiere auf der Berlinale 2020. In. NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2023.

[8] René Reichel: Die dunkle Seite des Schweigens. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] S. 4-5.

[9] Falk Richter: The Silence. Zitiert nach: Schaubühne Berlin: The … [wie Anm. 4] (ohne Seitenzahl) S. 26.

[10] Siehe: Torsten Flüh: Fledermäuse, Pangoline, Labore und die Gattung Homo sapiens sapiens. Wie Verschwörungstheorien Sinn stiften und Narrative vom Patient Zero bis zur Artengrenze übertragen werde. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. April 2020.

Stark abrasiert

Soldat – Ordnung – Krieg

Stark abrasiert

Zu Bridge Marklands bemerkenswertem woyzeck in the box

In der Box sitzt der Hauptmann mit dem Handtuch um den Hals und lässt sich über die Zeit quatschend vom Soldat Woyzeck mit dem Messer die Stoppeln abrasieren, als sei es King Cut auf der Gerichtstraße oder Salon Al Amir auf der Sonnenallee. Ein Soldat rasiert seinen Hauptmann, der ihm seine Lebenszeit vorrechnet. Er soll langsamer rasieren, weil die genaue Zeiteinteilung, wie sie sich in den 1830er Jahren aus den neuen Fabriken, Maschinenbauanstalten und Eisengießereien in das Leben fräst, den modernen Menschen strukturiert und diszipliniert. Was sollte der Hauptmann auch mit den 10 Minuten anfangen, die ihm von Woyzeck geschenkt würden. Das Leben des Hauptmanns wäre buchstäblich aus dem Takt geraten. Das Uhrenticken aus Madonnas Song Hung Up unterstreicht die Angst des Hauptmanns um sich selbst.

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Der moderne Mensch hängt vom Timing nach dem Uhrenticken ab.[1] Woyzeck ist Soldat und ein Exemplar dieses um 1800 neuartigen Menschen. Wer wird in Deutschland Soldat?! Wer ist „Goldstaub“? Heute gibt es Friseure in Deutschland und Berlin, die als Soldaten gegen den IS, Islamischen Staat, gekämpft haben. Sie sind traumatisiert, wie es womöglich Woyzeck war. Aber wer macht sich über die Traumatisierung von Soldaten Gedanken? Als Georg Büchner sein Drama Woyzeck schrieb, entwickelten sich gerade die Kenntnisse von psychischen Verletzungen und Erkrankungen. Ein Trauma, das ein eigenes Timing gegen die neue Zeiteinteilung entwickeln könnte, das immer wieder zu ungünstigen Zeiten zum Zuge kommt, ließ sich kaum denken. Woyzeck ist, wie man sagt, mundfaul und rasiert hastig. Welche Uhr tickt in Woyzeck? – Und welche in Dir, liebe Leser*in?

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Bridge Markland hat mit ihrem classic in the box-Format als One Woman-Show mit Puppen ein eigenes Genre und Werk geschaffen: leonce und lena – in the box, ratten – in the box, Pension Schöller – in the box, nathan – in the box. Seit dem 24. November gibt es jetzt woyzeck in the box innerhalb von 75 Minuten. Das ist ganz große Kunst im Einzelformat der box, die höchst aufwendig und hochprofessionell produziert wird. Durch die ständigen Kostüm-, Rollen- und Geschlechterwechsel ist das Format drag und queer. Die Geschlechter werden im Konzept, Spiel und in Co-Regie von Bridge Markland mit dem Dramaturgen und Co-Regisseur Nils Foerster herausgearbeitet. Eva Garland hat wiederum bestechend prägnante wie charakterstarke Puppen und Kostüme gefertigt. Mehrere Schauspieler*innen haben die Rollen eingesprochen. Die Kombination aus Puppen, Popmusik und Playbacktechnik macht Marklands Klassikinszenierungen einzigartig. Die Puppen beginnen zu leben und zu erzählen.

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In Georg Büchners Woyzeck geht es um den Soldaten als Existenzform und das Konzept Mann in der Moderne, was Markland als queere Künstler*in unvergleichlich spielerisch vorführt. Im Wechsel der Geschlechter z.B. zwischen Woyzeck und Marie werden diese als Konstruktionen aus Einzelanfertigung und Sprache vorgeführt. Soldaten in Uniform werden in ihrer Erscheinung oft begehrt. Woyzeck ist ein einfacher Soldat, Infanterie, in der Hierarchie der Armee. Soldaten wünschen sich wie Woyzeck eine Familie, die sie kaum ernähren können, Frieden, Harmonie und Treue von der Frau. Zugleich führen Soldaten wie nun z.B. russische in der Ukraine oder anderswo andere durch Vergewaltigungen von Frauen Krieg. In der Schaubühne wurde das mit ukrainischen Schauspielern im Format Dokumentartheater im September 2022 zum Thema. Die Figur des Soldaten ist komplexer, als gemeinhin gedacht wird.

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Die Figur des Woyzeck als Soldaten hat über die mehr als 100jährige Aufführungsgeschichte mancherlei Wandlungen z.B. durch Klaus Kinski erfahren. Bei Bridge Markland ist Woyzeck nicht nur eine tumbe Figur, sondern auch ein Rebell, was das Collagieren mit Popmusik wie dem Dance-Pop von Hung Up, aber auch der Neuen Deutschen Härte von Eifersucht der Band Rammstein oder dem Post-Punk von Z.N.S. von Einstürzende Neubauten herausstreicht. Mit dem melancholisch-chansonesken Am ersten Sonntag nach dem Weltuntergang von Element of Crime aus dem Jahr 1994 wird die von Rammstein verstärkte Eifersucht – „Es kocht die Eifersucht“ – Woyzecks nicht zuletzt wegen der zu entrichtenden GEMA-Gebühren zehntelsekundengenau verstärkt.
„Woyzeck: Eine Sünde so dick und so breit – es stinkt, daß man die Engelchen zum Himmel hinausräuchern könnt‘!
(Element of Crime) Grausam ist der Haifisch und grausam warst auch Du.“

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Der Frauenmörder Woyzeck tötet Marie aus Eifersucht. Das hat mit seinem Bild von Frauen zu tun, das heute ein anderes sein sollte. Doch obwohl junge Männer heute durch die MeToo-Debatte sensibilisiert sein sollten, kam es im Hamburger Stadtpark am 19. September 2020 zur Vergewaltigung einer 15jährigen Frau durch 9 bzw. 10 junge Männer, die ihre Männlichkeit oder „Natur“ ausleben wollten.[2] Männlichkeitsphantasien traumatisieren und töten immer noch Frauen. Woyzecks Frauenbild ist kaputt, weil es in der Welt der Soldaten eine Treue verlangt, die nie mit der Soldatenexistenz und den Kriegen kompatibel war und immer eine Macht des Mannes gegenüber Frauen ausübte. Was machen Krieg, Gewalt und Hierarchien mit den Menschen? Wie weit lässt sich der Mensch beispielsweise heute mit syrischem Captagon zum Monster machen? Und was passiert mit den Menschen, wenn der Krieg selbst monströs wird?

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Kriege werden vermeintlich strategisch und durchdacht geführt. Einerseits gibt es spätestens seit dem Überfall der Russischen Armee durch Putins Befehl auf die Ukraine eine Unzahl von Experten, die in den Medien kluge Vorhersagen machen. Andererseits dauert der ukrainische Verteidigungskrieg nun schon länger, als gedacht. Sogar die einst schärfste Waffe Putins, der Söldnerunternehmer Jewgeni Prigoschin, wurde von ihm wie Ikarus am Himmel abgeschossen. Einerseits war der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit allen zu erwartenden Konsequenzen ausgearbeitet und geplant. Die Hamas konnte nicht erwarten, dass sie mit dem Mord- und Entführungskommando an Frauen und Kindern Israel zur Kapitulation zwingen könnte. Sie speiste die Verluste der Menschenleben in Gaza in ihre Planungen ein! Der Austausch von Geisel gegen palästinensische Straftäter*innen in israelischen Gefängnissen, war von Anfang an als Strategie der medialen Verwischung von Grenzen eingeplant. Trotzdem läuft den Hamas-Oberen in Katar die Planung aus dem Ruder. Um 1830 hatten Europa und Georg Büchner die Feldzüge Napoleons im Spannungsfeld von Nation und Chaos, Ordnung und Zufall, Revolution und Code Civil erlebt.[3]

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Soldaten haben seit Napoleons Feldzügen eine Identität, weil diese nicht nur für eine Nation, sondern nach dem Titel Empereur des Française[4] (Kaiser der Franzosen) für das Volk als dessen Verkörperung kämpften. Das veränderte des Soldaten Leben und dessen Kampfbereitschaft. Seit 1804, dem Jahr der Kaiserselbstkrönung, kämpften die Infanterie-Regimenter hinter den Standarten mit der Aufschrift VALEUR ET DISCIPLINE und der Einteilungsnummer auf der einen und EMPEREUR DES FRANÇAISE und der Nummer auf der anderen Seite.[5] Was sollte dieser Wert (valeur) sein? Das hatten gleich mehrere Enzyklopädisten, unter ihnen Jean-Jacques Rousseau 1751 für die Erstausgabe der Encyclopédie mit dem Artikel VALEUR formuliert:
„Voulez-vous rendre une nation valeureuse, que toute action de valeur y soit récompensée. Mais quelle doit être cette récompense ? L’éloge & la célébrité. Faites construire des chars de triomphe pour ceux qui auront triomphé, un grand cirque pour que les spectateurs, les rivaux & les applaudissemens soient nombreux ; gardez-vous sur-tout de payer avec de l’or ce que l’honneur seul peut & doit acquitter.”
(Willst du eine Nation stolz machen, so soll jede wertvolle Tat belohnt werden. Aber was soll diese Belohnung sein? Lob und Berühmtheit. Baue Triumphwagen für die, die gesiegt haben, einen großen Zirkus, damit Zuschauer, Rivalen und Beifall zahlreich sind; hüten Sie sich vor allem davor, mit Gold für das zu bezahlen, was nur die Ehre bezahlen kann und soll. T.F.)[6]

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Die Frage nach dem Wert, VALEUR, wie er mit dem Motto verteidigt und versprochen wird, verändert sprachlich viel. Denn der Soldat wird nunmehr nicht nur zum Soldempfänger, vielmehr kämpft er für den Wert der Nation, die aus der Revolution hervorgegangen war. Ein revolutionärer Befreiungsgestus wird transformiert. Nachdem Napoleon am 27. Oktober 1806 durch das Brandenburger Tor in die Hauptstadt Preußens einmarschiert war, brauchte König Friedrich Wilhelm III. noch fast sieben Jahre, um im Gegenzug bei Karl Friedrich Schinkel einen Orden für jeden Soldaten, der am Befreiungskrieg 1813 teilnahm, in Auftrag zu geben. Das Eiserne Kreuz als Kriegsteilnehmerorden veränderte schlagartig die Kampfmoral der preußischen Soldaten. Gleichzeitig löste er das Finanzierungsproblem des Staates. Die Frauen gaben Gold(!) für Eisen. Mit dem Eisernen Kreuz war die Nation materialisiert worden. Die Produktion in der Königlich Preußischen Eisengießerei an der Invalidenstraße kam allerdings nicht mit dem seriellen Guss des Ordens hinterher. Doch dadurch wurde er nur mehr wert. Bekanntlich wurde das Eiserne Kreuz im 1. und 2. Weltkrieg massenweise hergestellt, vergeben und missbraucht, was eine gewisse Entwertung zu Folge hatte. 

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Wir wissen nicht, wie stark Woyzeck in Georg Büchners Schreiben mit Danton‘s Tod verwoben ist.[7] Vermutlich schrieb er kurz zuvor das Revolutionsdrama unter Verarbeitung etlicher, übermittelter Reden. Doch damit hatte sich Büchner nicht zuletzt in die Brüche der Französischen Revolution eingearbeitet. Der Soldat Woyzeck befindet sich an einer dieser Bruchstellen. Zugleich wird er zum Objekt einer neuartigen Wissenschaft vom Menschen, insbesondere der Humanmedizin. Die Arztszenen sind spektakulär. Der Arzt verlangt für die Forschung am Menschen noch mehr Disziplin, als bereits mit den Bannern – VALEUR ET DISCIPLINE – versprochen und gefordert worden war. Der freie Wille als großes Versprechen der Revolution wird vom Doktor der Disziplin unterworfen, die soweit geht, dass Woyzeck nicht pinkeln darf, wenn er es muss bzw. die „Natur“ es von ihm fordert. Bridge Markland kontrastiert Woyzecks Berufung auf die Natur ironisch mit Ludwig van Beethovens akustischer Konzeption von Natur in seiner Symphonie Nr. 6, der sogenannten Pastorale, von 1807/1808. Freiheits- und Naturbegriff schwanken. 1800 wird heute mit dem Beginn der Industrialisierung als Schwelle des Anthropozän angesetzt.   

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In Büchners Woyzeck bleibt der Soldat bedenkenswert heimatlos und ohne Orientierung. Büchner knüpfte mit seinem Drama an die historischen Narrative von Johann Christian Woyzeck an, der 1824 in Leipzig auf dem Marktplatz durch das Schwert hingerichtet worden war.[8] Johann Christian wird als eine heimatlose umherirrende Figur beschrieben. So lässt sich der junge Leipziger als 26jähriger 1806 in Stralsund als Soldat anwerben. 1821 ersticht er in Leipzig die Witwe Woost. Johann Christian Woyzeck entspricht dem alten Modell des heimatlosen Soldaten, der aus wirtschaftlicher Not in eine mehr oder weniger gut organisierte Armee eintritt. In Bezug auf den Krieg in der Ukraine lässt sich zumindest sagen, dass die Soldatinnen und Soldaten der Ukraine vor allem deshalb im Widerstand gegen die zahlenmäßig überlegene russische Armee erfolgreich sind, weil sie sich als Verteidiger*innen ihrer Nation sehen.
„Woyzeck: Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat – Da setzt seinesgleichen auf die Moral! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Wenn wir in den Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.“

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Im dichten Dramentext Georg Büchners überschneiden sich mehrere Ebnen, die von Bridge Markland und Nils Foerster im zehntelsekundenschnellen Tempo durchgespielt und verstärkt werden. Einerseits gibt es die Ebene des Soldaten, wie sie sich unter den Bedingungen der Bundeswehr als Berufsarmee kaum noch denken lassen, wenn die Wehrbeauftragte Eva Högl von an der Bundeswehr Interessierten am 10. November 2023 als „Goldstaub“ spricht.[9] Allerdings existieren sehr wohl gleichzeitig z.B. in der Hamas Bedingungen weiter, die den Tod einkalkulieren. „Moral“ und völkerrechtliche Regeln werden zu einer Frage des Geldes erklärt. Andererseits schimmert mit dem Geld und der Armut eine soziale Frage durch, die die Verhältnisse zwischen Fürsten, Klerikern und dem Volk anschneidet. Wenig später wird sich Woyzeck als Angehörigen der „gemeine Leut“ bezeichnen. Weiterhin wird die „Uhr“ von Woyzeck selbst als eine Art Herrschaftsinstrument formuliert. Mit einer Uhr lassen sich Befehle erteilen. Die Uhr, ob Armbanduhr, Fabrikuhr oder Kirchturmuhr, wird zur Ordnungsmacht der Moderne.
„Woyzeck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, aber wenn ich ein Herr wär und hätt‘ ein‘ Hut und eine Uhr und könnt‘ vornehm reden, ich wollt‘ schon tugendhaft sein. Aber ich bin ein armer Kerl!“ 

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Woyzeck ist als Drama Fragment geblieben. Markland und Foerster lassen das Drama am Teich enden, wenn Woyzeck in höchster Verwirrung nach dem Mord an Marie ist. Durch das Spiel mit den Puppen und den Kostümwechseln sowie den Popmusikeinspielungen rückt der Text stärker in den Vordergrund. Mit der Popmusik wird eine Art soziales Echo eingespielt. Das Echo reagiert auf Worte und Begriffe mit der aktuellen Popkultur. Durch die Wechsel bleibt das Publikum nicht an Schauspieler*innen hängen. Bridge Markland beherrscht mit ihrer Verwandlungskunst das Schauspiel so perfekt, dass das Publikum gar nicht erst an einer besonders verehrten Schauspielerin hängen bleibt. Auf diese Weise werden Ebenen des Büchnerschen Textes allererst freigelegt, hörbar. Das vermeintlich so trostlose Fragment ohne richtigen Schluss wird gar witzig.

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Witz könnte man sagen, entsteht dann, wenn plötzlich Texte kollidieren. Plötzlich wird im Publikum gelacht. Das muss gar nicht lustig sein. Das ist nicht Comedy, wie sie im Fernsehen mit Timing, Pausen und einem Nicken praktiziert wird. Comedy ist immer vorgeschrieben. Die Lacher sind erwartbar. Witz entspringt unerwarteten Kollisionen. Dass Woyzecks Eifersucht mit Rammsteins „Es kocht die Eifersucht“ quasi überboten wird, kann ein Witzmoment sein. Die Eifersucht eines „deutschen“ Mannes wird nicht nur zufällig von Till Lindemann formuliert. Und die Eifersucht hat zugleich etwas mit einem Selbstbild zu tun. Gerade dann, wenn sich der Eifersüchtige als defizitär wahrnimmt. Aber das alles weiß niemand im Moment des Witzes, muss aber kurz lachen, bevor der Text ihn davonreißt. Das ist eine besondere Kunst, die Bridge Markland und Nils Foerster mit woyzeck in the box auf eine weitere Höhe gebracht haben.

Torsten Flüh

Bridge Markland
woyzeck in the box
weitere Termine:
Brotfabrik
Caligariplatz 1
13086 Berlin
31. Januar 2024 – 20:00 Uhr
1 Februar 2024 – 20:00 Uhr


[1] Zum neuartigen Zeitregime siehe auch: Torsten Flüh: Richard Wagners Späße mit dem Bürgertum. Zur Neuinszenierung Die Meistersinger von Nürnberg an der Semperoper unter der Leitung von Christian Thielemann. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2020.

[2] Christoph Heinemann und Elke Spanner: Was geschah im Stadtpark? In: Die Zeit vom 30. November 2023, S. 8.

[3] Zum Konzept der Nation und farbige Soldaten Napoleons in Berlin siehe: Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[4] Die französische Revolution mit ihrem Begriff der Nation als Sammlung aller Franzosen schimmert im Titel durch. Er geht aus dem revolutionären Konsulat auf den Kaiser über, um auf diese Weise die Revolution und ihre Legitimation zu transformieren. Der Kaisertitel Napoleons ist eine geschickte Operation, die die Armee verändert, ohne dass das offensichtlich wäre. Siehe Wikipédia: Empereur des Français.

[5] Siehe: The Empire of France: Infantry 1804 Pattern.

[6] Jaucourt, Rousseau, d’Argenville, Pezay; L’Encyclopédie, 1re éd. 1751 (Tome 16, p. 819). (Wikisource)

[7] Zu Danton‘s Tod siehe: Torsten Flüh: Genießen und Geschichte. Claus Peymanns Danton’s Tod von Georg Büchner am Berliner Ensemble. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. Januar 2012.

[8] Siehe Wikipedia: Johann Christian Woyzeck.

[9] Presse- und Informationsamt: Parlament: Wehrbeauftragte: „Wer mit der Bundeswehr liebäugelt, ist Goldstaub“ – Interview, 10.11.2023.

Verstörend statt bezaubernd

Bruch – Material – Bild

Verstörend statt bezaubernd

Zur Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie

Der Berliner Geschichtsbildmaler Anton von Werner und Kaiser Wilhelm II. erwarteten auf Empfehlung des international berühmten norwegischen Landschaftsmalers Adelsteen Normann am 5. November 1892 im Ehrensaal der Rotunde im Haus des Architektenvereins in der Wilhelmstraße 92/93 malerische Fjordansichten des noch unbekannten Edvard Munch. – Wenn Sie schon einmal von der Glienicker Brücke rechts hinunter die Schwanenallee zum Neuen Garten gegangen sind, dann haben Sie neuerdings Kaiser Wilhelms Norwegen mit dem Bootshaus Kongnæs im Drachenstil rekonstruiert gesehen. Das Norwegen der Fjorde und Drachenstil-Villen, wie sich Normann gerade eine am Sognefjord hatte bauen lassen, gaben Wilhelm II. Orientierung und beflügelten seine Fantasie.

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Das Kaiserreich liebte den um 1870 in Schweden konstruierten fornnordisk, Altnordischen Stil, ein nordischer Historismus, wie er im Drachenstil und noch 1911 in der norwegischen Friedhofskapelle aus Holz in Stahnsdorf zum Zuge kommen sollte. Adelsteen Normann wurde 1917 nach seinem Tod an der Spanischen Grippe unweit der altnordischen Stabkirche auf dem Friedhof Stahnsdorf beigesetzt. Der Industrie- und Imperialismus-Kaiser Wilhelm II. fuhr seit 1889 mit seiner Staatsyacht Hohenzollern jeden Sommer in die Fjorde, wo das Idyll nicht durch die bereits in Berlin fortgeschrittene Industrialisierung gestört wurde. 1891/92 ließ er die „Ventehalle“ am Jungfernsee nach Plänen des norwegischen Drachenstil-Architekten Holm Hansen Munthe errichten. In dieses imaginäre Norwegen platzten 55 Bilder von Edvard Munch, die wie Schlünde von Drachen in neuartiger Materialität des Farbauftrags einen Bruch in der Geschichte der Malerei rissen.

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Der Bruch Edvard Munchs mit der Geschichte der Malerei, wie er am 5. November 1892 in Berlin öffentlich wurde, ließ sich nicht mehr reparieren. Er riss Gräben in den Verein Berliner Künstler. Der Bruch wurde als „eine Verletzung der Gastfreundschaft“ debattiert[1], wie die Kuratorin der Ausstellung, Stefanie Heckmann, im Katalog schreibt. „Viele Mitglieder des Vereins und das Publikum waren schockiert von den Bildern, die unter anderem als roh, skizzenhaft und unfertig empfunden wurden.“[2] Anton von Werner setzte durch, dass die anstößige, die organisierten Maler beleidigende, gleichwohl revolutionäre Ausstellung am 12. November 1892 geschlossen werden musste. Der Streit um die Moderne hatte in Berlin begonnen. Edvard Munch und Berlin als aufstrebender Ort von Kunstdebatten und -handel waren mit einem Schlag bekannt geworden. Berlin wurde bis 1933 mit rund 60 Gruppen- und Einzelausstellungen zum Dreh- und Angelpunkt der Munch-Rezeption.

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Am Schluss präsentiert die von Stefanie Heckmann kuratierte Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in der Berlinischen Galerie, die noch bis 22. Januar 2024 unter strikten Zeitfensterregeln des MUNCH-Museums in Oslo zu sehen ist, den sogenannten „Reinhardt-Fries“ aus dem Bestand der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Denn die Berlinische Galerie besitzt selbst keine Gemälde von Edvard Munch. Die Neue Nationalgalerie, das Kupferstichkabinett, die Stiftung Stadtmuseum Berlin, zahlreiche Leihgeber*innen und vor allem das MUNCH in Oslo bestreiten den größten Teil der Exponate. Aus dem eigenen Bestand kann die Berlinische Galerie mit Walter Leistikows Fjordlandschaft (um 1897), Hans Hermanns Blühende Bäume (1894) und Ludwig Hofmanns Die rosa Wolke (um 1903) drei Gemälde von in Berlin um 1900 arbeitenden Malern beitragen. Die Ausstellung stellt u.a. über den großformatigen Sommerabend in den Lofoten (1891) von Adelsteen Normann aus der Nationalgalerie Berlin Kontraste und Kontexte zu Edvard Munchs Gemälden her.

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Die Berlinische Galerie wurde 1975 als Verein von in Berlin engagierten und kunstinteressierten Bürger*innen gegründet. Sie ist seit 1994 ein Museum des Landes Berlin. Gelegentlich wird sie in der reichhaltigen Berliner Museumslandschaft übersehen, so wie jüngst ein Freund sich per Taxi in die Spandauer Straße chauffieren ließ, weil er meinte, die Berlinische Galerie habe dort ihren Sitz. Tatsächlich liegt sie seit 2004 unweit des Jüdischen Museums in der Alten Jacobstraße 124-128 im umgebauten, dem kalten Krieg geschuldeten, ehemaligen Fensterscheibenlager der Stadt Berlin. Insofern ist der von Jörg Fricke umgestaltete Industriebau zum Museum mit seinen rund 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zugleich ein Berliner Geschichtsbau. Die einst kunstinteressierten Sammler*innen der 70er Jahre und später konnten nie einen Munch erwerben. Walter Leistikow, Ludwig Hofmann und Hans Hermann waren erreichbarer. Mit der Ausstellung Edvard Munch – Zauber des Nordens in Kooperation mit dem Munchmuseet Oslo ist dem Haus unter der Leitung von Thomas Köhler ein Coup geglückt. Die Ausstellung soll nun 2026 in Oslo gezeigt werden.

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Stefanie Heckmanns Ausstellungskonzept verspricht zwar mit dem „Zauber des Nordens“, indem sie an eine Formulierung von Stefan Zweig von 1925 anknüpft[3] eine Art Norwegenreise, aber wie schon bei den Fjorden steht das Berlin des Kaiserreichs und später der Weimarer Republik im Mittelpunkt. Berlin, genauer „Gustav Türkes Weinhandlung und Probierstube Unter den Linden, Ecke Neue Wilhelmstraẞe“[4] wurde nach August Strindbergs dichterischer, möglicherweise alkoholisierter Wahrnehmung „Zum schwarzen Ferkel“. Da die skandinavische Boheme in der Weinhandlung oft recht freizügig verkehrte – Strindberg, Frauen und Männer sollen auf dem Tisch getanzt haben -, könnte ebenso der Begriff der unschicklichen, sexualisierten Ferkelei[5] zur Benennung des Treffpunktes und Kunstdebattenraumes beigetragen haben. „Über der Tür hing ein Weinschlauch, den er (Strindberg, T.F.) im Dunkeln für ein Ferkel gehalten hatte.“ Nach Heckmann handelte es sich bei dem „Kreis um Munch, der sich in Berlin von etwa November 1892 bis September/ Oktober 1894 – nicht nur im Schwarzen Ferkel – traf,“ um „keine feste Gruppe“.[6]

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Das Schwarze Ferkel wurde in der nordischen Kunst-, Literatur- und Munchgeschichte mehr oder weniger ein geflügeltes Wort der initialen Berlin-Erlebnisse. Am 20. Januar 1893, etwas mehr als 2 Monate nach seiner kolossal im Verein und mehr noch in den in Berlin erscheinenden Zeitungen debattierten Ausstellung im Architektenhaus, schrieb Edvard Munch als eine Art Star der Moderne an seine Schwester Inger: „Wir Skandinavier – [August] Strindberg, Gunnar Heiberg, [Holger] Drachmann und ich und ein gewisser [Adolf] Paul sind fast immer zusammen und sitzen in einer kleinen Weinstube beieinander.“[7]  Es kamen der polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski und seine Frau Dagny Juel Przybyszewska zu den Skandinaviern im Schwarzen Ferkel hinzu. 1893 malte Munch Dagny in tiefem Nachtblau mit Muff und hellem Gesicht mit feinem Lächeln.[8] Przybyszewski und Strindberg wurden gezeichnet und letzterer im Medium Druckgrafik mit verwirbelter Haarpracht zur Modernitätsikone.

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Der heute kaum mehr bekannte Schriftsteller Przybyszewski, der zunächst Medizin mit Schwerpunkt Neurologie in Berlin studiert hatte, verknüpfte die Malerei Munchs auf bahnbrechende Weise mit der neuartigen Psychologie. Der Berliner Debatten-Kosmos erlaubte es plötzlich, über Bilder oder Gemälde anders zu schreiben, als es beispielsweise in der „Zeitungskritik“ üblich war. Der kunstinteressierte Medizinstudent traf auf den Maler Edvard Munch. „Kurz zuvor hatte Przybyszewski, nachdem er aus der medizinischen Fakultät in Berlin ausgeschlossen worden war, die Schrift Zur Psychologie des Individuums I über zwei „Rauschkünstler“, den französisch-polnischen Komponisten Frédéric Chopin und den Philosophen Friedrich Nietzsche, veröffentlicht.“[9] Damit war die Bahn bereitet, die sich auf den Maler übertragen ließ. Mit der Psychologie ließ sich zugleich über die verpönte Sexualität sprechen und schreiben. Schon 1885 war es mit dem Gerichtsprozess um den u.a. Aktmaler Gustav Graef zu einem aufsehenerregenden, in den Berliner Zeitungen verhandelten Prozess um Sexualität und Kunst gekommen.

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Die Funktion, die Stanisław Przybyszewski mit der neuartigen Rede der Psychologie für die Wahrnehmung, sozusagen aus dem Schwarzen Ferkel heraus, der Arbeiten Edvard Munchs einnimmt, lässt sich vermutlich kaum überschätzen. Nach dem Bruch legte sich über die Malerei eine neuartige Rede über das Innere, das Individuum, das nunmehr, noch bevor der Maler Munch es gewusst hätte, zum Dogma der Moderne werden sollte. Die Wahrnehmung wurde gewissermaßen umgestülpt, wie es der Maler hätte nicht sagen können. Statt das Äußere der „erhabenen“ Fjordlandschaften zur Gefühlswelt im Innern werden zu lassen, wird nun mit einer neuartigen Psychologie das Innere nach außen gekehrt. Der gerade erst 29jährige, eher eigenbrötlerische, kaum redegewandte Maler, der geradezu rauschhaft produzierte, geboren am 12. Dezember 1863, erhält durch Przybyszewskis experimentelle Verwendung der Psychologie eine Sprache für seine Bilder. Denn an der Sprache hatte es bei der Beschreibung der Ausstellung und ihrem Abbruch gehapert.

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Die Einleitung von Stefanie Heckmann legt ihren Fokus auf Munchs Ausstellungen in Berlin als eine Art Erfolgsgeschichte der Moderne bis 1933. Berücksichtigt und rekonstruiert wird dabei das persönliche Umfeld des Malers. Doch das Kunst-Debatten-Umfeld bleibt ein wenig vage. In Berlin kristallisiert sich um 1890 eine Naturalismus-Debatte in der Malerei wie der Literatur und dem Theater heraus. 1892 hatte Gerhard Hauptmann sein Drama Die Weber veröffentlicht, das 1894 am Deutschen Theater uraufgeführt werden sollte. Am 14. März 1889 war August Strindbergs naturalistische Tragödie Fröken Julie in Kopenhagen uraufgeführt worden. Gut drei Jahre später am 3. April 1892 wurde im Residenztheater in der Stralauer Vorstadt in der Nähe der Jannowitzbrücke Fräulein Julie vom Verein Freie Bühne erstmals in Deutschland aufgeführt, was zu einem derartigen Skandal geführt hatte, dass es in Berlin bis 1904 die einzige Aufführung blieb. In dieser aufgeheizten Debatte zum Naturalismus bespricht der Berliner Kritiker Adolf Rosenberg die Bilder in der Ausstellung als „Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind“.[10]

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Welche Gemälde wurden 1892 gezeigt? Die Titel der Gemälde, die Edvard Munch am 5. November 1892 ausstellte, sind nur rudimentär überliefert. Einige wurden anscheinend im Laufe der Zeit umbenannt. Sabine Meister kommt in ihrem Essay für den Katalog auf gerade einmal 4 identifizierte Titel: „Mit 55 Gemälden, darunter Das kranke Kind, 1885, Nacht in Saint-Cloud, 1890, Kuss und Verzweiflung, beide 1892, bespielte Munch nun also die Rotunde im Erdgeschoss.“[11] Die Schwierigkeit der Rekonstruktion dessen, was die Maler und das Publikum bei der Eröffnung zu sehen bekamen, führt in der Ausstellung der Berlinischen Galerie dazu, dass kaum ein Gemälde von damals mit Bestimmtheit gezeigt werden kann trotz der umfangreichen Leihgaben aus Oslo. Der berühmte Schrei, zuerst Verzweiflung, der gezeigt wurde, musste quasi als norwegischer Staatsschatz in Oslo bleiben. Doch schon Monika Krisch hatte herausgearbeitet, dass sich bereits die umfangreiche Berichterstattung in den Zeitungen mit dem Begriff Gemälde schwertat.
„Als frappierendste Wirkung der beiden Ausstellungen im Architektenhaus und im Equitable-Palast beschreiben fast alle Kritiker ihren Eindruck, daß es sich bei den Exponaten gar nicht um vollendete Gemälde handele, sondern bloß um „große Skizzen“, in „bisher unerhörter Flüchtigkeit hingewischte Farbenskizzen“, „flüchtige Farbennotizen“, willkürliche Farbenexperimente“, „impressionistische Studien“, „Studienmaterial“. Die Bilder dieser Kollektion seien „bis zur Unkenntlichkeit in den Anfängen belassen“ und letztendlich nur „Fragmente“.“[12]

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Der wichtige Beitrag für die Munch-Kunstkritik der Zeitungsstadt Berlin von Monika Krisch wird leider für die Ausstellung und die Essays nicht weiterentwickelt. Um 1892 entwickelt sich das Zeitungsviertel zwischen Friedrichstraße und Jerusalemer Straße sowie Zimmer- und Kochstraße zu einem internationalen Medienzentrum. Rudolf Mosse wird einer der reichsten Männer Berlins durch Zeitungen als Geschäftsmodell.[13] Aus dem Zeitungsviertel gehen Debatten hervor. Krisch hat eine Vielzahl von Kritiken der Zeitungen gesammelt, gelesen und ausgewertet. Adolf Rosenberg mag einer der Meinungsführer gewesen sein, der in den Arbeiten Munchs den Naturalismus auch verkennt. Doch die „Zeitungskritik“ in Berlin war 1892 von einer Vielfalt geprägt, die eine Debatte über Munch überhaupt möglich machte. So kommt der Kritiker des Deutschen Reichs-Anzeigers mit einer gewisser Verzögerung am 30. Dezember 1892 zum Schluss:
„Solche Kunst kann unmöglich das durch gefällige Linien und sanfte Vermittlung der Farben verwöhnte Auge beim ersten Anblick gewinnen, aber bei längerem Betrachten überzeugt sie umsomehr von ihrer Wahrhaftigkeit.“[14] 

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Die Debatte um die Munch-Ausstellung geht weit über den Maler hinaus, weil sie als eine Debatte um das Bild, und was es sein soll, geführt wird. Sie reißt bereits die Frage des Bilderatlasses als Wissensformat, wie er von Aby Warburg entwickelt wird, an.[15] Das Bild wird als Wissensträger formuliert. Adolf Rosenbergs Kritik vom 9. November 1892 im Berliner Tageblatt, gegründet von Rudolf Mosse, in der Rubrik Theater Kunst Wissenschaft bricht die Debatte an den Bildern los. Was ist ein Bild? An den Begriff Bild sind um 1892 solche wie Gemälde, Bildnisse, Abbildung, Schönheit, Sittlichkeit, Genre etc. geknüpft. Doch Munch verweigert das Bild im Modus einer Abbildung. Im Hintergrund spielt nicht zuletzt eine kaum zu Ende gehende Debatte um die Fotografie und die neuartigen Vervielfältigungsmöglichkeiten der Zeitungen und Druckmaschinen eine Rolle. Wo soll sich da ein Maler verorten? Die Zeitungen sind noch bildlos. Aber erste illustrierte Zeitschriften werden im Zeitungsviertel verlegt und gedruckt. Doch Rosenberg beharrt auf das Bild:
„In den Munch’schen Bildern handelt es sich nämlich um Exzesse des Naturalismus, wie sie in Berlin noch niemals zur Ausstellung gelangt sind. Was der Norweger in Bezug auf Formlosigkeit, Brutalität der Malerei, Rohheit und Gemeinheit der Empfindung geleistet hat, stellt alle Sünden der französischen und schottischen Impressionisten wie der Münchner Naturalisten tief in den Schatten. Es sind Bildnisse …, die in der liederlichsten Art hingeschmiert sind, so dass es bisweilen schwer [fällt], eine menschliche Form daraus zu erkennen oder überhaupt nur die Natur eines dargestellten Gegenstandes zu bestimmen. Selbst die beredtesten Verteidiger des naturalistischen Kunstprinzips sind vor solchen rohen Anstreicharbeiten in die bitterste Verlegenheit geraten.“[16]

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Bemerkenswerterweise mischt sich in Rosenbergs Rede vom Bild das Gefühl, wenn er u.a. von „Gemeinheit der Empfindungen“ spricht. Das, was Rosenberg von einem Bild erwartet, sind angenehme Gefühle im Rahmen der moralischen Regeln. Die Verletzung des Gefühls berührt das narzisstische Bild vom Menschen, wenn Rosenberg keine „menschliche Form“ erkennen kann und will. Er kritisiert nicht nur die „Munch’schen Bilder()“ vielmehr verwirft er sie mit einem Wissen vom Menschen und der Natur, das von Munch zutiefst verunsichert wird. Gleichzeitig wird in Berlin durch die rasante Industrialisierung und die einhergehenden sozialen Verwerfungen das Bild vom Menschen erschüttert. Die Industrialisierung bringt zugleich eine Wiederholung und Serialisierung von Formen und Bildern mit sich, die bei Munch vom Kritiker der Berliner Börsen-Zeitung am 10. November 1892 in Anschlag gebracht wird.
„… Munch ist gar vielseitig, gleich gewandt im Genre, wie in der Landschaft; Wiese, Wald und Strand, der hohe Norden und der tiefe Süden, Boudoir, Straßen- und Ballszenen – ihm ist Alles toute la même chose, d. h. er stippt den Pinsel oder vielmehr die Fingerspitze in die Farbe und schmiert darauf los. In einer halben Stunde hat er voraussichtlich so ein Ding fertig, und nach der Menge der Meisterwerke zu urtheilen, ist er im Stande, mit beiden Händen gleichzeitig zu malen.“[17]

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Die Kritik in der Berliner Neueste Nachrichten am 31. November 1892 gibt einen Wink auf das Problem der Titel und der Materialität. Denn statt eines Bildes erkennen die Kritiker vor allem „Farbe“, „Anstreicharbeiten“, einen „Oelkleks“ und „Weißtüpfelung“ etc. Statt der Hand eines Malers mit dem Pinsel wird die „Fingerspitze“ zum Malen vorgestellt. Statt einen Titel des Bildes zu nennen, wird es zur „Nr. 53“. Mit dem Wissen der Kunst wird all das spöttisch benannt, was heutzutage wie die „Verwischung jeglicher Konturen“ zur Beschreibung einer Malpraxis dient. 
„… es mag im Prinzip des Munchschen Verismus liegen, durch Verwischung jeglicher Konturen (wie auf dem seltsamen Bild Nr. 53, das, von der Nähe besehen ein einziger Oelkleks, eine Straße in Paris mit dem Weltstadttreiben der Passanten und Fuhrwerke vorstellen soll) das kaleidoskopische Gewühl einer Menschenmasse oder durch Weißtüpfelung den eigenthümlichen Luftschimmer eines Frühlingstages malerisch wiederzugeben: jedem harmlosen Beschauer, der deshalb kein Pendant der Säuberlichkeit zu sein braucht, erscheinen derartige Dinge als kindische Spielereien oder, falls er ein bisschen kritischer Natur ist, als starke Zumuthungen.“[18]

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Mit den Kritiken wird nicht zuletzt eine Krise des Subjekts um 1890 formuliert. Weder lässt sich an den Bildern ein ausgebildetes Malersubjekt erkennen, noch wird eine „Erregung“ sichtbar, die ein spielendes Subjekt auszeichnen müsste. Vielmehr wird „Eduard Munch“ als „Kleiner Moritz“ mit einem Kind verglichen. Die Kritiken formulieren nicht zuletzt Ängste der Auflösung, wenn „Köpfe ganz in Eins verfließen“, wie in der Berliner Zeitung vom 9. November. Sowohl die Subjekte am Spieltisch wie das Subjekt der Betrachtung lösen sich zu einem „Sonst aber nichts!“ auf. Der klangvolle Titel „Spielende in Monte Carlo“, woher er auch immer kommen mag, konfrontiert den Betrachter mit Deformierungen – und einem Nichts.
„Für die Art seiner Kunstübung ist besonders charakteristisch das Bild ,Spielende in Monte Carlo‘. Da Eduard Munch die Köpfe selten durcharbeitet, kann man seinen Spielern auch keine Erregung ansehen: sie können ebenso gut um Pfeffernüsse spielen und doch nicht anders aussehen. Rechts sitzt ein Mann mit brünetten, breiten Gesichtszügen, der direkt aus dem Schreibheft des Kleinen Moritz herstammt. Links aber stehen zwei Männer, deren Köpfe ganz in Eins verfließen – von dem einen Mann sieht man eine Augenbraue, von dem andern eine Augenwimper. Sonst aber nichts!“[19]

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In der Ausstellung in der Berlinischen Galerie lassen sich beispielsweise an Der Tod und der Frühling (1893) oder auch am Portrait von Walther Rathenau (1907) Arbeitsweisen mit Farbe erkennen, für die Munch in den Kritiken als (Nicht-)Maler gescholten wurde. Im unteren schwarzen Feld von Der Tod und der Frühling wird der Farbauftrag mit einem Gegenstand abgekratzt. Sollte etwas unkenntlich gemacht werden? Wird eine Aggression gegen das Bild ausgeübt? Verzweiflung der Trauer? – Wir wissen es nicht! – Auf dem Portrait von Walther Rathenau werden ebenfalls Wischspuren mehr als Malweisen erkennbar. – Ist das noch oder schon Malerei? – Nach den Kriterien der Kritiker 15 Jahre zuvor bleibt es „unfertig“. Das Unfertige wurde gleichsam zur Signatur der Moderne wie es die Mosse-Lectures im Wintersemester 2017/2018 mit der Vorlesungsreihe non finito, unfinished, unfertig thematisiert haben.[20] Ob sich auf der Wand neben der Figur in lässiger Körperhaltung Rathenaus Schatten oder ein Gespenst oder eine Frauengestalt abzeichnet, lässt sich nicht entscheiden. Munch zeichnet ebenso Harry Graf Kessler. In Berlin entdeckt Munch die Druckgrafik als Medium, ebenso die Fotografie und er entwickelt das serielle Format „Lebensfries“ als ein visuelles Wissen vom Leben.

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Die Bilderserie „Lebensfries“ soll vom Leben in Sequenzen als eine Art Erfahrungswissen erzählen. Janina Nentwig nennt ihren Essay Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902.[21] Mit dem „Lebensfries“ entwickelt der Maler ein Format, das von ihm variiert und wiederholt wird. Der sogenannte Reinhardt-Fries, der für einen Veranstaltungsraum im Deutschen Theater von Max Reinhardt in Auftrag gegeben wurde, bildet im Ausstellungsrundgang einen Abschluss. „Mondschein auf dem Meer“, „Begierde“, „Sommernacht“, „Frauen bei der Obsternte“, „Sonnenblume“, „Zwei junge Frauen in Rot und Weiß“, „Kuss am Strand“, „Bäume am Meer“, „Zwei Menschen. Die Einsame.“, „Tanz am Strand“, „Junge Frauen am Strand“ und „Melancholie“ bilden in unterschiedlichen Begriffen aus Natur und Gefühlsleben („Begierde“ und „Melancholie“) eine Abfolge von Szenen aus dem Leben. Der Schwellenraum des Strandes kommt visuell mehr oder weniger deutlich in jedem Bild als Schauplatz zum Einsatz. Am Strand, auf der Schwelle zum Meer, vielleicht auch zwischen Leben und Tod, zeichnen sich Bäume abund eine Figur sitzt vornüber gebeugt auf einem Stein, während die Sonne als roter Ball untergeht.

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Torsten Flüh

Edvard Munch
Zauber des Nordens

Berlinische Galerie
Alte Jacobstraße 124-128
10969 Berlin
bis 22. Januar 2024 nur mit Zeitfenster

Hg. Stefanie Heckmann, Thomas Köhler, Janina Nentwig
Edvard Munch
Zauber des Nordens
Beiträge von P. Behrmann, C. Feilchenfeldt, S. Heckmann, T. Köhler, S. Meister, J. Nentwig, A. Schalhorn, D. Scholz, L. Toft-Eriksen
304 Seiten, 246 Abbildungen in Farbe
21,7 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4217-4
49,90 €


[1] Zur Holzkirche auf dem Stahnsdorfer Friedhof siehe: Torsten Flüh: Wenn Nosferatu kommt. Zur Kulturnacht auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf mit der norwegischen Holzkirche. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. August 2014.
Stefanie Heckmann: Zauber des Nordens. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard Munch – Zauber des Nordens. Berlin: Berlinische Galerie/Hirmer, 2023, S. 19.

[2] Ebenda.

[3] Ebenda S. 17.

[4] Ebenda S. 21.

[5] Seit 1880 gibt es lässt sich in der Gebrauchshäufigkeit der „Ferkelei“ ein leichter Anstieg ausmachen. DWDS: Wortverlaufskurve seit 1600: Ferkelei. Siehe für die Gebrauchsweise auch Wiktionary: Ferkelei.

[6] Stefanie Heckmann: Zauber … [wie Anm. 1] S. 21.

[7] Zitiert nach ebenda.

[8] Ebenda S. 22.

[9] Ebenda S. 23.

[10] Biografie S. 268.

[11] Sabine Meister: Affäre, Skandal, Fiasko? Munchs Debüt in Berlin – ein Blick hinter die Kulissen. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 166

[12] Monika Krisch: Die Munch-Affäre – Rehabilitierung der Zeitungskritik. Mahlow bei Berlin: TENEA, 1997, S. 57.

[13] Zu Rudolf Mosse und der Familie Mosse siehe: Torsten Flüh: George L. Mosses Erinnerung an den Klippen Europas und 50 Jahre Stonewall. Zur Konferenz Mosse’s Europe im Deutschen Historischen Museum und in der W. Michael Blumenthal Akademie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 28. Juni 2019.

[14] Deutscher Reichs-Anzeiger, 30. 12. 1892 zitiert nach ebenda S. 73.

[15] Zum Bild und Bilderatlas siehe: Torsten Flüh: Zur Intelligibilität des Bilderatlas Mnemosyne. Über die Ausstellung und das Buch „Aby Waburg: Bilderatlas Mnemosyne – Das Original“ im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 9. Oktober 2020.

[16] Adolf Rosenberg zitiert nach Monika Krisch S. 60.

[17] Berliner Börsen-Zeitung 10.11.1892 zitiert nach Krisch S. 60.

[18] (Munch schuf „Rue Lafayette“ mit einer Reihe anderer Bilder, bei denen er sich impressionistischer Stilmittel bediente, während eines Frankreichaufenthaltes im Frühjahr 1891.) Berliner Neueste Nachrichten, 31. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 61.

[19] Berliner Zeitung, 9. 11. 1892 zitiert nach Krisch S. 66.

[20] Zum Unfertigen siehe die Besprechungen zum Semesterthema:
Torsten Flüh: Das Versprechen der Geschichte. Barbara Naumann und Peter Geimer zum Semesterthema non finito … der Mosse-Lectures. In: NIGHT OUT @ BERLIN 27. November 2017. (PDF unter Publikationen)
ders.:  Unendliche Erhebungen.  Georges Didi-Huberman spricht über Endless Uprisings. The Image as a Medium of Desire in seiner Mosse-Lecture. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. Dezember 2017. (PDF unter Publikationen)

[21] Janina Nentwig: Das Leben erklären – Edvard Munchs Lebensfries in der Berliner Secession 1902. In: Thomas Köhler, Stefanie Heckmann, Janina Nentwig (Hrsg.): Edvard … [wie Anm. 1] S. 174-190.

Anne Frank und die Literaturfrage

Tagebuch – Literatur – Dokument

Anne Frank und die Literaturfrage

Zu Thomas Sparrs Buch »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank

Vor dem Portal zum Gebäude der Staatsbibliothek Unter den Linden 8 wurden am 8. Oktober 2022 neun sogenannte „Stolpersteine“ als Gedenktafeln mit Namen ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Gehweg eingelassen. Die Namen und die dazugehörigen Lebensdaten nach über 80 Jahren zu erinnern, ist wichtig. Die zwischen 1877 und 1901 Geborenen verloren nach den rassistischen „Nürnberger Gesetzen“ 1935 ihren Arbeitsplatz im nach langjährigen Renovierungsarbeiten wieder erstrahlenden historischen Gebäude der Staatsbibliothek zu Berlin: Emmy Friedlaender, Ernst Daniel Goldschmidt, Walter Gottschalk, Ernst Reinhard Wolfgang Honigmann, Robert Lachmann, Annelise Modrze, Hermann Pick, Arthur Spanier, Kurt Wieruszowski. Nach dem Talmud heißt es: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“[1]

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Der Name Anne Frank wurde und wird seit der Herausgabe ihres Tagebuchs kurz nach Ende des 2. Weltkriegs und des nationalsozialistischen Rassismus-Regimes 1947 in Niederländisch millionen-, wenn nicht milliardenfach in Büchern, Übersetzungen, Theaterstücken, Hörstücken, Prozessakten, Drehbüchern, Reportagen, Theaterkritiken, Zeitungsartikeln etc. gedruckt. Google listet in 0,52 Sekunden „ungefähr 263.000.000 Ergebnisse“ auf. Die als „Tagebuch“ bekannten Aufzeichnungen machten den Namen ihrer Autorin weltweit bekannt. Am 23. Oktober stellte Thomas Sparr im Wilhelm von Humboldt-Saal der Staatsbibliothek sein Buch vor, das er Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank nennt. Seine Biographie erzählt die vielfältigen Geschichten, die sich um die Herausgabe und Titelgebung der Aufzeichnungen als Tagebuch international ereigneten und durch vielfältige Übertragungen ranken.

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Die Biographie des Tagebuchs und das Kursieren des Namens Anne Frank sind mit Thomas Sparrs Buch nicht abgeschlossen. Vielmehr entbrannte kürzlich in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus eine kurze, aber heftige Diskussion um die Umbenennung der städtischen Kindertagesstätte „Anne Frank“ in der ca. 10.000 Einwohner zählenden Stadt Tangermünde an der Elbe im Landkreis Stendal in „Weltentdecker“.[2] Der Name Anne Frank wurde, wie Thomas Sparr schreibt, bereits 1958 mit dem DEFA-Film Ein Tagebuch für Anne Frank in der DDR „dafür verwandt, eine Kontinuität in Westdeutschland zu zeigen, deren Elite sich aus der des Dritten Reichs rekrutierte. Anne Frank wurde zur Kronzeugin dieses politischen Irrwegs.“[3] Der Übersetzungstitel von Het Achterhuis (1947) in Das Tagebuch der Anne Frank (1950) wurde insofern schon frühzeitig variiert und instrumentalisiert. Das Schild mit drei spielenden Kindern der Kindertagesstätte „Anne Frank“ könnte in seiner Bildsprache aus den 60er oder 70er Jahren stammen.[4]

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Am 23. Oktober hatte der Verein der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin e.V. mit seinem Vorsitzenden, dem ehemaligen Kultursenator André Schmitz, zur glanzvollen Buchpremiere in den Wilhelm von Humboldt-Saal eingeladen. Die Begrüßung fiel äußerst persönlich aus. André Schmitz und Thomas Sparr kennen sich seit Jahren, wie der Vorsitzende in seiner Begrüßung mitteilte. Die Freunde der SBB und Achim Bonte als Generaldirektor der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz seit dem Pandemiejahr 2021 bringen mehr Leben ins sogenannte Haupthaus. Im Beethoven-Jahr 2020 war im gleichen Saal die Ausstellung „Diesen Kuß der ganzen Welt!“ Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin pro „Zeitfenster“ gezeigt worden.[5] Der humanistische Gruß Beethovens sollte auch im Gespräch von Achim Bonte mit Thomas Sparr über Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank nachklingen.

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Thomas Sparr ist nicht zuletzt als Verlagslektor wie Literaturwissenschaftler und heute als Editor-at-Large im Suhrkamp Verlag ein Kenner des Verlagswesens. Das macht ihn zum erzählerisch versierten Biographen des Buches. Er kennt die Verlage und den Buchhandel. Die Frankfurter Buchmesse mit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Salman Rushdie am Tag zuvor, den 22. Oktober, hatte er besucht. Wie während des Podiumsgesprächs und einem aus dem Stehgreif organisierten Baruch Adonai des in Buenos Aires geborenen und in Berlin lebenden Tenors Rolando Guy erlebbar wurde, ist der Autor ein ebenso begnadeter wie kenntnisreicher Erzähler und Organisator. In seiner Biographie lässt er vor allem Quellen aus den Archiven sprechen. Die zum Teil sprachlos machenden Formulierungen aus Briefen, Artikeln, Akten et. arrangiert und kommentiert er fast lakonisch. So zur Lizenzausgabe des Tagebuchs in der DDR:
„Bis 1990 erschienen acht Auflagen im Union Verlag, es gab einen Teilabdruck in der Ostberliner BZ und zahlreiche Theateraufführungen. Schulen (und Kitas, T.F.) wurden nach Anne Frank benannt, Jugendbrigaden, Otto Frank erhielt zahlreiche Briefe aus der DDR – und beantwortete, seiner Art gemäß, jeden einzelnen.“[6]

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Die Biographie als Genre und Flüchtigkeitswissen im Buchtitel erhält von Sparr eine Einordnung in ihrer Nichtlinearität. Wie unlängst von Christopher Clark für Frühling der Revolution und den Revolutionsbegriff praktiziert[7], insistiert Sparr darauf, dass „(d)ie Biographie eines Buches (…) die Linearität“ nicht kenne.[8] Der Untertitel, Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank, lässt sich auch flüchtig als eine neue Biographie zur berühmten Autorin lesen. Auf dem Büchertisch nicht nur kleiner Buchhandlungen, vielmehr noch im „KulturKaufhaus“ und auf den Screens vom Smartphone bis zum Desktop funktionieren möglicherweise der bildhaft-karierte Einband und das bekannte Foto des schreibenden, in das Objektiv zaghaft lächelnden Mädchengesichts als Auslöser und Versprechen auf eine Biographie noch besser. Noch eine Biographie?
„Die Biographie eines Buches kennt noch weniger Kausalitäten, die wir dem Leben oft unterstellen. Die Wirkungsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank ist auch von Zufällen bestimmt, schafft mitunter eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die sich erst im Nachhinein erschließt.“[9]

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Die Begriffe Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte reichen für die Biographie nicht hin. Dafür gibt es zu viele Brüche, Ereignisse und Zufälle, die Anne Frank mit den Schriftstücken als Tagebuch verkoppelt haben. Von Anfang an geht es um die Frage von Literatur und Dokument. Der Literaturbegriff hat sich seit 1947 stärker gewandelt, als sich das die ersten Leser*innen hätten träumen lassen. Steht zu Beginn nicht zuletzt in den deutschen Verlagen die Frage im Raum, ob ein mit 15 Jahren qualvoll im Konzentrationslager Bergen-Belsen verstorbenes Mädchen literarisch habe schreiben können, so ist für Thomas Sparr auch im Gespräch mit Achim Bonte klar, dass es sich um Literatur einer jungen Schriftstellerin handele. In den späten 40er und 50er Jahren war das anders: Dokument oder Literatur? Imagination oder Tatsachen?

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Vielleicht lag es unter den Bedingungen der Normalität daran, dass Sprache als Natur des Menschen aufgefasst wurde. Die Linguistik sollte sich erst noch entfalten. Doch Anne Frank beginnt ihre Aufzeichnungen am 12. Juni 1942 mit einer Formulierung, die das Ringen um eine Sprache mit und für sich selbst nicht treffender beschreiben könnte. Sie personalisiert das ihr zum Geburtstag geschenkte Poesiealbuch als ein Du, dem sie „alles anvertrauen“ wolle, „wie (sie) es noch bei niemandem gekonnt habe“. Das Anvertrauen ringt darum, Worte zu finden. Die Schreiberin adressiert sich an ein imaginäres Du, um sich selbst in ihrer Zerbrechlichkeit „eine große Stütze“ zu sein. Mehr lässt sich kaum über die Literarizität der Selbsterzählung sagen:
„Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“[10]  

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Sparrs Literaturbegriff unterscheidet sich von dem hier angeschriebenen, wenn er das „Märchen“ als Literarisierung der „Aufzeichnungen“ herausstellt[11], oder in den Überarbeitungen und Neuformulierungen durch Anne Frank eine literarische Arbeit am Text wahrnimmt, wie er erst durch die vom Amsterdamer Rijkinstituut voor Oorlogsdocumentatie „weltweit verbindliche Ausgabe“ seit 1988 lesbar geworden ist, gelten lassen will. 1991 erschien mit der „Version d“ nach Mirjam Pressler die verbindliche Ausgabe in Deutsch.[12] Literatur in ihrer Pluralität beginnt mit der Artikulation und Aufzeichnung. Anne Frank machte sich genaue Gedanken über den Prozess des Schreibens in der Form des Tagebuchs, wenn sie am 28. September 1942, nunmehr im Versteck in der Prinsengracht 263 in Amsterdam[13], als Nachtrag zur Eröffnung hinzufügt:
Ich habe bis jetzt eine große Stütze an dir gehabt. Auch an Kitty, der ich jetzt regelmäßig scheibe. Diese Art, Tagebuch zu schreiben, finde ich viel schöner, und ich kann die Stunde fast nicht abwarten, wenn ich Zeit habe, in dich zu schreiben.
Ich bin, so froh dass ich dich mitgenommen habe!
[14] 

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Der Begriff Tagebuch wird von Anne Frank erst in einer Wiederholung mit einer Verspätung gebraucht. Das Wiederholen und Durcharbeiten von Sprache wird allerdings noch vor der Flucht ins Versteck ab Juli 1942 von der Tagebuchschreiberin am 15. Juni 1942 praktiziert, wenn sie „(ü)ber die Jungen“ ihrer Schulklasse „viel, aber auch wenig sagen“ kann. Das vom Hörensagen Aufgeschnappte wird von ihr durchgespielt und eingeordnet. Denn es geht um die Sprache der Jungen, insbesondere das „Schweinischsein“, womit sexualisierte Worte und ihr Gebrauch gegenüber den Klassenkameradinnen gemeint sind.[15] Das „Schweinischsein“ in der Übersetzung von Mirjam Pressler und wohl schon im niederländischen Original ist eine Wortfindung. Das Adjektiv schweinisch für unanständig, in sexueller Beziehung anstößig wird in der Substantivierung als ebenso verbotene wie reizvolle Rede-, Handlungs- und Lebensweise benannt.[16] Für Anne sind mindestens vier Jungen „schweinisch“, Leo Blom, Herman Koopmann, Jopie de Beer und Sally Springer.
„Leo Blom ist der Busenfreund von Jopie de Beer und auch vom Schweinischsein angesteckt.“

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Die unanständigen Jungen werden von Anne in ihrem Tagebuch vor den anständigen Harry Schaap und Werner Joseph erwähnt, die nur „nett“ oder sogar „langweilig“ sind. „Harry Schaap ist der anständigste Junge aus unserer Klasse“. Das „Schweinischsein“ lässt sich mit den Eltern und sonst auch niemandem noch draußen besprechen. Schon gar nicht, wenn es für Anne nicht nur abschreckend, sondern geradezu reizvoll ist. Geradezu scharfsinnig ist Annes Beobachtung, dass sich das „Schweinischsein“ durch Ansteckung im Modus der Wiederholung übertragen lässt. Die sexuell-sprachliche Ebene der Selbstfindung im „Tagebuch“ als Problem und Reiz hatte Annes Vater Otto Frank bei der ersten Version der Herausgabe zu Auslassungen und Bereinigungen gezwungen. Seit und erst 1988 wurde die für die adoleszente Selbsterzählung unerlässliche Ebene des Tagebuchs wieder hergestellt.
„Sally Springer ist ein schrecklich schweinischer Junge, und es geht das Gerücht um, dass er gepaart hat. Trotzdem finde ich ihn toll, denn er ist sehr witzig.“[17]    

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Das „Tagebuch als eigene Gattung“, wie es Sparr schreibt, diente nicht allein Anne Frank als eine Form der Selbsterzählung aus der Generation der 1929 in Deutschland Geborenen. Doch die moralische Ambivalenz der Beschreibung von Sally Springer etc. dürfte selbst noch kurz nach dem Krieg und der Verbrechen an den Juden in Deutschland und Europa singulär zur Sprache gebracht sein. „1950“ als Untertitel des Abschnitts „Anne Frank in Deutschland“ markierte mit dem Buch Jugend unterm Schicksal aus dem Hamburger Christian Wegner Verlag die Unvergleichbarkeit des vermeintlich Ähnlichen. Denn einige Wochen vor Erscheinen des Tagebuchs der Anne Frank kamen Angehörige der Generation zu Wort, die „als Opfer, Opfer der Gewaltsamkeit des Krieges, der Vertreibung“ von sich sprachen und schrieben.[18] Für Sparr sticht indessen Annes in der 1950 divergierende Tagebuchliteratur hervor.
„Die deutsche Generation des Jahrgangs 1929 war um Welten geschieden vom Tagebuch der Anne Frank, seiner Ausdruckskraft, Differenziertheit, seinem Erfahrungsgehalt, seinem Ethos. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen, darum kann es nicht gehen. Sondern wir werden gewahr, dass das Tagebuch als eine Gattung 1950 das der Opfer war. Täter, junge und alte, führten weit seltener Tagebuch.“[19]

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In seinem Epilog kommt Thomas Sparr auf die Frage der Literatur zurück, nachdem er weltweit die unterschiedlichen Rezeptionen und „Debatten über das Tagebuch der Anne Frank“, nicht zuletzt als Theaterstück im Broadway-Format berücksichtigt und bearbeitet hat. Ein wenig kurios und doch vielsagend, wie der Name Anne Frank zirkuliert und unterschiedliche Bedeutungen annehmen konnte, ist der „»Anne-Frank-Tag«“, mit dem „(j)unge Japanerinnen (ihre erste Periode) bezeichnen“. (S. 187) Obwohl die Lektüre des Tagebuchs in den verschiedenen Versionen ganze Generationen von Leser*innen in Deutschland geprägt hat, „wurden die entscheidenden Debatten (…) nicht in Deutschland geführt, sondern in den USA, und zumeist von Jüdinnen und Juden“.[20] Die Fülle der Debatten und die Wahrnehmung als nahezu verbindliches „Dokument des Holocaust“ waren und wurden „problematisch“, wie es der Historiker Nicolas Berg herausgearbeitet habe. Sparr schließt vielmehr in Rekurs auf eine Ausstellung im Holocaust Memorial Museum von 2003 – Anne Frank the Writer. An unfinished Story – mit dem Wunsch, Anne Frank „als Schriftstellerin“ zu entdecken.

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Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank liegt nun dankenswerterweise zwar als Buch vor, aber sie ist nicht beendet, worauf immer wieder neue Ereignisse um das Tagebuch und den Namen seiner Autorin einen Wink geben. Einerseits war und ist das Buch als materielle Form von Erzählungen immer umkämpft und von der Vernichtung wie nicht zuletzt durch die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten im März bis Oktober 1933 bedroht gewesen. Die Brandstifter verbanden damit immer die Hoffnung der Auslöschung von Literaturen und Wissen. Andererseits hat sich der symbolische Akt der Bücherverbrennungen zwar kurz- und mittelfristig als verheerend, aber nicht endgültig erwiesen. Sparr erwähnt, dass es „in Bibliotheken wie Schulen einzelner US-Staaten“ Bestrebungen gebe, „das Tagebuch auf den Index zu setzen, weil das Tagebuch der Anne Frank zu freizügig sei, um Maßstäben evangelikaler Sittlichkeit zu genügen“. „Anne Frank lacht.“[21]

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In meiner Besprechung der Buchvorstellung, der Biographie und marginal des Tagebuches bin ich heute am 9. November 2023, dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, nicht auf die Verbrechen der Nationalsozialisten, wie Anne Frank sie in ihrem Tagebuch beschrieben hat und wie sie ihr widerfahren sind, eingegangen. Sie sind verbriefte Ereignisse und Literatur geworden. Sie gehören heute in Deutschland zu einem Geschichtswissen, das sich nicht mehr wie in den 50er Jahren leugnen lässt, es sei denn als politisch motiviertes Verbrechen der Holocaustleugnung oder als nicht weniger verbrecherischer „Fliegenschiss“ der deutschen Geschichte.[22] Auf bedrückende Weise haben die Reaktionen der Wochen seit des Terrorangriffs auf Israel durch die Hamas in Erinnerung gerufen, dass Literaturen gelesen werden müssen, um eine Haltung einnehmen zu können. Medienstürme und Nachrichtenterror verwirren und verängstigen nur.

Torsten Flüh

Thomas Sparr

»Ich will fortleben, auch nach meinem Tod«
Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank.
Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023    
Gebundene Ausgabe 25,00 € (D)    

Weitere Informationen mit digitalisierten Quellen zu Anne Frank und ihrem Tagebuch:
Anne Frank Fonds
Founded by Otto Frank

Familie Frank Zentrum
Jüdisches Museum Frankfurt
Bertha-Pappenheim-Platz 1
60311 Frankfurt am Main

Anne Frank Haus
Prinsengracht 263
Westermark 20 (Eingang)
1016 DK Amsterdam  


[1] Siehe: Staatsbibliothek zu Berlin: Stolpersteine Unter den Linden 8. (Online)

[2] Nadja Zinsmeister: Wirbel um „Anne Frank“-Kita im Osten: Kritik an Umbenennung auch aus Frankfurt. In: Frankfurter Rundschau 06.11.2023, 22:20 Uhr.

[3] Thomas Sparr: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2023, S. 96.

[4] Siehe: Nadja Zinsmeister: Wirbel … [wie Anm. 2].

[5] Siehe: Torsten Flüh: Beethovens göttlichste Komposition. Zur Ausstellung der Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. Juli 2020.

[6] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 97.

[7] Siehe Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[8] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 16.

[9] Ebenda S. 16-17.

[10] Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne Frank Tagebuch. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2001 (30. Auflage: August 2022), S. 11.

[11] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 58.

[12] Ebenda S. 54.

[13] Siehe ebenda: Zeittafel, S. (ohne Seitenzahl) 311.

[14] Kursiv im Original. Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne … [wie Anm. 10] S. 11.

[15] Ebenda S. 16.

[16] DWDS: schweinisch.

[17] Anne Frank-Fonds (Hg.): Anne … [wie Anm. 10] S. 16.

[18] Thomas Sparr: »Ich will … [wie Anm. 3] S. 82.

[19] Ebenda.

[20] Ebenda S 306.

[21] Ebenda S. 304.

[22] Siehe: Torsten Flüh: Die Leere, der Begriff und sein Gebrauch oder Antisemitismus als Wissenskonstrukt. Zur Neuauflage des Berliner Antisemitismusstreits durch Nicolas Berg im Jüdischen Verlag. In: NIGHT OUT @ BERLIN 14. Juni 2023.

Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Literatur – Ausstellung – Vermittlung

Vom Logogriph als Genre der Zeitung

Zur Sonderausstellung Zwischen Tinte und Tatsache: Kleists „Berliner Abendblätter“ und den Kleist-Festtagen in Frankfurt (Oder)

Zwischen Kleist-Museum und Kleist Forum feierte die Stadt Frankfurt an der Oder zum zweiunddreißigsten Mal seit 1991 ab 10. Oktober ihren bekanntesten Sohn an sechs Tagen unter dem Titel Vom Suchen und Erfinden. Anke Pätsch, Kleist-Museum, und Florian Vogel, Kleist Forum, hatten ein umfangreiches Programm ausgearbeitet. Das rbb-Studio im Oderturm und der Regionalsender überhaupt engagierten sich tatkräftig vom Ufer der Oder mit dem Kleist-Museum bis in die Obere Stadt mit dem Kleist-Forum am Platz der Einheit. Frankfurts Innenstadt wurde gegen Ende des Krieges im April 1945 zu 93% zerstört. In den 50er und 60er Jahren wurde sie unter Aufgabe des alten Stadtgrundrisses neu aufgebaut. Die spätbarocke Garnisonsschule von 1777 in der Faberstraße wurde 1968 zum Kleist-Museum umgebaut. Frankfurt nennt sich heute „Kleiststadt“.

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Es ist vor allem das Literaturmuseum mit dem Namen Kleist, das Frankfurt zur „Kleiststadt“ gemacht hat. Die Gedenk- und Forschungsstätte bildet den Kern des Stadtnarrativs seit den 1970er Jahren, das nach 1989 und noch einmal stärker nach dem Kleistjahr 2011 zum Lable der Stadt geworden ist. Der historische Teil des Museumsgebäudes wird gerade saniert und modernisiert mit Bundes-, Landes- und Stadtmitteln. Das Kleist-Denkmal im Gertraudenpark von 1910 leitete verspätet mit seiner Bronzefigur literatur- und stadthistorisch im Duktus des Kaiserreichs eine Erhebung Heinrich von Kleists in den Literaturkanon ein mit den Worten: „einen idealen Jüngling (…), in der Form elastisch-geschmeidig, kräftig in seinem Gliederbau, von schwerer Abspannung sich lösend, dahingesunken die Leyer zur Seite legend, und doch, lorbeerbekränzt, bereit, sich wieder zu erheben“.[1] – Wie lässt sich indessen Kleists Zeitungsprojekt von 1810 für eine Ausstellung visualisieren?

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Der Literaturbegriff wird noch bis ins 21. Jahrhundert auf die Belletristik verkürzt, obwohl Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis erhielt.[2] Das hätte eine breitere Debatte anstoßen können. Alexijewitsch wurde zum Vorwurf gemacht, dass es sich bei ihren zunächst in Zeitschriften veröffentlichten Texten um „Journalismus“ handele, dem man „nicht mit Literatur verwechseln“ dürfe, weil sie „nur“ Interviews aufgeschrieben habe.[3] Die Ausstellung setzt nun gerade an diesem Punkt ein, wenn es heißt: „Heinrich von Kleists „Berliner Abendblätter“ waren ihrerzeit eine der ersten Tageszeitungen im deutschsprachigen Raum und eine echte Sensation: Sie ließen die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur verschwimmen.“[4] In der Pressemitteilung heißt es weiter: „Als Herausgeber und Redakteur (…) bewegte er sich in seinen Artikeln zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Berichterstattung und Literatur.“[5]

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Heinrich von Kleist spielt in seinen Berliner Abendblätter eine Vielzahl von Literaturformen zwischen Tagesbegebenheiten, dem Logogriph Der Griffel Gottes, dem Gerücht, dem Polizei-Ereigniß, der heute auf dem Smartphone aufpoppenden „Eilmeldung“ Extrablatt, dem Glossar Charité-Vorfall oder dem Druckfehler ebenso wie Miscellen, Legende und Anekdote, dem Brief Schreiben aus Berlin. 10 Uhr Morgens. etc. durch. Christoph Martin Wielands Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst verwirft die im Barock beliebten „Logogryphe()“[6] 1757 als „närrische() Erfindungen eines kranken Witzes“[7]. Im 19. Jahrhundert werden sie verstärkt zu einer Mode in Zeitungen und Zeitschriften. Geht es zunächst um ein poetologisches Verfahren durch Umstellung von Buchstaben andere Worte und Bedeutungen zu erzeugen – „s i e  i s t  g e r i c h t e t !“[8] –, popularisieren die sich seit den 1840er Jahren verbreitenden Zeitungen das „Logogryph“ zum Rätselraten, das nur eine Antwort gelten lässt.[9] Kleist macht es am 5. Oktober 1810 einmal zur Angelegenheit der „Schriftgelehrten“ und nicht nur zum Witz.

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Viviane Jasmin Meierdreeß hat als Kuratorin die Ausstellung in vier Sequenzen und einer Mitmachebene für die Besucher*innen aufgeteilt. Dabei geht es zunächst um eine eher abstrakte Topographie der Abendblätter von Berlin „Die Stadt als Handlungsort“, dann um das „Extrablatt“ als Genre, um das Berichten „Zwischen Fakt und Fiktion“ und um die Berliner „Zensur“ als Veröffentlichungsrahmen der Tageszeitung. In der Raummitte ist ein schreibpultartiger Tisch mit Texten, Stiften, Papier und mit einer Schublade, in der sich eine transparente Box für Kommentarzettel befindet, aufgestellt. Das Studio Neue Museen aus Halle hat die visuelle Gestaltung eingerichtet. Ein Modell des Ballons von „Prof. J.“, der mit dem „Wachstuchfabrikanten“ Carl Friedrich Claudius „in die Luft“ gehen sollte, aus dem Otto-Lilienthal-Museum in Anklam gehört zu den Ausstellungsstücken, die gleich beim Betreten des Raumes ins Auge fallen. Der im „Schreiben“ am 15. Oktober 1810 um „10 Uhr Morgens“ angekündigte Ballonaufstieg „um 11 Uhr“, war um „2 Uhr Nachmittags“ noch nicht geschehen, „es verbreitete sich das Gerücht, daß er vor 4 Uhr nicht in die Luft gehen würde“.[10]   

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Die Zensur aller Zeitungen durch das Innenresort, vergleichbar in der Zuständigkeit eines Innenministeriums, des Preußischen Staates, dem Karl August von Hardenberg unter Friedrich Wilhelm III. seit Juni 1810 als Staatskanzler vorstand, wird genauer als Rahmen für Kleists Projekt chronologisch durch eine Zeitachse über eine Wandseite visualisiert. Zugleich wird „die drohende Zensur“ als Grund für das Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“ (Pressemitteilung) angegeben. Einerseits erhielt Kleist überhaupt die Gelegenheit durch Hardenberg, das Projekt einer Tageszeitung zu starten, das mit dem Gebet des Zoroaster als „Einleitung“ quasi programmatisch am 1. Oktober 1810 eröffnet wird.[11] Andererseits installiert Hardenberg eine Zensur der politischen Meinungsäußerung unter der Besatzung durch Napoleonische Truppen in Berlin und Preußen bei einer bedingten Eigenständigkeit seit Oktober 1806[12], als Schadows Quadriga vom Brandenburger Tor nach Paris in den Louvre abtransportiert worden war.[13]

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Die politischen Rahmenbedingungen in Berlin waren mit dem Brandenburger Tor ohne Quadriga als Symbol der Souveränität Preußens gewissermaßen tagtäglich offensichtlich. Doch war „die drohende Zensur“ für Heinrich von Kleists Schreib- und Publikationsverfahren in den Berliner Abendblättern der Grund für ein Schwanken „zwischen Berichterstattung und Literatur“? Der Literaturbegriff spielt zweifelsohne eine entscheidende Rolle für die Einordnung der Texte in Form und Materialität einer Zeitung als Blätter statt eines gebundenen Buches oder Heftes. Mit dem frühen „Schreiben aus Berlin“ wird eine neuartige Zeitlichkeit im Bericht formuliert, wenn gleichsam am „Puls der Zeit“ von 10:00 bis 14:00 Uhr eine Dynamik der Ankündigung durch Verschiebungen bis zum „Gerücht“ sehr genau formuliert wird. Ist das noch ein Bericht? Oder schon eine Analyse sprachlicher Prozesse von Ereignissen? Der blau gestreifte, gelbe Ballon als Eyecatcher mit winziger Figur im Korb sieht gut aus. Doch dann kommt das Lesen von Kleists Texten.

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Das Lesen in Ausstellungen ist für die aktuelle Zielgruppe der Smartphone-Nutzer*innen zwischen 6 und 60 eine Herausforderung. Eilmeldungen und Push-Nachrichten werden rauf und runter gescrollt mit dem Fingerwisch. Gleich einem Extrablatt terrorisieren in der Phase bewaffneter Konflikte in Europa und dem angrenzenden Nahen Osten – ja, wen denn? – die Leser*innen. Gerade junge Menschen – sagen wir zwischen 16 und 36 – werden auf X, TicToc, WhatsApp etc. von vermeintlichen Meldungen und Narrativen terrorisiert und manipuliert. – Sie lesen nicht? Doch sie lesen: Eilmeldungen, Push-Nachrichten, Überschriften, Link-Kürzel etc. Sie lesen Worte wie: Hamas, Palästina, Juden, Israel, Kind, Baby, Krankenhaus, Hass, Iran, Irak, Opferzahlen, Namen und Bezeichnungen wie Mörder in Deutsch und Englisch, aber Arabisch etc.. Auf Facebook werden die Traueranzeigen mit Kurzbiographie ermordeter Israeli geteilt, auf TicToc blutende Babys gezeigt. Alle, wir sind verdammt zum Lesen! Nur: Wie lesen?

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Kommen wir also zurück zu den Visualisierungen in der Ausstellung z.B. das Brandenburger Tor! Das Brandenburger Tor ist abstrahiert mit Quadriga dargestellt. Das Brandenburger Tor hat mit Quadriga heute einen weltweiten Wiedererkennungseffekt gleichsam von Frankfurt an der Oder bis Fuzhou am Min Jang in China. Man braucht die Quadriga auf dem Tor nur anzudeuten, und schon wissen wir, dass das Brandenburger Tor gemeint ist. 1810 war sie weg. Visualisierungen in Ausstellungen wollen und sollen gelesen werden. Sie pendeln zwischen Bild und Schrift. In der Ausstellungsarchitektur von Studio Neue Museen werden Texte bildhaft präsentiert wie das „Zitat“ zum „Extrablatt“ und dann gibt es noch größere Textflächen mit kleiner Schriftgröße, an die die Besucher*innen herantreten müssen, um sie lesen zu können. Die Texte sind insofern visuell in Stufen gegliedert. Die Besucher*innen sollen über plakative bzw. bildhafte Schrift an Kleists Texte herangeführt werden. Jede Stufe erfordert eine Entscheidung, mehr zu lesen.

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Zur Ausstellung Zwischen Tinte und Tatsachen wurden während der Kleist-Festtage „Express-Führung(en)“ angeboten. So auch zum „Feierabend mit Kleist“ am 13. Oktober mit „Express-Führung und Konzert“. Der Pianist Ricardo Bozolo spielte als Hommage Werke aus der „Spätromantik“ von Brahms, Mendelssohn Bartholdy und Chopin. Bozolo schlug den Bogen in seiner Ankündigung von Kleist zu den Klavierstücken über das Unglückliche und Romantische. Er ist seit 2021 Klavierlehrer an der Musikschule der Stadt Frankfurt Oder. Die „Express-Führung“ zum „Journalisten Kleist“ und das gefühlvolle Konzert mit Werken von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Frédéric Chopin produzierten einen gewagten Eindruck von der Literatur Heinrich von Kleists wie sie vor 1910 rezipiert wurde. Also, Frédéric Chopin (1810-1849) als Komponist in Konstellation mit Kleist wäre gewiss noch einmal interessant, aber ganz anders in ihren Männerfreundschaften!

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Der durch verknappende Online-Medien wiederkehrende Epochenbegriff der Romantik macht genau das Gegenteil von dem, was Heinrich von Kleist als Redakteur und Dichter ebenso wie Journalist beispielsweise mit dem Logogriph Der Griffel Gottes messerscharf als Frage des Lesens und des Wissens bearbeitet. Literaturvermittlung sollte heutzutage viel stärker als Medienpädagogik praktiziert werden, die sich wunderbar, möglicherweise mit einem etwas zeitraubenden, genauen Lesen einiger weniger Kleist-Texte in der Zeitung üben lässt. In den Berliner Abendblättern gibt es keine Kuschelromantik bei Rotwein und Häppchen. Aber wenn man die Stolperstellen eines fraglosen Leseverstehens in den Tagesbegebenheiten und Schreiben aus Berlin ernst nimmt, dann könnte Literatur für junge Menschen ein Angebot für andere Praktiken beim Scrollen und Lesen bieten, was gesellschaftspolitisch relevant wäre.

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Als Uraufführung boten der Schauspieler Mathieu Carrière und seine Tochter Elena die Lese-Performance Kleist und andere Monster auf der Studiobühne des Kleist-Forums. Im ersten Teil des Abends lasen Tochter und Vater aus Mohamed Kacimis Stück Ich liebe den Tod so wie ihr das Leben mit verteilten Rollen als Geheimdienstoberst und Selbstmordattentäter. Im Ankündigungstext heißt es, dass das Stück in Frankreich verboten war, um dem „Monster“ keine Stimme zu geben. Matthieu Carrière hatte schon 2020 Kacimis Die Jungfrau von Orleans zu den Kleist-Festtagen im Kleist-Forum übersetzt und mit Freund*innen gelesen. Die Freiheit des Theaters gewiss auch im kleistischen Sinne stand zur Frage. Carrière hat als Schauspieler immer eine starke, intellektuelle Beziehung zur französischen Literatur und Kultur gepflegt und dies zu einer Art Alleinstellungsmerkmal gemacht. Im zweiten Teil der Lese-Performance bot Judith Rosmair vor allem eine textliche Überarbeitung des Monologs der Penthesilea aus dem gleichnamigen Stück von Heinrich von Kleist.

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Der Begriff Monster ist in der deutschen Sprache überwiegend junger Menschen recht populär. In der Titel-Kombination mit dem Namen Kleist geht es weniger um ein „furchterregendes, hässliches Fabelwesen, Ungeheuer von fantastischer, meist riesenhafter Gestalt“ als vielmehr um „etwas furchterregend Großes, Unübersichtliches, ein gefährliches Ungetüm“[14]. Sind Selbstmordattentäter und Heinrich von Kleist Monster? Oder ist es für islamistische Selbstmordattentäter ein Euphemismus? Ist das von einem Monster Reden einfach woke? Was passiert, wenn eine junge Schauspielerin (28) einen mordenden islamistischen Attentäter liest? Verliert seine angekündigte Tat dann ihren Schrecken? Am 13. Oktober 2023, 6 Tage nach dem Massaker auf einem Club Festival und in Kibbuzen, in der sich auf die Schrift (!) des Koran[15] berufenden Hamas an israelischen Männern, Frauen, Kindern, Babys, Alten und ihrer kriegsrechtswidrigen Entführung als Geiseln nach Gaza klang das monströs falsch auf der Studiobühne des Kleist-Forum.

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Matthieu Carrière gab zwar nach der Lese-Performance seine Bedenken zur Zeitgemäßheit seiner Uraufführung kund und lud zu einem Gespräch ein. Doch die Kunstfreiheit des Theaters blieb beschädigt. Dafür hätte die Performance zuvor stärker eingeordnet werden müssen. Es herrschte vielmehr eine Sprachlosigkeit nach der Aufführung. Eine Einordnung der Ereignisse vom 7. Oktober in Israel fand auch von Herrn Vogel nicht statt. Betrübnis. Betretenheit. Aber wie Worte finden? Was darf das Theater? Kleist allemal arbeitete an der Sprache und ihren Fallstricken nicht zuletzt in den Berliner Abendblättern. Gewiss auch mit der furchtbaren Verwechslung der sich im Reim Sinn vorschützenden, mordenden „Küsse“ und „Bisse“ der Penthesilea.

Torsten Flüh  

Sonderausstellung:
Zwischen Tinte und Tatsache:
Kleists „Berliner Abendblätter“
bis 25. Februar 2024
Kleist-Museum
Faberstraße 6-7
15230 Frankfurt (Oder)


[1] Die Verzahnung von Kleists Literatur mit dem Narrativ der Nation wurde von Wolfgang Barthel herausgearbeitet. Das Frankfurter Kleist-Denkmal hatte zum „Nationaldenkmal“ werden sollen. In Ermangelung eines zur Übertragung in eine Statue geeigneten Bildes vom Dichter schwingt in der Beschreibung des Denkmals mit dem „idealen Jüngling“ in der Formulierung „bereit, sich wieder zu erheben“ die nationale Bestimmung mit.  Wolfgang Barthel: Der Traum vom Nationaldenkmal : Gottlieb Elsters Denkmal für Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder. [Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte, Frankfurt an der Oder] / Frankfurter Buntbücher ; 1. Frankfurt, 1991, S. 12.

[2] Zu Swetlana Alexijewitsch siehe: Torsten Flüh: Eine Feier des Austausches und die Trauer. Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 26. Oktober 2023.

[3] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[4] Zitiert nach Website: Sonderausstellung: Zwischen Tinte und Tatsache. Kleist-Museum.

[5] Kleist-Museum: Pressemitteilung 28/2023 vom 9. Oktober 2023.

[6] Jens König: Aenigma. In: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 1 A-Bib. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992, S. 193.

[7] Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst. Anno 1757. In: Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Wielands Gesammelte Werke. Erste Abteilung. Vierter Band. S. 343.

[8] (Heinrich von Kleist:) Der Griffel Gottes. In: Berliner Abendblätter 5tes Blatt. Den 5ten October 1910.
Zum Logogriph siehe auch: Torsten Flüh: Schweigen? – Aushalten. Indigo und die Kleist-Preis-Rede von Clemens J. Setz im Deutschen Theater. In: NIGHT OUT @ BERLIN 24. November 2021.

[9] Zur Geschichte des Logogryphs siehe: Jens König: Aenigma … [wie Anm. 6] S. 187-195.
Ebenso verkürzend: Wikipedia: Logogriph.
Zum Logogryph siehe auch den Gebrauch durch Friedrich II. im Siebenjährigen Krieg in: Torsten Flüh: Für eine Kulturforschung der Sexualitäten. Zu Tim Blannings neuer „Biographie“ FRIEDRICH DER GROSSE. König von Preußen. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Februar 2019.

[10] (Heinrich von Kleist:) Schreiben aus Berlin. In: Berliner Abendblätter 13tes Blatt. Den 15ten October 1910.

[11] Zur Einleitung siehe: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 56-60.

[12] 1810 malte Carles Meynier das monumentale Gemälde von 330 x 493 cm Entrée de Napoléon à Berlin. 27 octobre 1806, das in Versailles hängt. Die Quadriga ziert noch das Brandenburger Tor auf dem Bild, bevor sie in der Militärtradition der Trophäe, zerlegt und abmontiert wird. Sie kehrt im April 1814 nach dem Sieg über Napoleon nach Berlin zurück und wird zum Nationalsymbol.

[13] Siehe: Torsten Flüh: Vom vermessenen Augenblick. Zur Ausstellung Johann Gottfried Schadow – Berührende Formen in der Alten Nationalgalerie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Februar 2023.

[14] DWDS: Monster.

[15] Zur Schrift des Koran siehe: Torsten Flüh: Das Ursprüngliche des Korans. Stefan Weidners Seminar Vom Übersetzen des Unübersetzbaren im Literarischen Colloquium Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. Februar 2010. (als PDF unter Publikationen)

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Literaturen – Künstler*in – Austausch

Eine Feier des Austausches und die Trauer

Zu HERE AND NOW. Ein Fest zum 60. Jubiläum des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in der Akademie der Künste

Musiker*innen und Komponist*innen sind es vielleicht, die als Stipendiat*innen des Berliner Künstlerprogrammes wie Matana Roberts und Merche Blasco durch das Festival Maerz Musik besonders gut vernetzt sind in den Medien der Stadt. – Wer? – Beim Namen Swetlana Alexijewitsch, Literaturnobelpreis 2015, meint dagegen sofort jede und jeder zu wissen, von wem und was die Rede ist. Sie war – immerhin mit 62 Jahren für den Literaturnobelpreis gehandelt – 2011 Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms. Aus Anlass des 60. Jubiläums unterhielt sie sich am 12. Oktober mit dem Präsidenten des DAAD, Prof. Dr. Joybrato Mukherjee, über das Sprechen mit Menschen in Weißrussland, der Ukraine und Russland. Gestreift wurde auf der Jubiläumsveranstaltung unter Schock auch der Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober auf die israelische Zivilgesellschaft.

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Die Leiterin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Silvia Fehrmann moderierte charmant den Abend im HERE AND NOW mit Grußworten von Katja Keul, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Oliver Friederici, Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Berliner Senat, und Prof. Dr. Joybrato Mukherjee sowie das Bühnenprogramm mit den teilnehmenden Fellows wie MADEYOULOOK aus Südafrika, Matana Roberts aus den USA, Merche Blasco aus Spanien, Jay Bernard aus Großbritannien und natürlich Swetlana Alexijewitsch, die 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2015 den Literaturnobelpreis erhielt. Im Juni 2021 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz von Frank Walter Steinmeyer verliehen. Sie lebt seither in Berlin.[1] In den Grußworten wie im Podiumsgespräch wurden die Kraft der Kunst, der Literatur und des kulturellen Austausches beschworen sowie der Terrorangriff angeschnitten.

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Einleitend und rückblickend ist bedenkenswert, dass der Terrorangriff der Hamas von den Akteur*innen im HERE AND NOW zwar 5 Tage danach angesprochen, betrauert, die verstörenden Freudenbekundungen auf der Sonnenallee verurteilt wurden, doch anders als die Kriegserklärung Putins gegen die Ukraine und die Kultur des Westens, nicht als ein Angriff auf eine Kultur des Austausches, der Diversität und „des Westens“ formuliert wurde.[2] Die Kultur des Austausches in einer Praxis des gegenseitigen Schenkens und Respekts als Leitbild des Berliner Künstlerprogramms und des DAAD war auf schockierende Weise massiv angegriffen worden. In den „Leitlinien“ des Künstlerprogramms heißt es u.a.:
„Als Team des Berliner Künstlerprogramms des DAAD haben wir die Verantwortung, diese ethischen und demokratischen Werte zu wahren. Wir arbeiten unablässig daran, unser Programm so inklusiv und sicher wie möglich zu gestalten – für Menschen aller Geschlechter, Rassifizierungen, Altersgruppen, Veranlagungen und Klassen sowie für weitere Gruppen, die häufig unerwähnt bleiben. Wir fordern daher alle auf – unsere KollegInnen, PartnerInnen und AuftragnehmerInnen sowie unsere StipendiatInnen und BesucherInnen –, sich gegenseitig zu respektieren.“[3]

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In der deutschen Debatte um den Terrorangriff, die gezielte bestialische Gewalt gegen Israelis, gegen jüngste, junge bis sehr alte Jüd*innen und eine offene Gesellschaft, wie sie mit dem psychodelischem-trance Supernova Festival von Re‘im angegriffen worden ist, wird lediglich auf die propalästinensischen Freudenfeiern mit Feuerwerk auf der Sonnenallee verschoben. „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im Ressort der CDU des Berliner Senats? Mit derartigen Verschiebungen geht es darum, sich nicht angesprochen bzw. angegriffen fühlen zu müssen. Längst ist der Palästinakonflikt als Kern des Nahostkonflikts kein lokaler mehr. Einerseits brüstet sich die Hamas selbst damit, dass sie durch ihre widerlichen Taten und den offenbaren Missbrauch von hunderten palästinensischen jungen Männern, die sie mit syrischem Captagon, der sogenannten „Dschihadisten-Droge“[4], in sexualisierte Kampfmaschinen verwandelt hatte, wieder auf der Tagesordnung der Weltpolitik steht, nachdem Israel schon mit Saudi Arabien Beziehungen aufgenommen hatte und die Hamas in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte. Andererseits nutzen die Mullahs in Teheran und Erdogan die Hamas als Schachfigur in einem Krieg der Autokraten und Patriarchen gegen die Demokratie und westliche Werte, weil ihre Regime kulturell selbst massiv unter Druck stehen.

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Permanent wird aktuell hinsichtlich Israel und Palästina mit Gaza medial versucht, eine Homogenität von territorialen Lagern herzustellen, die sich bei näherer Betrachtung in Ängste, Medienschlachten und bestenfalls Heterogenität auflöst. Das ist nicht nur ein deutsches Problem. Kein einziger Staat des Nahen Osten oder der arabischen Welt ist homogen – weder Israel noch der Nicht-Staat Palästina. Widerstreitende Narrative des Islam und des Judentums kursieren lebhaft in der Region. Die Historisierung des Konflikts ist für die Hamas nur noch ein Kampfmittel, das islamistisch aufgeladen wird, während sich eine Weltöffentlichkeit und nicht zuletzt der aus Portugal stammende, ehemals sozialistische UN-Generalsekretär António Guterres im historischen Narrativ verstricken. Die Spaltung geht weit ins Innere der von den USA initiierten Weltgemeinschaft der Vereinten Nationen (UN), die die Hamas und damit das Regime in Teheran mit der Historisierung ihres Terrors erreicht haben. Statt Respekt zu üben, wird ein Terrorkrieg nicht allein um Israel und sein Territorium geführt. In den Berliner Jubiläumsreden auf der Bühne der Akademie der Künste wurde dieser weitreichende, kulturelle Konflikt, der die Leitlinien des Künstlerprogramms massiv angreift, umgangen. – Vielleicht saß der Schock noch zu tief.  

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Als Vorspann präsentierte das kollaborative Künstlerkollektiv MADEYOULOOK aus Molemo Moilea und Nare Mokgotho das Videoprojekt Menagano (2022). Sie waren Stipendiat*innen 2022 im Künstlerprogramm. Die Darstellung einer Landschaft bleibt im Video schemenhaft, um es einmal so zu formulieren. Es geht von einer de-kolonialen Wahrnehmung von Landschaft aus. Die genaue und innere Kenntnis des Landes prägt die ästhetische Imagination von Land und befragt mit dem programmatischen Namen – made you look – des Kollektivs, was eine Landschaft sehen lässt. Insofern wird das koloniale Verständnis der Landschaftstradition in den visuellen Künsten gestört. Das Video will nicht einfach eine Landschaft zeigen. Vielmehr erforscht es Sichtweisen der Landschaft nach ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen. Sie bieten dafür Modelle der Erinnerung von Geschichten, orale Traditionen, „black love“ etc. an, die die Landschaft in ihrer Sichtbarkeit befragen, aus hierarchischen Verhältnissen lösen und zerstreuen. Da das Video vor der Anmoderation gezeigt wurde, zerstreute es sich auch in dem Eintreffen und Gesprächen des Publikums.

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Die Jazz-Saxophonistin, Jazz-Klarinettistin und Komponistin Matana Roberts, die 2018 im Bereich Musik & Klang am Programm teilnahm, ist in den USA recht bekannt. Ihr Kostüm mit bis auf die Augenbrauen gezogenem Zylinder, wallendem Gewand und an Kreolen erinnernden großen, flächigen Ohrgehängen erinnerte den Berichterstatter – möglicherweise völlig zu Unrecht – an New Orleans und James Bond 007 in Leben und sterben lassen (1973). Matana Roberts wird zum Jazzstil der New Creatives gezählt, die hoch individuell und flexibel ihre Performances einrichten. Sie bot damit eine besondere Jubiläumsperformance, mit der sie das Berliner Künstlerprogramm des DAAD als ein einzigartiges mit einer Improvisation aus Text und Sound feierte. Zugleich erinnerte sie an die glimmer: aurum performance  von und mit Otobong Nkanga zum 50. Jubiläum 2013.[5] Otobong Nkanga hat seither eine Reihe namhafter Kunstpreise verliehen bekommen.

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In mehrfacher Hinsicht war das vielschichtige Gespräch von Joybrato Mukherjee mit Swetlana Alexijewitsch über ihre Literatur der Höhepunkt des Festprogramms. Denn sie hat mit der „Komposition ihrer Interviews (…) eine() eigene() literarische() Gattung gefunden“, wie es Gottfried Honnefelder am13. Oktober 2013 in der Paulskirche in der „Urkunde“ des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels formulierte.[6] In seiner „Begrüßung“ stellte Honnefelder die Frage, ob „es Frieden geben“ könne, „wenn Menschen – und mit zunehmender Moderne ganze Menschengruppen – stumm gemacht werden und als Randphänomene politischer Prozesse aus dem Blick geraten, ja vom Rest der Welt vergessen werden“.[7] Die wenig später nobelpreiswürdige Arbeit mit der und für die Literatur von Swetlana Alexijewitsch besteht nicht in einer Befriedung widerstreitender, ja, sich bisweilen in wenigen Sätzen eines Interviews bekämpfender Narrative, sondern im Zulassen und Aufschreiben des Widersprüchlichen. Kein Urteil. Keine Kommentierung. Keine Konklusion.
„»Was wäre, wenn der Putsch gesiegt hätte? Er hat doch gesiegt! Das Dserschinski-Denkmal wurde gestürzt, aber die Lubjanka ist geblieben. Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.«“[8]

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Die Frage der Literatur oder Literaturen bricht mit Alexijewitschs Schreib- und Kompositionsverfahren auf. Kolportiert sie nur? Oder komponiert sie schon, wenn sie schreibt: „Ich sitze in der Küche bei Moskauer Bekannten. Eine große Truppe ist versammelt – Freunde, Verwandte aus der Provinz. Wir erinnern uns, dass am nächsten Tag der Jahrestag des Augustputsches ist.“[9] Und dann folgt neben anderen eine weitere namenlose Stimme, die den „Putsch“ vom 19. bis 21. August 1991 in Moskau einordnen will, die eine atemberaubende Formulierung findet: „Wir bauen den Kapitalismus unter Führung des KGB auf.“ Das ist ein kurzer, ich möchte wohl sagen, kleiner Satz, der in seinem nachträglichen Wahrheitsgehalt auf einen gewissen KGB-Mitarbeiter in Dresden, Wladimir Wladimirowitsch Putin, zuzutreffen scheint. Das konnte selbst 2015 noch niemand so klar wissen. Wir wissen nicht, ob der Satz tatsächlich so oder etwas anders in Moskau gefallen ist. Heute springt er bestimmt nicht nur für mich wie eine Prognose und Wahrheit hervor.

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Swetlana Alexijewitsch hat das Zuhören zum Verfahren ihrer Literatur gemacht, worauf sie nicht zuletzt Joybrato Mukherjee im Podiumsgespräch wiederholt ansprach. Das Zuhören und Aufschreiben geschieht ohne einen „Haltepunkt, eine(r) oberste(n) und rettende(n) Instanz“, wie es Karl Schlögel in seiner Laudatio 2013 nannte.[10] Die Fragen nach der Ungeheuerlichkeit des russischen Angriffs auf die Ukraine nach Befehl Putins ließen die Schriftstellerin fast ungerührt. In ihren Texten mit den Gesprächen aus den 90er Jahren sind alle Narrative bereits enthalten, die sich in der Kriegserklärung verdichteten und entluden. In den Aufzeichnungen einer Beteiligten schreibt sie bereits 2013:
„Veraltete Ideen leben wieder auf: vom großen Imperium, von der »eisernen Hand« … Die sowjetische Hymne ist zurück, es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt »Die Unseren«, es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie …“[11]

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Im deutschen Feuilleton brach 2015 eine heftige Debatte über die Literatur[12] aus, als die Feuilleton-Chefin der ZEIT, zweifellos eine „Instanz“, Iris Radisch, wiederholt schrieb und sagte, dass Alexijewitschs Texte „keine Literatur“ seien. Literatur müsse „etwas Schöpferisches haben“. Sie müsse „«fiction», eine eigene Erfindung sein“. Sie müsse „eine besondere Sprachqualität haben“. Und sie müsse „- das ist ganz wichtig – eine eigene imaginative und weltverwandelnde Kraft haben“.[13] Gegenüber Karl Schlögels Diktum – „Swetlana Alexijewitschs Schreiben beginnt mit einem Abschied von der schönen Literatur.“ – von 2013 hatte sich Radisch doch noch ein wenig Zeit gelassen, um die polyvokale Literatur der „Küchengespräche“[14] als eine aus Literaturen zu verwerfen. Kann es mehr Weltverwandlung geben als mit der Formulierung „Wir bauen den Kapitalismus unter der Führung des KGB auf“?  

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Swetlana Alexijewitschs Literatur beginnt bei der Selbsterzählung der Menschen, nicht zuletzt als „Homo sovieticus[15], die sich nicht einfach nur als eine Reportage abtun lassen. Denn das Erzählen von sich selbst und einer Katastrophe mit einem nachträglichen Wissen legt kollidierende Narrative z.B. von Milch als Medizin frei. Wir wissen selbst bei Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft (1997/2019) nicht, wie viel nachträgliches Wissen bereits in die stockende Erzählung von den ersten Stunden der Katastrophe eingeflossen ist. Der paradoxe Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“ gibt einen Wink auf die narrative Uneinholbarkeit der Katastrophe. Denn eine Chronik wird immer erst nachträglich, chrono-logisch[16] und nicht im Voraus angelegt.[17] Nicht zuletzt prallen Narrative von der Zukunft, der Sicherheit, der Medizin etc. aufeinander.
„Meine Freundin Tanja Kibenok kam … Ihr Mann lag im selben Zimmer … Sie kam mit ihrem Vater, der hatte ein Auto. Wir fuhren ins nächste Dorf, um Milch zu besorgen. Etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt … Wir kauften mehrere Dreilitergläser mit Milch … Sechs, damit es für alle reichte … Aber die Männer erbrachen die Milch … Sie verloren immer wieder das Bewußtsein, man hängte sie an den Tropf. Die Ärzte behaupteten merkwürdigerweise, daß es Gasvergiftungen seien, von radioaktiver Strahlung sprach keiner.“[18]  

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Das Jubiläumsprogramm bekam auf diese Weise mit dem Gespräch mit Simultanübersetzung ins Englische und Deutsche eine zugleich andere als vorhersehbare Wendung und Aktualität. Eine sich in eine Vielzahl von Narrativen aufspaltende, sich schwer in Worte fassen lassende Katastrophe war passiert. Sie holte das Bühnenprogramm ein, war allgegenwärtig und ließ sich dennoch nicht einfach durch Verbalisierung vergegenwärtigen. Das Programm musste weiterlaufen. Wahrscheinlich geht es nicht ohne Programm und dem Festhalten an Narrativen, während diese attackiert werden. Alexijewitsch beharrt auf den „Stimmen … Stimmen … Die Gesichter verschwinden aus meiner Erinnerung, die Stimmen aber bleiben.“[19] Vom Gespräch bleiben die Stimmen, die mehr sind als die Narrative und das Auditive.[20]

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Merche Blasco verwandelt das Studio der Akademie der Künste im HERE AND NOW in einen Club. Der Club als ein Raum der Musik, der Lichteffekte, der Interaktion mit den Tanzenden und der zumindest erotisch aufgeladenen Interaktion der Tanzenden untereinander auf der Tanzfläche und in den Sitz- wie Liegeecken hat sich wenigstens seit The Long Now beim Festival MaerzMusik 2016[21] zur innovativen Schnittstelle von Experimentalkunst und Unterhaltung etabliert. Merche Blascos Live-Set als Teil einer umfangreicheren Komposition im Künstlerprogramm lässt sich durchaus tanzen, wenn das Format Jubiläumsveranstaltung nicht mit einem eher clubfernen Publikum in den Sitzreihen im Auditorium stattgefunden hätte. – Provokation? Nein, Praxis und Realität des kulturellen Austausches in generationellen Verhältnissen.

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Die Multimedia-Künstlerin Merche Blasco kommt zwar aus Spanien, lebt aber seit längerer Zeit in New York und zur Zeit in Berlin. An den Schnittstelle von DJ und Komposition wird von Merche im Live-Set als Kunstform mit Lichtquellen und elektromagnetischen Kraftfeldern ein komplexer Klang erzeugt, der zu tranceartigen Zuständen führen kann. Die Künstlerin kleidet sich für dieses Live-Set in der Tradition des Futurismus mit einer Art übergroßen spiegelnden Halskrause, fluoreszierenden Linien im Gesicht und im toupierten Haar. Die Bewegungen am Set wirken choreographisch durchgearbeitet. Mit wenigen Haltungsveränderungen werden komplexe Klangereignisse mit rhythmischen Elementen am Laptop und Set erzeugt. Die bewusstseinsverändernden Klang- und Lichteffekte gehören zum Setting des Clubs, zu dessen Intensivierung in Berliner Clubs als billiger Kokainersatz aktuell Captagon kursiert und konsumiert wird.

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Trance und Erweiterung des Bewusstseins könnten durchaus als Signatur des Futurismus‘ mit seinem Versprechen für Kunst und Kultur in der europäischen Moderne beschrieben werden. Zugleich geben die akustischen und visuellen Verfahren einen Wink auf den Russischen Kosmismus.[22] Multimedialität der Arbeit von Merche Blasco unter Einsatz digitaler Verarbeitungsprozesse generiert eine Intensivierung der Wahrnehmung, die paradigmatisch eine Loslösung von einer Normal-Wahrnehmung verspricht. Man könnte es zugleich als eine Art des Feierns und Rausches benennen wie eine fließende Programmierung. Die clubartige Musik- und Bühnen-Performance von Merche Blasco reflektierte nicht zuletzt Musikevents wie das Supernova Festival vom 7. Oktober an der Grenze zu Gaza.     

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Den Abschluss des Bühnenprogramms machte Jay Bernard mit einer eingespielten Lesung seines Kurzessay Über Kunst in Englisch und einer Projektion in Deutsch, was zu einer misslichen Kollision des Gehörten mit dem Gesehenen führte. Der queere und farbige Künstler und Schriftsteller Jay Bernard wuchs im Süden von London auf. Er präsentiert seine Position zur Kunst in Anknüpfung an Derek Jarman, der unter anderem 1986 den Film Caravaggio mit Dexter Fletcher und Tilda Swinton drehte, bevor er 1994 an AIDS verstarb. Projiziert wurde der deutsche Text auf blauem Hintergrund. Der blaue Hintergrund bezieht sich bereits auf ein Gedicht von Derek Jarman: „ The sky-blue butterfly/sways on a cornflower/Lost in the warmth/of the blue heat haze/Singing the blues/Quietly and slowly/Blue of my heart/Blue of my dreams…” Denn Jay Bernard hat mit BLUE NOW eine umfangreichere Arbeit zur Kunst veröffentlicht. Zu bedenken ist dabei u.a.. dass im Word-Programm Links blau unterlegt werden.

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Torsten Flüh


[1] Vera Nerusch: Alexijewitsch: Weg zur Freiheit ist lang. (Interview mit Swetlana Alexijewitsch) In: DW 06.01.2022.

[2] Zum Wortlaut der Kriegserklärung siehe Torsten Flüh: Das Putin-Rätsel. Zur großen Demonstration „Stoppt den Krieg“ und den dezentralen Protesten. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2022.
Und: Komische Verspätung à point. Zum Hörspiel Mädchenzimmer mit Soldaten von Anna Pein in der Akademie der Künste. In: NIGHT OUT @ BERLIN 2. April 2022.

[3] Berliner Künstlerprogramm: Leitlinien. (Internet)

[4] Siehe: ARD: Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon

Syrien und der Drogenhandel mit der „Dschihadisten-Droge“ Captagon. In: Tagesschau24 Stand: 10.07.2023 11:12 Uhr

[5] Siehe Torsten Flüh: The Golden Jubilee. 50 Jahre Berliner Künstlerprogramm des DAAD. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. Dezember 2013. (Publikationen)

[6] Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana Alexijewitsch. Ansprachen aus Anlass der Verleihung. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Frankfurt am Main 2013, S. 6.

[7] Gottfried Honnefelder: Begrüssung. In: ebenda S. 11.

[8] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Berlin: Suhrkamp, 2015, S. 32. (Zuerst: München: Carl Hanser, 2013.)

[9] Ebenda S. 29.

[10] Karl Schlögel: Laudatio. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6) S. 30.

[11] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 17.

[12] Zur Debatte über die Literatur siehe auch: Torsten Flüh: Flugblatt – Zeitung – Blog. Materialität und Medialität als Literaturen. Wien: Passagen Philosophie, 2017, S. 15-16.

[13] dpa: Radisch über Alexijewitsch: Das ist keine Literatur. In: Frankfurter Rundschau 10.10.2015 11:51 Uhr.

[14] Karl Schlögel: Laudatio… [wie Anm. 11] S. 41

[15] Swetlana Alexijewitsch: Secondhand … (wie Anm. 8) S. 9.
Siehe auch: Torsten Flüh: Oktobern als Befreiung und Disziplinierung des Menschen. Zur Ausstellung Das sowjetische Experiment und der Filmedition Der Neue Mensch. In: NIGHT OUT @ BERLIN 16. März 2017.
Ebenso: Torsten Flüh: Kontroverse Erinnerungskünste der Sowjetmacht. Zu Karl Schlögels Schmöker Das sowjetische Jahrhundert und einer Ausstellung im Haus Zukunft. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. November 2017. (als PDF unter Publikationen)

[16] Zur Chronologie als Format der Moderne: Torsten Flüh: Die Geschichte mit dem Dreh. Zur aufsehenerregenden Ausstellung Die Chronologiemaschine im Kulturwerk der Staatsbibliothek zu Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 8. September 2023.

[17] DWDS: Chronik.

[18] Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft. Berlin: suhrkamp taschenbuch, 2019, S. 21. (zuerst 1997 unter dem Titel Tschernobylskaja molitwa in der Zeitschrift Druschba narodow in Moskau)

[19] Swetlana Alexijewitsch: Dankesrede. In: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Swetlana … (wie Anm. 6)  S. 65.

[20] Zur Stimme siehe auch: Torsten Flüh: Audio? – Stimmen neu gehört. Zu Thomas Machos Eröffnungsvortrag der Mosse-Lectures mit dem Thema Nach der Stimme und Denise Reimanns Auftakte der Bioakustik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 17. November 2022.

[21] Siehe: Torsten Flüh: Unbestimmtheit und Verclubbung. Zu The Long Now 2016 im Kraftwerk Mitte bei MAERZMUSIK. In: NIGHT OUT @ BERLIN 22. März 2016. (als PDF unter Publikationen)

[22] Siehe: Torsten Flüh: Über die literarische Vollendung des Materialismus im Russischen Kosmismus. Zur Ausstellung und Finissage Art Without Death: Russischer Kosmismus im Haus der Kulturen der Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. Oktober 2017. (als PDF unter Publikationen)

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Emanzipation – Sexualität – Gewalt

Gewalt revolutionärer Emanzipation

Zur verspäteten Ausstellung Aufarbeitung: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Zeichen der Emanzipation im Schwulen Museum

Die Kuratorin der Ausstellung und Mitglied im Vorstand des Schwulen Museums, Dr. Birgit Bosold, formulierte bereits bei der Eröffnung des Schwulen Museums im Juni 2013 an seinem professionalisierten Standort in der Lützowstraße gegenüber dem Berichterstatter ihr Unbehagen mit den visuellen und literarischen Sammlungsbeständen.[1] Das Schwule Museum in der Trägerschaft eines Vereins aus Engagierten mittlerweile aller Vertreter*innen der LGBTIQ* Community hatte es geschafft, seine Emanzipation so weit zu institutionalisieren, dass es aus dem Hinterhof auf dem Mehringdamm[2] in großzügige, helle Räume auf mehreren Etagen in die Lützowstraße ziehen konnte. Mit mehr als zehnjähriger Verspätung kam nun durch die dankenswerte Hartnäckigkeit von Bosold die Eröffnung der Ausstellung zustande.

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Die Institutionalisierung als ins Vereinsregister eingetragener Verein, durch öffentliche Projektmittel des Hauptstadt Kulturfonds und der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs finanzierte Ausstellung und Form der Anerkennung wie Bestätigung der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung seit den 1970er Jahren, als die ARD am 15. Januar 1973 Rosa von Praunheims und Martin Danneckers Agitprop-Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt bis auf Bayern bundesweit im Fernsehen ausstrahlte, hatte vermeintlich das Versprechen der Emanzipation zur Gleichheit durch ihr eigenes Museum eingelöst. Doch die Umbrüche und Unordnung revolutionär-libertärer Befreiungsbewegungen produzieren zugleich Praktiken der Überschreitung, die im weiteren Prozess einer postrevolutionären Ordnungsfindung[3], inkriminiert werden können. Dann gilt es, die von der Bewegung zusammengetragenen und geschenkten Archive und Bestände aufzuarbeiten.

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Die schwule Emanzipationsbewegung ist in Narrative und visuelle Muster verstrickt, die seit dem 19. Jahrhundert wenigstens als prekär angesehen werden müssen. Eines der Narrative umschreibt die Bilder der Männlichkeit und ihre hierarchische Anordnung, wie sie von Johann Joachim Winckelmann 1756 mit Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst angeschrieben wird.[4] Das Alter der „jungen Spartaner“ in Winckelmanns einleitenden Gedanken zur Kunst bleibt elastisch. Doch der Archäologe und Kunsttheoretiker formuliert ein klares, hierarchisches Verhältnis, das zum Körperbild junger Männer geworden ist.[5] Ob es sich dabei bereits um sexualisierte Gewalt handelt, muss einmal dahingestellt bleiben, sollte allerdings in seiner Tragweite angesichts der Aufarbeiten-Ausstellung im Schwulen Museum bedacht werden:
„Die jungen Spartaner mussten sich alle zehn Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfiengen fett zu werden, eine strenge Diät auflegten.“[6]

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Eine wiederkehrende Formulierung in den Interviews und Berichten der Forscher*innen und der Opfer in der Ausstellung des Schwulen Museums in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Jugendbewegung ist jene, „dafür“ keine Sprache gehabt zu haben. Die sexualisierte Gewalt als Missbrauch in hierarchischen Verhältnissen von älteren Männern und Frauen zu viel jüngeren, minderjährigen oder adoleszenten macht nicht nur sprachlos, vielmehr hatte sie keine Sprache bzw. wurde in einer Vielzahl von Narrativen, Rollenmodellen und Bildtopoi kanalisiert, umgelenkt und sanktioniert sowie instrumentalisiert. Dies ist nicht auf schwule oder lesbische Sexualitäten begrenzt, sondern kann auf ähnliche Weise in heterosexuellen Beziehungen stattfinden. Anders gesagt: die Leerstelle Sexualität verlangt nach einer verbalen und visuellen Systematisierung, wenn Konrad Hoffmann davon spricht, dass mit (Bild)Topos „ein formallogisches Systemtraining in dialektischem Schlußfolgern gemeint ist“.[7]

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Das Thema der sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Jugendliche brach mit medialem Aplomb 2010 anlässlich der Missbrauchsdebatte um das Berliner Canisius-Kolleg und die reformpädagogische Odenwaldschule (OSO) auf. Plötzlich wurde der Topos des „pädagogischen Eros“ hinterfragt, der den systematischen Missbrauch an Jungen und Mädchen verbrämte. Experten der Pädagogik und Reformpädagogik wie Hartmut von Hentig und der ehemalige Schulleiter der OSO, Gerold Becker, standen plötzlich als Missbrauchstäter in der Öffentlichkeit. Die sprachlosen Opfer wurden zunächst entweder medial denunziert oder aus der Reformpädagogik heraus angezweifelt. Gerade weil es sich bei der Odenwaldschule um eine bei Vermögenden beliebte Eliteschule für ihre Kinder handelte, deutsche Karrieren daraus hervorgegangen waren, sollte der „pädagogische Eros“ nicht kritisch debattiert werden. Hans-Jürgen Heinrichs stellte am 18. März 2010 in der Sendereihe Forschung und Gesellschaft im Deutschlandradio Kultur die Frage: „Der pädagogische Eros Reformpädagogik auf dem Irrweg?“[8] 

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Die Reformbewegung der Jahrhundertwende, die OSO war 1910 gegründet worden, wie die Jugendbewegung und Reformpädagogik generierten ein Narrativ, das noch im Kaiserreich die Sexualität junger Menschen einerseits befreien und zugleich im Dienste der Gesellschaft als deren Verjüngung kanalisieren sollte. Die Reform als liberale Variante der Revolution vermied den Umbruch, weil sie zugleich eine andere gesellschaftliche Form, wie sie in allen Bereichen des Zusammenlebens unter dem Schlüsselbegriff „ganzheitlich“ in der Odenwaldschule praktiziert wurde, anbot. Die Reformbewegung reicht weit in die Publikationen der Verbalisierung und Visualisierung schwuler und lesbischer Rollenmodelle in den 20er Jahren hinein, wie die Ausstellung in den Räumen des Schwulen Museums im Bereich „Leitmedien“ mit der Zeitschrift Der Eigene von Adolf Brandt, Die Insel – Das Magazin der Ehelosen und Einsamen von Friedrich Radszuweit oder Die Freundin – Das ideale Freundschaftsblatt ebenfalls von Radszuweit reich bebildert zeigt. Das Genießen der jugendlichen Körper wird zu einer weit verbreiteten (Sub)Kultur.

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Die Rolle der Sprachlosigkeit vor allem der Opfer kann bei der Aufarbeitung kaum überschätzt werden. Der Aktivist Matthias Katsch, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, erhielt denn auch einen Platz in der Abfolge der Eröffnungsreden. Wo soll man ansetzen? Wo beginnt die falsche Sprache oder wie Bodo Kirchhoff schrieb „Scheinsprache“? Wie geht die richtige Sprache? Was hilft das Erzählen? Wie wichtig ist das Gehörtwerden? Was macht Öffentlichkeit? Im Umfeld der verzögerten und verspäteten Debatte um die Odenwaldschule machte Bodo Kirchhoff im Spiegel publik, dass er als 12-jähriger Schüler vom Kantor seiner Evangelischen Internatsschule am Bodensee sexuell missbraucht worden war.
„Die falschen Pädagogen sind, wie sie sind, sexuelle Freaks im Kleinen, und genau das reichen sie weiter. Keinem der Betroffenen sieht man an, wie viel in ihm kaputt ist, welchen Umfang das Sprachloch hat; jeder hat seine Scheinsprache entwickelt, um mit sich und der Welt klarzukommen. Macht kaputt, was euch kaputtmacht, hieß es, als ich Student in meinem Gehäuse war; aber es reicht, davon Wort für Wort, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu erzählen.“[9]

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Das Erzählen als Strategie der Aufarbeitung nimmt einen breiten Raum in der Ausstellung auf Bildschirmen mit Kopfhörern ein. Händeringend, stockend, nach Worten suchend wird in den Videos erzählt, während in Heften und Flugblättern ebenso wie Zeitungsartikeln um 1968 in der sogenannten Sudentenrevolution oder Studentenbewegung Forderungen der Emanzipation nach Legalisierung von Sex mit Kindern und Jugendlichen formuliert werden. Aus den unterschiedlichen Exponaten bricht ein Widerspruch und eine explosive Spannung hervor. Wie lassen sich diese unvereinbaren Erzählungen aushalten? Das Schwule Museum und das Archiv der deutschen Jugendbewegung stellen sich nun ihrer, durchaus schmerzhaften Aufarbeitung, wie es zu „Zwiespältige Erbschaften“ heißt:
„Lange Zeit haben unsere Einrichtungen Nachweise für sexuellen Kindes-Missbrauch aufbewahrt, ausgestellt und veröffentlicht. Nachweise sind zum Beispiel Bilder und Texte.
Das Problem: Unsere Einrichtungen sind nicht kritisch mit den Nachweisen umgegangen. Sie haben die Nachweise sogar bewundert.“[10]

„Und das motiviert mich, daran jetzt intensiv zu arbeiten.“

Wo sollen die postrevolutionären Grenzen nach ’68 gezogen werden? Der Liberalisierung homosexueller Praktiken ging 1918 die Novemberrevolution voraus. Am 12. November 1918 hatte der „Rat der Volksbeauftragten“ verkündet: „Eine Zensur findet nicht statt. Die Theaterzensur wird aufgehoben.“ In der revolutionären Scheidezeit von 1918/19 gelingt es Richard Oswald unter Beratung durch Magnus Hirschfeld den Film, heute würde man es Doku-Drama nennen, Anders als die Anderen zu drehen und in die Berliner Kinos zu bringen. Schnell wird der Film zur Abschaffung des § 175 StGB zensiert und verschwindet wieder, um teilweise verschnitten in Zirkeln weiter als zensiertes, aber emanzipatorisches Wissen zu kursieren. Wer liest und bewundert Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig? War Tadzio nicht immer schön und viel zu jung für die Blicke Aschenbachs? Und was passierte mit Luchino Viscontis „Most beautiful Boy in the World” (2021), Björn Andrésen? Er war 15 Jahre, als Visconti ihn 1971(!) in Morte a Venezia zu Tadzio machte. Die Ausstellungswand erwähnt Manns Der Tod in Venedig, der längst in den queer studies reüssiert hat.

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Als prekärer Bildtopos wird ebenso das Plastikmotiv des Dornausziehers erwähnt, der in der Literatur von Heinrich von Kleists Über das Marionettentheater bis zu vielfachen Plastiken von Knaben reproduziert wird. Heinrich von Kleist macht den Dornauszieher aus den Antikensammlungen in deutschen Städten zu einer entscheidenden Frage des Wissens von sich selbst und der Kunst. Mit anderen Worten: Der Dornauszieher hat zuerst keine Sprache, für das, was er tut! Beim Versuch der Wiederholung, nachdem er gesprochen hat, misslingt ihm die „Grazie“ auf lächerliche Weise, wie es heißt:
„Es traf sich, daß wir grade kurz zuvor in Paris den Jüngling gesehen hatten, der sich einen Splitter aus dem Fuße zieht; der Abguß der Statue ist bekannt und befindet sich in den meisten deutschen Sammlungen. Ein Blick, den er in dem Augenblick, da er den Fuß auf den Schemel setzte, um ihn abzutrocknen, in einen großen Spiegel warf, erinnerte ihn daran; er lächelte und sagte mir, welch’ eine Entdeckung er gemacht habe. In der That hatte ich, in eben diesem Augenblick, dieselbe gemacht; doch sei es, um die Sicherheit der Grazie, die ihm beiwohnte, zu prüfen, sei es, um seiner Eitelkeit ein wenig heilsam zu begegnen: ich lachte und erwiederte – er sähe wohl Geister! Er erröthete, und hob den Fuß zum zweitenmal, um es mir zu zeigen; doch der Versuch, wie sich leicht hätte voraussehn lassen, misglückte.“[11]    

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Keine Antikenreplik, sondern eine eher ungeschickte, vermutlich massenhaft gefertigte Nachbildung wie jene millionenfache des David von Michelangelo wird hinter einer roten Plastikfolie ausgestellt und verborgen. Dornauszieher und David bildeten für Generationen Schwuler ein Paar der Bezugnahme und einer Art emanzipatorischen Stolzes. Die Antikenreplik folgt dem Modus der Wiederholung zur Bestätigung einer Wahrheit, so simpel sie auch sein mag. Durch die Frage nach der ihr immanenten sexualisierten Gewalt wurde nicht zuletzt die Vereinssatzung des Schwulen Museums fragwürdig, wie es auf der Präsentationswand heißt:
„In der Gründungs-Satzung unseres Träger-Vereins stand zum Beispiel bis zum Jahr 2011: Das Schwule Museum soll die Geschichte der „Knaben-Liebhaber“ bewahren.
In der Satzung des AdJb stand bis zum Jahr 2002: Das Archiv muss sich um den Nachlass von Gustav Wyneken kümmern.
Gustav Wyneken wurde im Jahr 1921 wegen sexuellem Kindes-Missbrauch verurteilt.“[12]

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Welche künstlerischen Interventionen werden in der Ausstellung praktiziert, um die missbräuchlichen verbalen und visuellen Narrative wie Bildtopoi nicht zu reproduzieren? Und was passiert nach dem Aufarbeiten mit den Archivbeständen? Einerseits besteht die Aufarbeitung aus dem Benennen und Erinnern von Straftatbeständen, die ihre Gültigkeit in Zeiten massenhafter, tatsächlicher und medialer Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht verloren haben. Vielmehr ist ein Kampf gegen Kindesmissbrauch in Zeiten des Internets und seiner massenhaften Verbreitung dringlicher geworden denn je. Das Darknet ist dafür nur ein Beispiel. Cybergrooming ist ein anderer Begriff für eine bild- und textbasierte Missbrauchspraxis an Minderjährigen im Internet. Eine visuelle Praktik der Intervention sind die roten Folienstücke, die über Fotos und Archivgegenstände gelegt sind. Auch die roten Schnüre, an denen Präsentationsflächen aufgehängt sind, signalisieren prekäre Sammlungsstücke.

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Aus der Retrospektive der visuellen Archivmaterialien und Texte, die gezeigt werden müssen, ohne zugleich die sexuelle Gewalt zu reproduzieren, ergeben sich Konflikte der vom Format Ausstellung geforderten Anschaulichkeit, die zu einer Schuldfrage zugespitzt werden. Auf diese Weise werden Forderungen nach Legalisierung von sexuellen Handlungen mit Kindern, wie sie seit 1968 bis zu Beginn der 80er Jahre gefordert wurden, als Schuld, wie in der Ausstellung mit „Beschämende Solidarität“ formuliert, anerkannt werden müssen.
„Dass „nicht gewalttätige“ sexuelle Erlebnisse mit Erwachsenen für Kinder unschädlich seinen, war noch 1968 sexualpolitischer Konsens in emanzipatorischen Milieus. Forderungen nach Abschaffung der Schutzaltersgrenzen und Entkriminalisierung „einvernehmlicher“ sexueller Beziehungen mit Kindern waren auf der Höhe der Zeit. „Pädoaktivistische“ Positionen begründeten sich nicht mehr mit dem hierarchischen Modell des „pädagogischen Eros“, sondern mit Rhetoriken von „sexuelle Befreiung“ und Antipädagogik“. Auch wegen gemeinsamer Erfahrungen von Verfolgung und Ächtung fanden sie breite Unterstützung in der Schwulenbewegung. Gegenstimmen wurden dagegen kaum wahrgenommen.“[13]

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Die Medienforscherin und -künstlerin Claudia Reiche steuert eine Bildeschreibung anstelle eines Ölgemäldes bei. Über der Rückseite des Gemäldes hängt eine Plexiglasscheibe mit einem Text. Ein Bild und eine Erzählung lassen sich genießen. Wie lässt sich diesem verdrehten Genießen entgegenarbeiten? Wie kann die verführerische Schicht von Farben, Spiegelungen und sich abzeichnenden Formen durchkreuzt werden? Kann ein Zur-Sprache-bringen der Konstruktion des Bildes das Genießen abwenden? Es dreht sich immer alles um die Schnittstelle von Sprache und Bild.
„„Fischerknaben“ seien es, beim Bad im Meer, wie der Titel des Gemäldes eines deutschen Malers des 19. Jahrhunderts mitteilt, und Capris ‚blaue Grotte‘ sei der Ort. Seine Zeit setzt das Gemälde in einer Antike, deren Ewigkeit als wiederholbar konstruiert ist. Wiederholbar wie gebräunte, muskulöse Körper der am felsigen Meeresufer spielenden Jugendlichen und die der jungen Männer.“[14]

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Das Szenario bezieht sich auf einen frühen, wieder erkennbaren, gar touristischen Ausflugsort, der Blauen Grotte auf der frühen Urlaubsinsel Capri, der sich schnell als eine Schnittstelle von Kunst, Begehren und Tourismus im 19. Jahrhundert etablierte. Der aufsehenerregende Naturort, den im August 2019 die Medienpersönlichkeiten Heidi Klum und Tom Kaulitz als Szenario für die Darstellung ihrer intimen Beziehung nutzten, einer widerrechtlichen Eindringung in die Grotte, indem sie ein örtliches Schwimmverbot brachen, wird seit dem 19. Jahrhundert als Körperinnenraum imaginiert. Mit den Worten Reiches:
„Eine Wasserspiegelung in einem Bassin am Übergang der Felsengrotte zur dahinter leuchtenden Meeresweite gibt die Hauptgruppe dieser Fischer in perspektivischen Verzerrungen und Ausschnitten als Arrangement aus Beinen, Gesäßen und Oberkörpern zu sehen. Dieser Wasserspiegel, vom Umriss einer Auster, zeigt uns im Vordergrund ein heimliches Bild verschlungener Körperteile, umkränzt von Schaum.“

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Die Blaue Grotte von Capri mit ihren Spiegelungen und der Öffnung oder einem Loch im Fels zum Meer bzw. vom Boot den Einblick in einen verlockend blau leuchtenden Innenraum wird, wie nicht zuletzt von Klum und Kaulitz vorgeführt, als Penetrationsphantasie inszeniert. Das widerrechtliche Eindringen in die Grotte ruft gleichsam, zum Rechts- oder bei Klum und Kaulitz zum Diskursbruch auf. Das aufwendige, vermeintlich naturalistische und natürliche Szenario der vielen Knaben in der Grotte bietet eine Spiegelung an, die einer Imagination entspringt. Es geht um ein komplexes Szenario von Spiegelungen.
„Die so gespiegelte Fünfergruppe besteht aus zwei einander zugewandten Männerpaaren und einem jüngeren bäuchlings Liegenden, dessen Blick zum Unterleib des einzigen gänzlich Nackten dieser Gruppe geht. Die aus der Gruppe aufragende Figur mit roter phrygischer Mütze setzt die Pose des ihm zu Füßen liegenden Jungen halbkreisförmig nach oben fort.“

„Es gab im Vorfeld die Gründung des Arbeitskreises Tabubruch,“

In gewisser Weise haben erst Klum und Kaulitz das Geheimnis der Blauen Grotte in ihrem ständigen Wechsel von Zeigen und Verbergen zur vollen Geltung gebracht und einer vernetzten Weltöffentlichkeit präsentiert. Auf den ebenso heimlichen wie offensichtlich bestellten Fotos der beiden Modells ist alles und nichts zu sehen. Im Gegenlicht des blauen Scheins zeichnen sich die schwimmenden Körper dunkel ab und können ebenso bekleidet wie nackt sein. Das schien eben der hier namenlose Maler im 19. Jahrhundert bereits verstanden zu haben. Aus den Farbschichten und Formen wird das ganze Ensemble aus Erektion, Eindringen und Ejakulation (Schaum) an jungen, minderjährigen Männern gezeigt und verborgen.
„Diese Zentralfigur wendet den Blick der rechts zu ihr stehenden und zu ihr aufblickenden Figur zu, während ihr lang ausgestreckter Arm mit einer starken Gebärde unbestimmten Hindeutens nach links auf fünf spielende Jungen im Wasser weist. Die tiefe Nachmittagssonne wirft den langen Schatten des Armes zurück auf die Brust des so Deutenden und weist zum angeblickten Gegenüber, genauer zu dessen in lockere weiße Wäsche bekleideten Unterleib, wo eine Erektion im Faltenwurf des Stoffs angedeutet ist.“

„dass Betroffene von sexualisierter Gewalt,“

Bilder entstehen nicht zuletzt zum Gebrauch. Der Aspekt des Gebrauchs wird in der Ausstellung weniger deutlich thematisiert, obwohl er mit dem Begriff Missbrauch ständig angeschrieben wird. Das ist ein Manko. Bilder existieren nicht ohne Gebrauch, um es einmal zugespitzt zu formulieren. Sie werden zur Spiegelung, zum Genuss, zur Selbstdarstellung, zur Bewunderung, zur Befriedigung, zur Emanzipation, zur Einübung, zur Disziplinierung, zur Strafe, zur Erniedrigung, zum Gelderwerb etc. gebraucht. Manchmal einzeln, auch widersprüchlich und manchmal alles zugleich. Für das Subjekt seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert dreht sich indessen alles um la jouissance, den Genuss. Niemand anderes als Friedrich II. hat in Anknüpfung an Voltaire dazu um 1840 der jouissance die Weltherrschaft erteilt. Mit dem Gedicht La Jouissance formulierte er sein Befreiungsprogramm(!).[15] Insofern entweichen dem Vesuv im Ölgemälde nicht nur „Dampf und Gase in einer schlanken Wolke“.
„Rechts vom dieser zentralen Gruppe, in einer etwas erhöhten und kleineren Öffnung der Grotte zum Meer hin, haben sich ein junger Mann und ein nackter Junge abgesondert. In der fernen Tiefe des Bildes, hinter ihnen, entweichen Dampf und Gase in einer schlanken Wolke dem Vesuv. Der ebenfalls rot bemützte und mit Hemd und kurzer Hose bekleidete Mann blickt zu den Badenden nach links, dabei mit dem Körper lässig uns zugewandt und beiden Händen in den Taschen. Der graziös vor ihm sitzende Junge blickt uns ruhig und ernst an.“

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Wie sieht sexuelle Gewalt aus? Gezeigt werden auch Filmsequenzen aus Veit Harlans  Anders als du und ich (§ 175) von 1957, dessen Originalfassung in Anknüpfung an Magnus Hirschfeld den Titel Das dritte Geschlecht tragen sollte. Zumindest als der Berichterstatter durch die Ausstellung wanderte, sah er den ihm bekannten Ausschnitt beim Antiquitätenhändler Dr. Boris Winkler (Friedrich Joloff). Die Filmsequenz wird in der Ausstellung nicht näher kommentiert. Hat sie Identifikationspotential oder stößt sie den schwulen Blick ab? Der Film wird wenig eingeordnet. Die Verführungsszene im Hause Winklers mit elektronischer Musik, antiken Statuen(!) und nackten Jünglingen ist ebenso aufwendig wie prekär inszeniert. Einerseits versucht der Naziregisseur Veit Harlan unter Beteiligung seines Sohnes Thomas mit sexualwissenschaftlicher Geste für eine Akzeptanz, gar Emanzipation und Abschaffung des § 175 StGB zu argumentieren. Andererseits geht es mit der Hauptfigur der Mutter in der Starbesetzung von Paula Wessely um die seinerzeit existierenden, sexualstrafrechtlichen Kuppelparagraphen 180 und 182 StGB. Die betreffende Szene schwankt zwischen Avantgardekunst (elektronische Musik), sexueller Freiheitspraxis und der diabolisch ins Licht gesetzten Verführer-Figur Dr. Boris Winkler, der mit dem Titel nicht zuletzt als Akademiker markiert wird. 

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Der Film verhandelt mit den Strafprozess-Sequenzen vor allem eine Schuldfrage. Ist die Mutter der Kuppelei schuldig oder nicht? Wollte sie den Sohn nur vor einem Verführer retten? Für die Verhandlung der Schuldfrage wird gleichsam als entlastendes Material die Verführung zu gleichgeschlechtlichen Handlungen im Sinne des § 175 StGB ins Spiel gebracht. Verhandelt wird insofern vor allem die mütterliche Aufsichtspflicht mit der Botschaft: Mütter passt auf eure Söhne auf! Die Schuld der Mutter an einer fehlgeleiteten sexuellen Orientierung setzte sich als Narrativ der 60er und 70er Jahre tief im Diskurs mütterlicher Verantwortung für die Sexualität des Sohnes fest. Insofern musste die Verführungssequenz im Hause Winklers diabolisch inszeniert werden. Dabei überschneiden sich das Verantwortungs- und das Verführungsnarrativ. Die in Szene gesetzte sexualisierte Gewalt wird zumindest hier zu einer offensichtlich warnenden Konstruktion: Warnung vor dem Intellektuellen und Verführer. Die Verführungsszene ist nicht emanzipatorisch, sondern denunzierend angelegt. Der Identifikation mit dem vermeintlich charismatischen und wortmächtigen Verführer Dr. Winkler wird insofern dramaturgisch entgegen gearbeitet. Faszinieren konnte sie vermutlich trotzdem.

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Die Ausstellung Aufarbeiten im Schwulen Museum, die bis zum 26. Februar 2024 zu sehen ist, appelliert an die Empathie der Community. Denn sie „stellt zur Diskussion wie es möglich war, dass Bewegungen, deren Kernanliegen die Selbstbestimmung von Menschen ist, so anfällig waren für die Rhetoriken der Täter*innen, so unsolidarisch mit den Betroffenen und beklemmend desinteressiert an deren Schicksal“.[16] Die tradierten Narrative und Visualisierungen nicht zuletzt einer griechisch-römischen Antike des 19. Jahrhunderts als Inbegriff humanistischer Bildung – Wilhelm von Humboldt – haben Machtverhältnisse im Dienste sexualisierter Gewalt sanktioniert und institutionalisiert, möchte ich einmal formulieren. Doch die revolutionären Dynamiken erschöpfen sich damit nicht, vielmehr werden sie – wie mit der Blauen Grotte – weiter popularisiert, medialisiert und kapitalisiert.

Torsten Flüh

Aufarbeiten:
Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
im Zeichen der Emanzipation

Schwules Museum
Montag, Mittwoch, Freitag: 12–18 Uhr
Donnerstag: 12–20 Uhr
Samstag: 14–19 Uhr
Sonntag:14–18 Uhr
Dienstag: Ruhetag
Lützowstraße 73
10785 Berlin


[1] Die Besprechung vom 3. Juni 2013 entfaltet sich um die Frage der Institutionalisierung und Emanzipationsbewegung: Torsten Flüh: Bilder erzählen. Zur Neu-Eröffnung des Schwulen Museums in der Lützowstraße. In: NIGHT OUT @ BERLIN 3. Juni 2013. (als PDF unter Publikationen)

[2] Beispielhaft: Torsten Flüh: Sonntag mit Jean. GENET – Hommage zum 100. Geburtstag im Schwulen Museum. In: NIGHT OUT @ BERLIN 20. Dezember 2010. (als PDF unter Publikationen)

[3] Hier mit knüpfe ich mehr oder weniger an Christopher Clarks Revolutionsbeschreibung an. Torsten Flüh: Der europäische Bogen der Revolution. Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. In: NIGHT OUT @ BERLIN 11. Oktober 2023.

[4] Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst. Dresden und Leipzig 1756.

[5] Ausführlicher siehe: Torsten Flüh: Zurück zur Männlichkeit? George L. Mosses Kritik des Männlichkeitsbildes nach Johann Joachim Winckelmann und die Rückeroberung der Geschlechter durch die Neue Rechte. In: Initiative Queer Nations (Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen, Benedikt Wolf) (Hrsg.): Jahrbuch Sexualitäten 2019. Göttingen: Wallstein, 2019. S. 43-70.

[6] Joann Joachim Winckelmann: Gedanken … [wie Anm. 4] S. 5.

[7] Konrad Hoffmann: „Was heißt ›Bildtopos‹?“. Topik und Rhetorik: Ein interdisziplinäres Symposium, edited by Thomas Schirren and Gert Ueding, Berlin, Boston: Max Niemeyer Verlag, 2000, p. 237.

[8] Hans-Jürgen Heinrichs: Der pädagogische Eros. Reformpädagogik auf dem Irrweg? In: Forschung und Gesellschaft. 18. März 2010 Deutschlandradio Kultur (PDF).

[9] Bodo Kirchhoff zitiert nach ebenda.

[10] Zitiert nach Ausstellungstext.

[11] Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Zuerst in: Heinrich von Kleist: Berliner Abendblätter (als Fortsetzung) 12.-15. Dezember 1810.

[12] Zitiert nach Ausstellungstext.

[13] Ebenda.

[14] Zitiert nach Ausstellunginstallation.

[15] Siehe Torsten Flüh: Geburtstagsparty mit l’esprit. 300. Geburtstag Friedrichs des Großen als Originalklang-Konzert mit Armin Müller-Stahl und Burghart Klaußner. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. Januar 2012. (PDF unter Publikationen)

[16] Zitiert nach Ankündigungstext.

Der europäische Bogen der Revolution

Revolution – 1848 – Geschichte

Der europäische Bogen der Revolution

Zu Christopher Clarks brillant erzähltem Frühling der Revolution – Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

Am 25. September 2023 stellte Christopher Clark eloquent im Gespräch mit Jenny Friedrich-Freska im Humboldt Forum sein neues, bereits auf Platz 9 der Spiegel Bestseller gelistetes Buch Frühling der Revolution als eine nichtlineare Erzählung von den Revolutionen in Europa der Jahre 1848/49 vor. Denn der Ort auf dem  52.517883 Breiten- und 13.393655 Längengrad war mit dem Berliner Schloss, das mit der Fassade des Humboldt Forum bis auf die Große Kartusche als spät hinzugefügten Detail sowie der zwischen 1845 und 1853 aufgesetzten neobarocken Kuppel, ebenfalls am 18. März 1848 ein umkämpfter Schauplatz der Revolution. „Schließlich trat der Monarch (Friedrich Wilhelm IV.) auf einen Balkon über dem Platz, wo er mit frenetischem Jubel empfangen wurde.“[1]

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Im Saal 1 des Humboldt Forums erzählte Christopher Clark ebenso launig wie überrascht vom weiteren Verlauf der Revolution unter dem Schloss-Balkon, die durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ein blutiges Ende nahm. „Der recht skurrile Versuch des Palasts, diese Falschinformation mithilfe zweier Zivilisten zu korrigieren, die ein breites Leintuch mit der Aufschrift »Ein Missverständnis! Der König will das Beste!« durch die Straßen trugen, hatte, wie zu erwarten, wenig Erfolg.“[2] – Wir wissen nicht, ob es sich bei dem Balkon um eben jenen von Portal IV handelte, der von Roland Korn und Hans Erich Bogatzky als Portal für das Staatsratsgebäude der DDR am Schloßplatz verbaut wurde. Auf jenem Balkon soll Karl Liebknecht am 9. November 1918 die „sozialistische Republik“ ausgerufen haben.

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Die Nichtlinearität der Geschichte gehört zu Christopher Clarks neuartigen Ansatz seiner materialreichen, über tausend Seiten umfassenden Erzählung von der 1848er Revolution. Denn er wehrt sich vor allem gegen die landläufige These, „dass dem Narrativ dieser Aufstände ein erlösender Abschluss fehlte“[3], wie er es in der Schule gehört hatte. Das Paradox des Fehlens „ein(es) erlösende(n) Abschluss(es)“ wird mit dem Balkon von Portal IV als einem vermeintlichen Abschluss der Geschichte augenfällig. Statt Sozialismus beheimatet das Gebäude nun die Privatuniversität European School of Management and Technology (ESMT) und empfiehlt sich als Eventlocation. Dazu passen dann die dem Gott des Weines, Bacchus, gleichenden Atlashermen von Balthasar Permoser, die den Balkon des 2. Stocks tragen.

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Die Fassade des Humboldt Forums erinnert nicht nur an das vielfach erweiterte und umgebaute Schloss in seiner Funktion als Sitz der Herrscherfamilie und Machtzentrum, vielmehr wird in den Durchgängen ebenso an die Revolutionen von 1848, 1918/19 und die Revolution der Bürger*innen der DDR von 1989 vor dem Palast der Republik(!) erinnert, als die Demonstrierenden damit rechnen mussten, dass auf sie geschossen werden könnte. Wie entstehen Revolutionen? Wie kam es zu der europaweiten Revolution von 1848? „Das wohl auffälligste Merkmal“, schreibt Clark in seiner Einleitung, „von 1848 war ihre Gleichzeitigkeit – sie war schon den Zeitgenossen ein Rätsel, und sie ist ein solches für die Historiker geblieben.“[4] – Ob der König zur Menge vom Balkon im 1. oder 2. Stock ohne technische Hilfsmittel sprechen wollte oder sprach, wird nicht mitgeteilt. – Eine große Menge wird kein Wort vom Balkon verstanden haben.

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Christopher Clark versucht das Rätsel der Revolution nicht zu lösen. Aber er bietet in 9 ausführlichen Kapiteln von den „Soziale(n) Fragen“ über „Ordnungskonzepte“, „Konfrontation“ und „Explosion“ ebenso wie „Regimewechsel“ und „Emanzipation“, „Entropie“, „Gegenrevolution“ und „Nach 1848“ eine Vielzahl von Diskussionsbeiträgen an. Die in Deutschland „Soziale Frage“[5] genannten Probleme seit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert wird bei Clark zu einer Vielzahl „Soziale(r) Fragen“, die auf über einhundert Seiten beschrieben werden. Denn: „Die »soziale Frage«, die Europäer Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigte, war ein ganzer Komplex realer Probleme, aber sie war zugleich auch eine Art der Wahrnehmung.“[6] Wobei es dabei vor allem um eine neuartige „Politik der Beschreibung“ bis zum Roman Les Mystères de Paris geht.[7] Beschreibungen sind nicht zuletzt ebenso relevant für die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ von 2010/11, an die Clark mit seinem Titel Frühling der Revolution anknüpft und auf deren Rätselhaftigkeit anspielt.
„Die Gleichzeitigkeit  war auch einer der rätselhaftesten Momente der Ereignisse von 2010/11 in den arabischen Ländern, die tiefe lokale Wurzeln hatten, aber eindeutig auch miteinander verknüpft waren.“[8]

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Der große Bogen der Beschreibungen berührt und erwähnt denn auch mehr en passant Bettina von Arnim und ihr anonym veröffentlichtes Buch[9] Dies Buch gehört dem König. von 1843.[10] Der kryptische Titel dieses Buches bedarf einer Transkription, die dahin lauten könnte, dass der König, Friedrich Wilhelm IV., verdammt noch mal dieses Buch lesen solle. Aus dieser Perspektive einer dringlich warnenden Stimme aus dem Umkreis des Berliner Hofs gerät der Auftritt des Königs auf dem Balkon 5 Jahre später in ein anderes Licht. Denn Bettina von Arnim war nicht nur über ihre Schwester Kunigunde von Savigny, geb. Brentano, durch Friedrich Karl von Savigny als Mitglied des Staatsrats über politische Entscheidungen informiert, sie veröffentlichte durch Gespräche mit Dämonen 1852 als ausdrücklichem „zweiten Band“ des „Königsbuchs“ eine Kritik der Revolution von 1848 und ihrer Ergebnisse.[11]
„Ich dachte, wäre das mein Ziel, B e s c h ü t z e r  d e r  U n t e r d r ü c k t e n, das wollt ich so gerne sein; — und wo ich ging und stand sann ich auf diesen Juwel ihn an der Stirne zu tragen. — Und Deine Weisheit ist das reife Blut der Traube, ich muß es trinken, es rieselt durch die Sinne und beherrscht den Geist. — — —“[12]

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Bettina von Arnim veröffentlicht ihre Kritik der Revolution in einer aufwendig verschachtelten Konstruktion, die einen Wink auf das politische Klima, ja, Angst nach 1848 in Berlin gibt. Der zweite Band des „Köngisbuchs“ kommt als märchenhafter Briefroman und Lehre des Islam daher. Hatte sich die Anonymität schon beim ersten Band nicht lange wahren lassen, so wird nun die Kritik an den sozialen Verhältnissen in Berlin mit mehreren literarischen Drehungen so formuliert, dass sich eine Aussage kaum fassen lässt. Die literarischen Operationen lassen eine Kritik nur aufscheinen, wenn das unwahrscheinlich Märchenhafte und Orientalische abgestreift wird.

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Mit der Geste der Aufklärung durch Verfremdung gleich den Lettre Persanes (1721) von Montesquieu schreibt Bettina von Arnim nicht vom preußischen König, sondern zugleich mit Wink auf Goethe als Widmung „Dem Geist des Islam vertreten durch den großmüthigen Abdul-Medschid-Khan Kaiser der Osmanen.“[13] Eine Kritik der Revolution lässt sich für sie nicht deutlicher artikulieren.
„Die Schriftstellerin Bettina von Arnim, die sich auch mit der sozialen Frage beschäftigte, hatte an den Ereignissen in Berlin von 1848 zwar nicht teilgenommen, aber während dieses Jahres, zum Entsetzen ihrer Verwandten, nicht nur einen sondern zwei Salons unterhalten. Den einen besuchten überwiegend konservative und liberale Oberschichtfiguren aus dem Adelsmilieu, in dem ihre Familie verkehrte. (…) Bettina von Arnims Briefe aus den Monaten des Aufruhrs offenbaren ihr unermüdliches Bemühen, zwischen den Lagern zu vermitteln.“[14]

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Für Christopher Clarks Frühling der Revolution nimmt Bettina von Arnim als Berliner Autorin und Salonière gleichsam eine Scharnierfunktion ein. Der extreme politische Druck, der durch den zweiten Teil des „Königbuchs“ spürbar wird, wird von Clark zugunsten des großen Bogens kaum berücksichtigt. Die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande vor dem Hamburger Tor von Heinrich Grunholzer als systematische und formalisierte Beschreibung der aus Armut in die „Familienhäuser“ gezogenen Menschen, wären indessen „ohne ihre Initiative (…) nicht zustande gekommen“.[15] Dabei endet Bettina von Arnims politik-philosophischer erster Band radikal, wenn der „Kathrinenthurm“ als Symbol einer alten Macht der Kirche in Frankfurt am Main weggeschossen wird, aber Berlin gemeint ist.

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Von Clark wird die Armutsbeschreibung aus dem sogenannten Vogtland vor dem Hamburger Tor als systematische Sammlung von formalisierten Erzählungen – „Als ich eintrat, nahm die Frau schnell die Erdäpfelhäute vom Tische, und eine sechszehnjährige Tochter zog sich verlegen in einen Winkel des Zimmers zurück, da mir der Vater zu erzählen anfing.“[16] – in dem zentralisierten, privaten Armenquartier außerhalb der Stadtmauer, den sogenannten „Familienhäusern“, favorisiert. „Bettina von Arnim will kein faktizitätsgetreues Bild der Wirklichkeit konstruieren, sie will offenkundig machen, dass es nottut, nach einer Realität zu suchen, die es noch nicht  gibt.“[17] Doch die zunächst anonyme Verfasserin hatte vor den Erfahrungen bereits die Stadt beschießen lassen und die revolutionäre Freiheit gefeiert:
„Fr. Rath.      Ach gute Stadt Frankfurt geschieht endlich wieder einmal ein klein Elementespiel in deine Mauern zu deim Sommerplaisir! — Da seh nur unserm Kathrinenthurm sein Zopf brennt! — guck nur wie er seine Stirne kraus zieht. Ja guter Kerl dein Nachtmütz brennt ab. (…) Haha! das ist ein gut Zeichen für uns die wir das Feuer der Freiheit zu conserviren uns der Unsterblichkeit geweiht haben! —“[18]

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Der Frankfurter Zungenschlag klingt in der Schreibweise der Beschreibung Bettina von Arnims als gebürtiger Frankfurterin fast spaßig durch. Im Hochdeutsch des Dichtergatten, Achim von Arnim, und Dichterbruders, Clemens von Brentano, hätte sich der launige Beschuss der Stadt als Folge des „Feuer(s) der Freiheit“ kaum schreiben lassen. Die Zeitungsmitarbeiterin Bettina von Arnim beherrscht die literarische Verstellung wegen der Zensur, die schon für Zeitgenoss*innen schwer auf eine Position festzulegen war. Radikal ist die Geste allein und winkt hinüber zum Frühling von 1848. Dennoch ist es wohl nicht zuletzt ihre gesellschaftliche Position als Witwe, die lange im Hause Friedrich Schleiermachers mit ihren Kindern leben musste, bevor sie 1847 in ein gutshausähnliches Gebäude In den Zelten vor die letzte Stadtmauer zog, zwischen Bürgertum, Adel, Administration und sozialen Aktivist*innen, die sie zu einer Scharnierfigur macht.

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Christopher Clarks europäische Perspektive nicht zuletzt auf Frauen als Akteurinnen und Beobachterinnen der gesellschaftlichen Umbrüche, die sich 1848 quasi entladen, wird mit der Frage nach den „Ordnungskonzepte(n)“ durch den Abschnitt „Eine Welt der Männer“[19] erhellend. Darin widmet er sich der Pariser Journalistin Claire Démar, die 1833 jene Macht in Frage stellte, die heute weithin als Patriarchat bekannt ist. Zwar hatten bereits d’Alembert und Diderot das „PATRIARCHAT“ in ihrer Encylopédie berücksichtigt, aber nur hinsichtlich seiner kirchenrechtlichen Verwendung: „PATRIARCHAT, étendue de pays soumise à la jurisdiction d’un patriarche.“[20] Also, als ein Gebiet oder Land, das der Gerichtsbarkeit eines Patriarchen unterliegt. Hinsichtlich einer Herrschaft im Verhältnis der Geschlechter beschreibt erst Claire Démar „die Macht des Vaters“ als entscheidende „Form() der Ungleichheit“ für alle anderen:
„Die Macht des Vaters sei, so Démar, ihrem Ausmaß und ihrer Tiefe einzigartig, weil sie in die Prozesse verwoben sei, durch die Menschen in der Kindheit und Jugend sozialisiert und diszipliniert werden. Es sei die Macht, durch die Väter ihre Söhne deformierten, indem sie deren »geschundene Gliedmaßen« schlügen, um sie zur Unterordnung zu zwingen.“[21]   

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Der Abschnitt zu den Machtverhältnissen der Geschlechter macht besonders deutlich, dass die brennenden Fragen nach Ordnungskonzepten bis auf den heutigen Tag trotz aller Revolutionen nicht einfach gelöst worden sind. Die Geschlechterfrage inklusive „der sexuellen Beziehungen“[22] wird im Vorfeld der Revolution bereits seit 1833 in Paris von der „radikale(n) Journalistin und Schneiderin Suzanne Voilquin“ und ihrer Freundin Claire Démar zur Debatte gestellt. Die neuartigen industriellen Verhältnisse wirken sich zumindest in Paris auf andere Ordnungskonzepte zwischen den Geschlechtern aus. Nicht zuletzt war dem Berichterstatter kürzlich bei Hector Berlioz‘ Les Troyens die Konzipierung der Frauenrollen aufgefallen.[23] Voilquin und Démar gehörten zu jener Stimmung, in der der Komponist seit den 1830er Jahren in Paris lebte.
„Démars Stimme war außergewöhnlich aggressiv, aber keineswegs isoliert. Ihre enge Freundin Voilquin war eine der Herausgeberinnen einer Publikation, die unter dem Namen La Femme nouvelle, L’Apostolat des femmes und La Tribune des Femmes bekannt war und in der Autorinnen, ausnahmslos Frauen und größtenteils Arbeiterinnen, lediglich mit dem Vornamen unterschrieben, um die patriarchalen Implikationen des Familiennamens zu vermeiden.“[24]

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Das Geschlecht in Hinsicht auf eine Konstruktion von Rasse spielt durch die Emanzipation als Brückenwert ebenso eine Rolle bei der Forderung nach der Befreiung von Sklaven. Die Vision „einer Welt ohne Patriarchat“[25] betrifft nicht nur die Frauen, vielmehr regieren ebenso hierarchisch-patriarchale Verhältnisse in der Sklaverei. „Für Claire Démar und Flora Tristan waren Frauen die Sklavinnen der Männer. (…) Für Joseph de Maistre waren Revolutionäre keine Freiheitskämpfer, sondern Sklaven der Geschichte.“[26] Mit anderen Worten: Die Begriffe des Sklaven und der Sklaverei kursieren im Vorfeld der Revolution von 1848 relativ elastisch. Wer sich nicht emanzipiert, in der Umkehrung des Narratives, bleibt Sklave oder Sklavin ohne Entscheidungsfreiheit. Die Abschaffung der Sklaverei wird wiederholt gefordert und z.B. in England und Frankreich unterschiedlich erfolgreich umgesetzt.
„Die französische Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei erlangte nie die gesellschaftliche Tiefe ihres britischen Pendants. (…) Es gab in Frankreich regelmäßige Versuche, größere Unterstützung für die Kampagne zur Abschaffung der Sklaverei zu gewinnen, doch die Reaktion war enttäuschend: Eine Petition in Paris und Lyon im Jahr 1844 bekam nicht einmal 9000 Unterschriften.“[27]

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Christopher Clark spitzt die Widersprüche in der Revolution 1848/49 zu. Nicht jede und jeder, die von der Sklaverei schreibt und sie verurteilt, tritt engagiert genug auf, um sie abzuschaffen. Die Grenzen der Geschlechter in der dem Deutschen eigenen Mehrdeutigkeit von Herkunft, biologischem Geschlecht oder Rasse einzureißen, schafft zugleich eine Verunsicherung bei der eigenen Verortung, mit einem anderen Wort: der Identität. Trotzdem wird 1848 nicht zuletzt durch neuartige, institutionalisierte Versammlungen zu einem Scheidepunkt für die Sklaverei.
„Im Februar 1848 brachte eine Revolution die entschlossensten Fürsprecher der Abschaffung in die Nähe der Hebel politischer Macht. Die Metapher und die Sache, die Bereitschaft zu diskutieren und die Macht zu handeln wurden auf einmal vereint, und das mit weitreichenden Konsequenzen.“[28]

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Während der Buchvorstellung im Saal 1 im Humboldt Forum kamen Susanne Kitschun für den Friedhof der Märzgefallenen und Hartmut Dorgerloh als Generalintendant des Humboldt Forums und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, so der offizielle Titel der Stiftung, zum Podiumsgespräch hinzu. Trotzdem spricht Dorgerloh lieber vom Humboldt Forum als einem Raum für Debatten, denn vom Schloss. Die europaweiten Revolutionen von 1848/49 gaben paradoxerweise vor allem den Nationalisierungsbewegungen einen Schub. Träume und Albträume des Vaterlands werden drumherum aktiviert und formuliert. Dorgerloh sieht indessen das Humboldt Forum nicht nur als europäischen, sondern mit dem Ethnologischen Museum als einen internationalen Debattenraum. Christopher Clarks Europa der Revolution von 1848 führt auch für Susanne Kitschun dazu, die Aufgaben des Trägervereins Paul Singer e.V. stärker in einer europäischen Perspektive zu sehen. Die Unabgeschlossenheit der Revolution und der Geschichte regt uns, nach Clark, zu einem anderen Blick auf 1848 an:
„In dem Maße, wie wir aufhören, Geschöpfe der Hochmoderne zu sein, werden neue Affinitäten möglich. Es ist daher besonders spannend, ja sogar lehrreich, über die Menschen und Situationen von 1848 nachzudenken: (…)“[29]

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Christopher Clark erweist sich mit Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt wiederum als ein kenntnisreicher Historiker und begnadeter Erzähler. Seine Quellen wie nicht zuletzt Claire Démar tragen weiter, als es sich selbst die Autorin hätte träumen lassen. Vielleicht muss man sogar sagen, dass die radikale Kritik des Patriarchats nach einigem Tumult mittelbar in die wiederum patriarchal formulierten Nationalismen der Vaterländer bis zum Ungarn eines Victor Orbán oder Polen eines Jarosław Kaczński mündeten. Doch die Nichtlinearität der Geschichtserzählung erlaubt es Clark nicht zuletzt, nonchalant Widersprüche aufeinanderstoßen zu lassen und einen großen Bogen bisweilen zum Nachteil der Details zu beschreiben. — Als Schlussbild lässt er ein Foto von einem „Protestmarsch der Gelbwesten (Gilets jaunes) gegen die französische Regierung im Mai 2018 in Toulouse“ abdrucken.[30]

Torsten Flüh

Christopher Clark:
Frühling der Revolution.
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt.
München: DVA, 2023.
48,00 €
Hardcover mit Schutzumschlag, 1.168 Seiten, 15,0 x 22,7 cm
mit 42 s/w-Abbildungen und 5 Karten
ISBN: 978-3-421-04829-5


[1] Christopher Clark: Frühling der Revolution. Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt. München: DVA, 2023, S. 442.
Zum Problem des Berichtens von der Revolution siehe auch: Torsten Flüh: Revolution berichten. Jörg Armbruster und Laila Soliman: Der Arabische Frühling – Wunschtraum oder Albtraum? (Mosse-Lecture) In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Januar 2013. (Als PDF unter Publikationen)

[2] Ebenda S. 444.

[3] Ebenda S. 13.

[4] Ebenda S. 16.

[5] Gerd Schneider, Christiane Toyka-Seid: Soziale Frage. In: Das junge Politik-Lexikon. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2023. (online)

[6] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 27.

[7] Ebenda S. 28 ff.

[8] Ebenda S. 16.

[9] Ebenda S. 38.

[10] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies Buch gehört dem König. Berlin: Gedruckt bei Trowisch und Sohn, ohne Jahr. (Digitalisat)

[11] Bettina von Arnim: Gespräche mit Dämonen. Berlin: Arnim’s Verlag, 1852. (Digitalisat)

[12] Ebenda S. 15.

[13] Ebenda ohne Seitenzahl (S. 1) (Digitalisat).

[14] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 604.

[15] Pia Schmid:  Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogtlande (1843). In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina von Arnim Handbuch. Berlin: De Gruyter, 2019, S. 411.

[16] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 537-538.

[17] Barbara Becker-Cantarino mit Ursula Liebertz-Grün: Die Buch gehört dem König. In: Barbara Becker-Cantarino: Bettina … [wie Anm. 15] S.

[18] Ohne Autor (Bettina von Arnim:) Dies … [wie Anm. 10] S. 532-533. (Digitalisat)

[19] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135-155.

[20] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers: PATRIARCHAT. In : Paris Tome 12, p 175, 1751.

[21] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 135.

[22] Ebenda S. 137.

[23] Torsten Flüh: Grandioses Großwerk durchglüht. Zur gefeierten Aufführung von Les Troyens durch Dinis Sousa als Ersatz für Sir John Elliot Gardiner beim Musikfest Berlin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 5. September 2023.

[24] Christopher Clark: Frühling … [wie Anm. 1] S. 139.

[25] Ebenda S. 136.

[26] Ebenda S. 222.

[27] Ebenda S. 230.

[28] Ebenda S. 232.

[29] Ebenda S. 1024.

[30] Ebenda S. 1025.

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Verliebt ins Display

Zur gefeierten New Circus Show The Mirror im Chamäleon Theater

Kurz bevor der Schlussapplaus im Chamäleon in den Hackeschen Höfen aufbrandet, bilden die Körper der Artist*innen senkrecht ein Smartphonedisplay. The Mirror heißt die neue Show der australischen New Circus Kompanie Gravity & Other Myths, mit der das Team des Chamäleon Theaters seit Jahren zusammenarbeitet. Tatsächlich haben die Zuschauer’innen nach der Show das Gefühl, dass es sich bei der Schwerkraft nur um einen Mythos handele und sie ebenso auf die Bühne springen könnten, um sich selbst durch die Luft zu wirbeln. Darcy Grant hat für seine Show als Regisseur die Augen aufgehalten: Fast alle vom Kleinkind bis zur Neunzigjährigen starren heute auf ein – ihr(!) – Smartphonedisplay.

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Jacques Rancière formuliert in seinem Buch Aisthesis die These, dass gerade die populären Künste wie Varieté oder heute New Circus seismographisch gesellschaftliche Umbrüche vorwegnähmen. The Mirror lässt sich parallel zur Artistik und den Songs mit Megan Drury als fragmentarische Mediengeschichte und Transformation des Showbusiness‘ lesen. Denn niemand anderes als Deutschlands erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, kooperiert mittlerweile mit der Übermutter des New Circus‘, dem Cirque du soleil. Doch ihre Show ist nicht so nah an den medialen Umbrüchen und Verwerfungen der Alltagspraktiken am Smartphone dran, wie es Darcy Grant mit Gravity & Other Myths gelingt.

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Zunächst steht vor dem Vorhang auf der Bühne ein größerer Kassettenrekorder mit Radiofunktion aus den analogen Urzeiten der 70er oder 80er Jahre. Radio wurde nicht im Internet gestreamt, sondern mittels Wellen vor allem über UKW – Ultrakurzwelle – gesendet, was nicht immer störungsfrei verlief. Manchmal mischten sich störende Stimmen in die Wellen ein. Die wellenbedingten Stimmen ließen an Geister denken. In der elektronischen Musik wurden die Wellen des Radios und der Tonbandgeräte für künstlerische Transformationen genutzt.[1] Megan Drury im Bademantel wird auf der Bühne des Chamäleon von diesen Geisterstimmen irgendwie heimgesucht. Visuell wird durch das Verschieben von schwarzen Vorhängen auf der Bühne von den Artist*innen durch Formationen, die auf geradezu gespenstische Weise plötzlich entstehen und verschwinden, eine Geisterstimmung andeutungsweise erzeugt.

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Der New Circus bietet mit The Mirror Assoziationsfelder an, die ebenso plötzlich und vor allem schnell aufblitzen, wie sie verschwinden. Dramaturgisch wechselt Darcy Grant zwischen Schnelligkeit, Ausdauer und Überraschung. Das Tempo der Aktionen und ihre Abfolge bestimmen, was die Artist*innen mit ihren Körpern machen. Ihre große Kunst besteht darin, immer alles zu zeigen und gleichzeitig zu verbergen. Insofern ist die Episode mit den schwarzen Vorhängen, die auf der Bühne hin- und hergezogen werden, prototypisch. Immer wird genau austariert, was gezeigt und was verborgen wird. Für die Artistik des New Circus könnte dieses Prinzip der Vorhänge geradezu stilbildend sein. Zugleich wecken die Vorhänge im Publikum den Wunsch, hinter sie zu schauen. Am Trapez oder auf dem Hochseil soll vor allem ein mögliches Halteseil nicht zu sehen sein, damit die Exzeptionalität der Aktion entstehen kann.

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Schon für die Artistik und den Lichttanz der Wende zum 20. Jahrhundert formuliert Jacques Rancière eine Verwandlung der Materie in Geist. The Mirror thematisiert als New Circus und Paraphrase auf aktuelle Smartphone-Praktiken die Verwandlung der Körper und der Subjekte in eine hastige Eskalation der Datenströme. Von und nach immer und überall. Die neue Kunst von The Mirror schafft es anders als bei Rancière nicht mehr, „eine Gesellschaft vorweg(zu)nehmen“. Vielmehr inszeniert sie heute Soziopathen auf am Display.
„Die neue Kunst ist jene Kunst, die eine Gesellschaft vorwegnehmen will, in der der Geist völlig Materie geworden ist, während die Materie sich gänzlich in Geist verwandelt hat. „Die Bühne in Freiheit, Fiktionen preisgegeben, dem Spiel eines Schleiers nebst Attitüden und Gesten entströmt“, dieses „hochreine Ereignis“ ist viel mehr als eine Zusammenkunft von Ästheten. Sie ist die Bühne einer neuen Welt, in der die Kunst und die Wissenschaft übereinstimmen und das sinnliche Milieu des Daseins und die Form der Gemeinschaft ein und demselben Prinzip gehorchen.“[2]

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Die Artist*innen von Gravity & Other Myths erzeugen eine Exzeptionalität ohne Netz und doppelten Boden aus dem Tempo und dem Timing ihrer Aktionen. Ihre Kunst kreist um das Spiegelbildliche des Smartphones zwischen Narziss-Mythos und Leere. Es ist kaum noch ein Telefon, aber ganz bestimmt protothetisch nach dem deutschen Begriff ein Handy. Das neue Tool für das Ich ist nur vermeintlich handlich und greifbar, während kaum jemand wissen kann, was mit seinen/ihren Daten, Pics und Videos passieren wird. Die Artist*innen müssen auf einander vertrauen, indem das Zufällige und Exzeptionelle durch pure Körperbeherrschung vorgeführt wird. Insofern scheint mit den Artist*innen in The Mirror ein Soziales auf, das mit dem Medium Smartphone gefährdet ist. Spielt das Ich mit dem Smatphonedisplay oder verspielt das Display das Ich?

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An diesem Punkt wurde die Premiere von The Mirror in einer weiterentwickelten Form und mit neuen Artist*innen am 7. September im Chamäleon zu einem aufschlussreichen Ereignis. Denn beim Spiegel wie dem Smartphone als Spiegelmedium geht es immer darum, etwas zu zeigen, um anderes nicht sichtbar werden zu lassen. Es geht immer um eine Konkurrenz, einen Krieg des Sichtbarwerdens. Aufmerksamkeitsfenster. Mit den Worten der Co-Produzenten vom Chamäleon:
„(…) The Mirror (bleibt) eine raffinierte Körperkunst-Performance, die sich spielerisch bis philosophisch mit Geschlechterrollen auseinandersetzt, mit medialer Selbstinszenierung, mit Körperwahrnehmung und zerbrechlicher Selbstliebe. Wie viel wollen, wie viel sollen wir zeigen, scheinen sich die Performer:innen zu fragen, wenn sie sich dem Publikum offenbaren, mit Bewegungen, Gesten, Blicken; wenn sie von der Handkamera auch bis in den Backstage-Bereich verfolgt werden. Immer den Spiegel im Blick, das Tor zum Ich, zur Seele oder zum Abgrund.“[3]

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Zwischen Apps wie TicToc, Weibo, WhatsApp, Facebook und X etc. auf dem Smartphone spielen immer ein Sichtbarwerden, ein Sichtbarwerdenwollen und Verschwinden eine Rolle. Was als exzeptionell erscheint, wurde bereits millionenfach eingeübt. Dieses Paradox, das sich von der Artistik her entwickeln lässt, durchzieht die Praktiken des Smartphones, die in The Mirror andeutungsweise kritisch vorgeführt werden. Auf großen, senkrechten LED-Wänden werden die Sängerin und die Körperkünstler*innen projiziert. Die smartphoneartigen LED-Wände werden verschoben, zu Hintergründen und Live-Screens. Das artistische Smartphone-Rendezvous auf der Bühne erscheint synchron auf dem Display. Zur Pause sieht das Publikum die Artist*iinnen Backstage. – Ob die Synchronizität tatsächlich auf dem Display stattfindet oder auf ein nur eingespieltes Video umgeschaltet wurde, verschwindet für das Publikum hinter einem Fragezeichen, falls es überhaupt gestellt wird.

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Die en passant abgespielte LiveCam-Sequenz aus dem Umkleideraum gibt zugleich einen Wink auf den lustvollen Voyeurismus der Zuschauer*innen, die immerschon wissen wollten, was in der Pause im Umkleideraum passiert. Sichtbarwerdenwollen und Voyeurismus bedingen einander und stiften Schnittpunkte. Wobei der Voyeurismus am Smartphone mit den entsprechenden Apps, positiv formuliert, vor allem Sicherheit durch Distanz verschaffen soll. Negativ formuliert, entspringt der Voyeurismus einer panischen Angst, nicht den imaginierten Ansprüchen gerecht werden zu können. Voyeurismus verwandelt Ängste in Lust und Kontrollphantasien. Videos und Pics vom Smartphone-Speicher werden zu Kampfmitteln.    

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Der Begriff Artistik und sein Gebrauch im Deutschen wurde schnell mit dem Zirkus als „Zirkuskunst“ verknüpft.[4] Weiterhin wird er für „außerordentliche körperliche Geschicklichkeit“ und ein „großes Maß an formaler Beherrschung“ verwendet. Zugleich wird seine Herkunft ungenau aus dem Französischen angegeben. Dabei ist es wenigstens erwähnenswert, dass wohl ARTISTE von D’Alembert und Diderot in der Encyclopédie berücksichtigt wurde, aber eine Artistik nicht genauer formuliert wird. Die Fähigkeiten, die den artiste auszeichnen, werden insbesondere hinsichtlich der Mechanik und der Intelligenz formuliert. Im Unterschied zur deutschen Artistik wird der artiste nicht im Zirkuszelt, sondern der Wissenschaft und Praxis im Labor angesiedelt:
„ARTISTE, s. m. nom que l’on donne aux ouvriers qui excellent dans ceux d’entre les arts méchaniques qui supposent l’intelligence ; & même à ceux, qui, dans certaines Sciences, moitié pratiques, moitié speculatives, en entendent très-bien la partie pratique, ainsi on dit d’un Chimiste, qui sait exécuter adroitement les procédés que d’autres ont inventés, que c’est un bon artiste ; avec cette différence que le mot artiste est toûjours un éloge dans le premier cas, & que dans le second, c’est presque un reproche de ne posséder que la partie subalterne de sa profession.“[5]
(KÜNSTLER, s. m. Bezeichnung für Arbeiter, die sich in den mechanischen Künsten auszeichnen, die Intelligenz voraussetzen. Und selbst denen, die in bestimmten Wissenschaften, die halb praktisch, halb spekulativ sind, den praktischen Teil sehr gut verstehen, wird von einem Chemiker, der weiß, wie man die von anderen erfundenen Prozesse geschickt ausführt, gesagt, dass er ein guter Künstler ist; mit dem Unterschied, dass das Wort Künstler im ersten Fall immer ein Lob ist und dass es im zweiten Fall fast ein Vorwurf ist, nur den untergeordneten Teil seines Berufs zu besitzen.)

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Die Ambiguität der Gebrauchsweisen des artiste‘ im 18. Jahrhundert gibt einen Wink auf das Problem von Praxis und Mechanik im Horizont der Aufklärung bezüglich der Intelligenz. Denn der Begriff des Artisten oder Künstlers kann nach D’Alembert und Diderot zugleich abwertend gebraucht werden. Der Artist soll sein praktisches Handeln mit Intelligenz verstehen und nicht nur auf geschickte Weise nachahmen. Im Falle der Nachahmung kippt der Begriff sogleich vom Respekt in Spott. Im Deutschen schimmert diese Ambiguität weiterhin durch. Beiläufig werden damit die Künste oder artes neu formuliert. Sie sollen sich nun stärker an einer vernunftorientierten, empirischen Wissenschaft ausrichten. Insofern wird der Begriff des Künstlers und damit auch der Artistik nicht nur als mechanische Zirkuskunst anders formuliert. Die populäre Körperkunst der Artistik wird kulturell nicht zuletzt vor diesem Hintergrund geringer geschätzt.

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Die Elastizität der nur durch Lieder kommentierten Artistik ermöglicht unterschiedliche Sichtweisen von The Mirror. Unter dem Begriff des Spielgels werden unterdessen Praktiken der Mediennutzung im 21. Jahrhundert angerissen, wenn nicht verhandelt. Die Materialität der Spiegel hat sich seit dem 18. Jahrhundert grundlegend verändert. Selbst seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich viel verändert, wenn Megan Drury Sweet Dreams (1983) von den Eurythmics singt. „Some of them want to get used by you, Some of them want to abuse you”, klingt in Zeiten von Cybergrooming mit wiederholt tödlichem Ausgang anders als vor 40 Jahren. Die Anbahnung von sexuellen Kontakten mit Minderjährigen durch ein drehbuchartiges Handeln und Texten im Chat kann heute jede und jeder durchschauen. Die Aufklärung über Cybergrooming des Bundeskriminalamtes kann jede/r sofort bei Google finden.[6] Dennoch gehört es weiterhin zur geübten Praxis nicht nur am PC zuhause, sondern am unentbehrlichen Smartphone.

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Das Smartphone ist mit der Spiegelfunktion zu einer Ich-Prothese geworden. Niemand will es missen. Von der Bezahl- und Bank-Funktion bis zur Verabredung zum Sex findet alles am Display statt. Das lässt sich auf der Bühne insbesondere in den LifeCam-Sequenzen beobachten. Megan Drury wird von den Artist*innen ständig in neue Positionen versetzt. Schnell blitzt dabei die Erinnerung an Berichte auf, wie Smartphone Nutzer*innen verunglückten, weil sie ein besonders spektakuläres Live drehen wollten. Das Display in der Hand taugt zum Suizid. Die Artist*innen – Emily Gare, Lewis Rankin und Maya Tregonning, Hamish McCourty, Jack Manson, Jordan Hart, Josh Strachan und Megan Giesbrecht sowie die Tänzerin und Luftakrobatin Isabel Estrella – erzeugen mit Schnelligkeit, Kalkül und Körperkunst all diese Spiegeleffekt.

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Unversehens werden im Strudel der Körperbilder der Artist*innen die Geschlechter durcheinander gewirbelt. Vom Bodybuilding-Körper bis zum eher fülligen werden mit der Artistik die Kategorien der Körpermaße widerlegt, um die Schwerkraft zu widerlegen. Doch nicht die Schwerkraft wird widerlegt, sondern vielmehr durch andere Gesetzmäßigkeiten als Mythos apostrophiert. Im Spiegel, dem entscheidenden Einrichtungsgegenstand der Fitnessstudios, werden Körper und Geschlecht ständig überprüft und geformt. In der Artistik stört der Spiegel eher, weil es um eine permanente Bewegung geht. Im Spiegel wird nicht die Bewegung, sondern die Effekte der Bewegungen an Sixpack, Bizeps und Oberschenkelmuskulatur überprüft, bewertet, genossen oder verworfen. Stärke wird in der Dreierpyramide durch die Ausdauer beim Tragen der beiden anderen Körper und ein sichtbares Zittern vorgeführt.

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Vier Zweierpyramiden und ein darüber gespannter Körper bilden schließlich ein senkrecht aufgestelltes Orthogon, das ein Display andeuten könnte. Wir wissen nicht, ob die Körper ein Display bilden sollten. Im nächsten Augenblick war die artistische Figur schon wieder verschwunden, weil die Körper auseinander sprangen.

Torsten Flüh

Chamäleon
The Mirror
Hackesche Höfe
bis 7. Januar 2024
täglich außer montags.


[1] Zum Radio, Tonbandgerät und Wellen siehe auch: Torsten Flüh: Das Schicksal der Wellen. Zur Erforschung der Electronic Works von Éliane Radique bei MaerzMusik 2022. In: NIGHT OUT @ BERLIN 25. März 2022.

[2] Jacques Rancière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen, 2013, S. 147.

[3] Chamäleon: Pressemappe: The Mirror. Berlin, S. 5.

[4] DWDS: Artistik.

[5] Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 1751 — 1772 : ARTISTE.

[6] BKA: Cybergrooming.

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Tonsystem – Persien – Stimmung

Tongeschlechter und das Geschlecht der Musiker*innen

Zur Uraufführung von „My Persia“ von Wolfgang von Schweinitz und dem Triumph des Mābhānoo Ensembles beim Musikfest Berlin

Fast am Ende des Musikfestes Berlin spielte der Jahrestag der Proteste im Iran seit dem 16. September 2022 eine prominente Rolle. Der Kammermusiksaal war für das Konzert des Mābhānoo Ensembles nahezu ausverkauft. Vor dem Konzert waren im Foyer Paare in traditionellen persischen Gewändern und viele Exil-Iraner und -Iranerinnen zu sehen. Die Stimmung im Saal war angespannt. Als das Frauenensemble mit Ostād Majid Derakhshāni den Saal betrat und die Instrumente Oud, Kamāntsche, Daf, Tār und Qānun zu stimmen begann, rief ein Mann aus einer der obersten Reihen etwas auf Farsi in den Saal. Applaus kam aus einigen Ecken des Saals. Die Frau neben dem Mann versuchte, ihn zu beruhigen. In einer Pause musste der Mann den Saal verlassen.

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Am Tag zuvor war die Uraufführung von Wolfgang von Schweinitz‘ Plainsound Duo „My Persia“ op. 66 für Violine und Kontrabass mit Viertelton-Skondatur weitaus ruhiger verlaufen, obwohl es sich um eine noch nie gehörte Revolution in der westlichen wie der persischen Musik gehandelt hatte. Helge Slaato (Violine) und Frank Reinecke (Kontrabass) spielten das Stück in einer bitonalen Harmonik in traditionell persischen Spielweisen. Wolfgang von Schweinitz hat seine Komposition äußerst detailliert ausgearbeitet. Die Musik für die Tār wird auf Violine und Kontrabass transformiert. Den Komponisten interessierte bei dieser Transformation persischer Musik auf europäische Streichinstrumente die musiktheoretische Operation.

© Fabian Schellhorn

Wolfgang von Schweinitz‘ Persien verdankt sich seiner musiktheoretisch durchdachten Kompositionen, die dahingehen, dass der „Tonraum innerhalb einer Oktave weit feinere Abstufungen enthält, als uns die Klaviatur denken lässt“.[1] Der beigelegte „geänderte Ablauf“ gibt einen genaueren Einblick nicht nur in die Abfolge des Präludium und der 4 Sätze von My Persia, das Präludium ist auch genauer aufgeteilt: „Präludium – Kereshme – Darāmand Nr. 1 – Darāmand Nr. 2 – Naghme – Kereshme – Gushe-ye Tork – Chāhāmezrāb – Forud – Hasin – Forud – Hseyni – Kereshme – Āvāz – Kereshme“. Der Berichterstatter hat kaum eine Vorstellung, was „Kereshme“, das im Präludium vier Mal wiederholt wird, heißen könnte. Er könnte nicht einmal „Kereshme“ von „Forud“ oder „Hasin“ unterscheiden. Indessen würde er nach den beiden Persienkonzerten denken, dass es fast immer eine Art „Präludium“ auf der Tār gibt, wenn sie in einem Konzert gespielt wird. Der Übergang vom Stimmen des Instruments zum improvisierten Spielen erscheint ihm fließend.

© Fabian Schellhorn

My Persia mit seinen sehr feinen Abstufungen hat eine Spieldauer von ca. 37 Minuten mit kurzen Unterbrechungen zwischen den Sätzen. Die derart feinen Abstufungen von der Tār auf Violine und Kontrabass übertragen, bedürften eines eingeübten Gehörs. Da diese mit der Uraufführung allerdings zum ersten Mal überhaupt erklangen, blieben sie in gewisser Weise geheimnisvoll. Vielleicht erinnerten die Kompositionen am ehesten an Halim El-Dabh, dessen 100. Geburtstag 2021 durch MaerzMusik und Savvy Contemporary gefeiert wurde.[2] Obwohl Halim El-Dabh als einer der Pioniere der elektronischen Musik gilt, bewegten sich seine Musikforschungen zum Zār/ زار–Ritual in der klassischen Musikpraxis Persiens. Die Faszination des anderen Tonsystems für Wolfgang von Schweinitz, der am California Institute of the Arts bei seinem Kollegen Houman Pourmehdi persische Musiktheorie studierte, lässt sich nachvollziehen.

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Die persische Musiktheorie interessiert Wolfgang von Schweinitz nicht zuletzt deshalb, weil es sich „(t)echnisch gesehen (…) in der persischen Klassik um die pythagoreische Stimmung wie in der altgriechischen Musik“ handele, bei der „der Tonvorrat (…) auf reinen Quinten aufgebaut“ sei.[3] Damit bewegt sich von Schweinitz zugleich in einer „mikrotonalen Kompositionstechnik“.[4] Das Auftragswerk der Berliner Festspiele/Musikfest Berlin und der musica viva des Bayerischen Rundfunks bezeichnet von Schweinitz auch als ein „Riesenexperiment“. Es bedarf einer gewissen Liebe und Offenheit sich in das Stück hineinzuhören und hineinzudenken. Die Übertragungen aus der persischen Klassik als Praxis seiner Komposition beschreibt der Komponist genauer:
„Ich habe eine Aufnahme des gesamten Radifs von Shahnazi. Außerdem konnte ich zurückgreifen auf eine Transkription seiner Improvisation über das Tongeschlecht „Šur“, das an d-Moll erinnert aber eben in Vierteltönen. Der erste Satz ist ein ausgearbeitetes Arrangement davon. Das Spiel der Tār habe ich auf Kontrabass und Geige verteilt, beide zusammen habe ich mir als eine Art „Riesen-Tār“ gedacht.“[5]

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Die intensive Auseinandersetzung mit der persischen Klassik ist vor dem Hintergrund des islamistischen Regimes in Teheran von kulturpolitischer Tragweite. Musik gilt im fundamentalistischen Islam als unrein. Insofern bildet die Ausübung der klassischen, persischen Musik mit dem Saiteninstrument Tār in Persien seit dem 19. Jahrhundert eine kulturpolitische Opposition zum streng islamischen Regime. Für Wolfgang von Schweinitz ist seine Komposition eine „Emanzipation“ von der temperierten Stimmung in der europäischen Musik seit dem 17. Jahrhundert. So ist von Johann Sebastian Bach aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Das wohltemperierte Klavier als Sammlung von Präludien und Fugen bekannt. Temperierung heißt insofern eine Reinigung und Normalisierung des Tonraums. Wolfgang von Schweinitz befragt insoweit die vorherrschende Stimmungstradition.
„Es ist meine europäische Auseinandersetzung mit persischem Material und zugleich mein Beitrag zur Entwicklung einer nicht temperierten europäischen Vierteltonmusik.“[6]   

© Fabian Schellhorn

Im zweiten Teil des Abends spielten Majeed Qadianie auf der Tār und Setār sowie Niloufar Mohseni auf der Tombak Improvisationen über ausgewählte Dastgāhs des Radifs der klassischen persischen Kunstmusik. Im Unterschied zur ausgearbeiteten Komposition nach einem Notensystem entsteht die Improvisation aus der Praxis heraus. Die Modi (dastgāhs  دستگاه) des Spielens nach einer Abfolge oder Melodie (radif ردیف ) wird in der persischen Klassik traditionell mündlich weitergegeben. Der Unterschied zu von Schweinitz‘ Kompositionsverfahren, das auf einer „Aufnahme“ und einer „Transkription“ basiert, wird schnell deutlich. In der mündlichen Überlieferung der Musikpraxis schleichen sich immer auch, sagen wir, Spielräume jenseits einer Partitur ein. Anders gesagt: eine Kluft zwischen dem Schriftsystem der Partitur und der oral-praktischen Weitergabe hat durchaus Effekte auf die Musik. Für Majeed Qadianie hängt die Improvisation von den „Gefühlen der Zuhörer*innen (…), vom Licht im Saal, Faktoren wie diesen (ab)“.
„Wie im indischen Raga-System ist es in der persischen Musik so, dass die Dastgāhs bestimmten Tageszeiten zugeordnet sind, das werde ich auf jeden Fall beachten. Man wählt also für ein Abendkonzert eher eine melancholische Skala und nicht eine kräftige, die man eher am Vormittag spielen würde.“[7]

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Die Improvisation in der klassischen persischen Musik hängt von Stimmungen ab, die mit den Dastgāhs kombiniert werden und korrespondieren. Das Musikgeschehen wird quasi systematisch erweitert. Zwar kann man sagen, dass bei jedem Konzert in einem Musiksaal, vielleicht umso mehr dem Kammermusiksaal Gefühle und Konzentration der Zuhörer*innen immer eine Rolle spielen, aber nach Majeed Qadianie wird die Improvisation zu einer fein abgestimmten Kombinatorik, die das Musikereignis nicht nur rahmt, vielmehr wird sie zu einer atmosphärischen Abstimmung. Die Tombak ist in dieser Kombination nicht nur ein begleitendes Rhythmusinstrument, vielmehr entlockte Niloufar Mohseni ihr einen regelrechten Klangreichtum, der auf die Improvisation reagiert. Majeed Qadianie und Niloufar Mohseni kommunizierten miteinander über ihre Instrumente, was sehr reizvoll war.

© Fabian Schellhorn

Der zweite Persien-Abend beim Musikfest war wiederum mit dem Mābhānoo Ensemble unter der Leitung von Majid Derakhshāni anders gelagert. Meine Berliner Freund*innen Reza und Afsar verfolgen die Auftritte des Ensembles bereits seit geraumer Zeit auf YouTube. Am 16. September nahmen sie allerdings an einer Demonstration teil. Die bereits in der, wenn man es so sagen kann, Renaissance der persischen Klassik angelegte politische Tragweite, ist bei Majid Derakhshāni und dem Ensemble gänzlich aufgebrochen. Majid Derakshāni kombiniert die Instrumentalmusik mit klassischen Gedichten von Rumi und Hāfez sowie dem zeitgenössischen Dichter Gholāmreza Ghodsi (1925-1989). Es handelt sich hierbei also weniger um Improvisationen, sondern um Liedkompositionen und Arrangements. Zuvor hatte Majid Deragshāni mit Roshanak Rafāni Improvisationen auf Tār, Daf und Tombak gespielt. Am 27. September wird das Konzert im Prinzregententheater München im Rahmen der Konzertreihe musica viva des Bayrischen Rundfunks wiederholt.

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Ein Manko des Auftritts im Kammermusiksaal war, dass es keine Übersetzung der Gedichte gab, so dass der Berichterstatter zwar die Lieder hörte, sie allerdings nur nach der jeweiligen Stimmung erahnen konnte. Obwohl Majid Derakhshāni den Ehrentitel eines Ostād (Meister) in der klassischen persischen Musik trägt, erinnerten den Berichterstatter einige Elemente an den modernen Chanson bis zu Anklängen an Jacques Brel. Dass Majid Derakshani mit Mābhānoo ein Frauenensemble geformt hat, löste im Iran offenbar heftige Debatten aus. Wegen der Zusammenarbeit mit den Musikerinnen, die im Iran nicht öffentlich auftreten dürfen, wurde ihm ein Einreise- und Berufsverbot erteilt, so dass er mittlerweile in Hamburg leben muss. Der Musiker und Komponist begründet seine Zusammenarbeit mit der Geschichte der iranischen Musiktradition.
„Wir wissen (…) heute, dass es vor etwa 100 Jahren viele professionelle und virtuose Instrumentalistinnen und Sängerinnen gab. Doch sie trauten sich nicht, an die Öffentlichkeit zu gehen, weil es für Frauen als unmoralisch galt zu musizieren. … Das Singen ist für Frauen im Iran grundsätzlich verboten – es sei denn, die Frauenstimme verschwindet im Chor oder wird von einer Männerstimme übertönt. Deshalb gibt es im Iran keine öffentliche Bühne für Sängerinnen.“[8]

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Das Ensemble trat durch die Musikvideos Jane Ashegh und Hamcho khorshid vor 9 Jahren z. B. auf YouTube an die Öffentlichkeit. Die Frage des Geschlechts und seiner Zurichtung spielt im islamischen Iran eine entscheidende Rolle. Aus den Tiefen seiner Erinnerung weiß der Berichterstatter allerdings, dass es in den 70er Jahren bei den Berliner Philharmonikern heftige Widerstände gab, als Herbert von Karajan eine Musikerin ins Orchester aufnehmen wollte. Das Geschlecht spielte in europäischen Symphonieorchestern jahrhundertelang eine Rolle. Eine Geschichte zum Geschlecht der Orchestermusiker*innen in Europa ist bislang nicht erforscht und geschrieben worden. Erst letztes Jahr thematisierte Yannick Nézet-Séguin mit dem Philadelphia Orchestra überhaupt die Frage des Geschlechts in seiner der deutschen Sprache eigenen Mehrdeutigkeit beim Musikfest Berlin.[9] Der Auftritt von Majid Derakhshāni und dem Mābhānoo Ensemble beim Musikfest Berlin wurde zu einem Triumph.

Torsten Flüh


[1] Musikfest Berlin: Abendprogramm 15.9.2023: Persien I West-östliche Begegnung. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 6.

[2] Siehe: Torsten Flüh: حليم الضبع zum 100. Geburtstag verpasst. MaerzMusik 2021 erinnert mit Savvy Contemporary an Halim El-Dabh und das erste Stück der Elektronischen Musik. In: NIGHT OUT @ BERLIN 31. März 2021.

[3] Stefan Franzen: „Mir geht es um die Emanzipation der Konsonanzen“. Wolfgang von Schweinitz im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 7.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda S. 8.

[6] Ebenda S. 10.

[7] Stefan Franzen: Wie ein Teppich mit kleinen Webfehlern. Majeed Qadianie und Frank Reinecke im Gespräch. In: Musikfest Berlin: Abendprogramm … [wie Anm. 1] S. 18.

[8] Bahar Roshanai: Zwischentöne. Bahar Roshanai im Gespräch mit Majid Derakhshāni. In: Musikfest Berlin Abendprogramm 16.9.2023: Persien II Māhbānoo Ensemble. Berlin: Berliner Festspiele, 2023, S. 11.

[9] Torsten Flüh: Starke Geschlechter über Grenzen hinweg. Zum gefeierten Konzert des Philadelphia Orchestras mit Lisa Batiashvili unter der Leitung von Yannick Nézet-Séguin. In: NIGHT OUT @ BERLIN 6. September 2022.