Carmen, die Frau als „Sprachwesen“

Carmen – Jazz – Poesie 

Carmen, die Frau als „Sprachwesen“ 

Über CARMEN X CAGE von Aki Takase und Yoko Tawada im Japanisch-Deutschen Zentrum Berlin 

Das Japanisch-Deutsche Zentrum Berlin in der Saargemünder Straße an der Ecke zur Clayallee hatte am Dienstag zu einem fulminanten Jahresauftakt eingeladen. Berlins Free-Jazz-Königin Takase Aki (nach japanischer Namensfolge) mixte am Flügel Georges Bizets Oper Carmen über eine Arbeiterin in einer Zigarettenfabrik mit Jazz und eigenen Kompositionen. Shiota Chiharu hatte eine Bühneninstallation aus roten Plastik-Netzen ausgeworfen. Japanische Schnitt- und Netzkunst als Lebens- und Liebesgespinst. Nakamura Mayumi sang Carmens berühmte Arie vom rebellischen Vogel der Liebe leidenschaftlich. Daniel Erdmann färbte mit dem Saxophon den Sound jazzig ein und die Dichterin Tawada Yoko machte sich Gedanken über Carmens unzeitgemäßes Zigeunerinkostüm auf der Opernbühne in New York.


Aki Takases einzigartige Kombination aus Carmen, Free Jazz und John Cage begeisterte das Publikum außerordentlich. Am Schluss wurden Musiker*innen, Bildende Künstlerin und Dichterin vom Publikum stürmisch gefeiert. Die stellvertretende Generalsekretärin des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Kiyota Tokiko, verriet ebenso charmant wie geistreich in ihrer Begrüßung, dass der Abend auf eine Idee von Aki Takase (Berliner Jazzpreis 2018) zurück ging. Takase trat in einem exquisiten smaragdgrünen Seidentunika-Kleid auf die Bühne und verzauberte das Publikum vom ersten Anschlag an. Vor allem mit Chiharu Shiota, die 2018 mit dem Bühnenbild für Wagners Götterdämmerung ihre Bühneninstallationen für den Ring des Nibelungen an der Oper Kiel abgeschlossen hatte, und Yoko Tawada hatte sie zwei ebenfalls in Berlin lebende, hochkarätige Künstlerinnen für den Abend gewinnen können.

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Aki Takase und Yoko Tawada, die Jazz-Pianistin und die Poetin, entwickeln seit mehr als 15 Jahren zunächst mit Auftritten im b-flat Accoustic Music & Jazz Club, heute in der Dircksenstraße damals in der Rosenthaler Straße, eine besondere Jazz-Poesie. Seit über 40 Jahren steht die Jazzerin auf den internationalen Bühnen des Free-Jazz‘. Free-Jazz war immer auch eine hochintellektuelle Angelegenheit der musikalischen Kommunikation ohne vorgeschriebene Noten, Kreativität nach dem Gehör. Unter den Jazzern entfaltete sich ein musikalischer Diskurs der Anspielungen oft durch Schallplatten oder Radio verbreiteter Live-Giggs. Gehörtes wird angespielt und transformiert, moduliert und mit anderem kombiniert. Die Rolle der oft nur in geringen Stückzahlen gepressten Schallplatten und Radiosendungen am späten Abend nach der Prime Time für den Free-Jazz wird wahrscheinlich immer noch unterschätzt.

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Die Schallplatte und das Radio der 60er bis 90er Jahre waren für die Verbreitung des Free-Jazz strukturierend. Clubs, Radio und Schallplatte waren und sind heute teilweise noch die Medien, in denen der Free-Jazz nicht nur stattfindet, vielmehr entsteht er aus ihnen als Produktionsrahmen heraus. Reisen, sammeln und mitmachen haben ihn hervorgebracht. Regeln lassen sich für den Free-Jazz kaum formulieren, weil er aus einem einmaligen Prozess für einmal gemacht wird. Aki Takase hat sicher auch deshalb keinen Programmzettel für CARMEN X CAGE ausgearbeitet und verteilen lassen. Im Free-Jazz gab es nie ein Programm, weil man es im Jetzt machte. Der Free-Jazz im Club lässt sich nicht wiederholen, weil die Flüchtigkeit und die Einmaligkeit zu seinem Wesen gehören. So auch auf der Bühne des Japanisch-Deutschen Zentrums.

Landläufig wird von Improvisation als Merkmal des Free-Jazz gesprochen. Dabei handelt es sich um die Verneinung mit im des Vorhersehens von pro-videre. Die Aufführung lässt sich wie auf einem Programmzettel nicht vorhersehen oder voraussagen. Das erfordert eine gewisse Offenheit und Sensibilität von den Zuhörer*innen, vom Publikum. Denn der Sinn und Witz stellt sich allererst und nur für einmal aus der Folge der Klangereignisse aus Musikmaterial ein – oder auch nicht. Aki Takase und Daniel Erdmann spielen zum Beispiel die Habanera aus Bizets Carmen an, modulieren sie und Mayumi Nakamura stimmt in ihrem Auftritt auf die Bühne ihr Lied an: „Quand je vous aimerai? Ma foi, je ne sais pas, Peut-être jamais, peut-être demain…“ Der Auftritt wird ebenso improvisiert leicht, wie er eine genaue Abstimmung der Musiker*innen erfordert. Die Arie wird nicht einfach gesungen, um den Beifall zu ernten, vielmehr wird sie in den Prozess des Free-Jazz hineingezogen. Das verändert alles.

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Aki Takase nimmt die bekannte Arie der Carmen musikalisch auseinander und setzt ihr Klangmaterial anders zusammen. Die Opernfigur Carmen mit ihrem widerspenstigen Lied von der Liebe, die sich nicht bestimmen und bezähmen lassen will, wird nicht nur zu einer exotischen Sensation des 19. Jahrhunderts, sondern zu einem Nachspielendenken der Frau und ihrer Gefühle. Die Kombination von Habanera als einem spanischen Tanz aus Havanna auf Kuba nach dem Hit El arregelito von Sebastián de Yradier mit der Zigeunerin Carmen macht diese auf zweifache Weise zur exotischen Attraktion. Die Herkunft des Liedes aus der Karibik wie die nomadische Herkunft der Zigeunerin als Fabrikarbeiterin am Rande der Moralvorstellungen machen Carmen ebenso begehrenswert wie verfügbar. Das exotische Klangmaterial macht sie besonders erotisch. Sie wird eine umherschweifende Fremde in Europa mit dem fernen Klang der Karibik. 

Die Frau, die Carmen genannt und als Begehrensobjekt konstruiert wird, interessiert Aki Takase, die sich als Frau und Japanerin in den New Yorker Jazz-Clubs, soll man sagen, durchboxte, besonders. Die Jazz-Pianistin Takase hat sich in einer Zeit zielstrebig und musikalisch exzellent trainiert durchgesetzt, als die Club-Szene von weißen und farbigen Männern dominiert wurde.[1] Bizets musikalische Exotik-Konstruktion Carmen im Zeitalter der Industrialisierung und industriellen Disziplinierung von Arbeitern wie Frauen musste die Jazz-Pianistin eigentlich irgendwann zur Arbeit mit dem Klangmaterial anregen. Was funktioniert bei Bizet mit und in der Musik, das für die intellektuelle Pianistin bereits bei der Entdeckung des Free-Jazz um 1978 als Frau nicht gelten konnte? Die nomadisierende, freiheitsliebende Frau muss sich in der Fabrik zu Zigarettenherstellung nicht zuletzt dem Zeitregime der industriellen Produktion unterwerfen.

Für die klassisch ausgebildete Pianistin war der Jazz ein Freiheitsversprechen, das wohl erst später und jetzt mit dem musikalischen Hintergrund von Kolonialismus, Industrialisierung und Exotismus der Carmen kollidierte. Aki Takase spielt am Piano kraftvoll und nuancenreich. Sie wirkt klassisch weiblich gekleidet mit dem smaragdgrünen Kleid und stampft den Takt kraftvoll auf das Bühnenpodium. Die Oper weht über die Bühne und wird in Jazz verwandelt. Ohne Programmzettel lässt sich sehr viel mehr nachhören als nur die Rhythmen und Melodien aus der Opernwelt. – Am 23. Januar wird sie mit Yoko Tawada im Maison Heinrich Heine in Paris auftreten. Mit ihrer neuen Band Japanic tourt sie demnächst durch Deutschland. Für November 2019 sind Auftritte mit Yoko Tawada an der Waseda Universität in Tokio fest eingeplant.

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Yoko Tawada hat sich ebenfalls auf Carmen und ihre Erzählung eingelassen. Das ist eine hervorragende Ergänzung zum ersten Teil des Abends, der gewiss auch an anderen Orten begeistern kann. Für die vielfach mit japanischen und deutschen Literaturpreisen ausgezeichnete Dichterin ist Carmen wie jeder „Mensch ein Sprachwesen“.[2] Beispielsweise könnte man in Bezug auf den ersten Teil und die spanisch-kubanische Habanera sagen, dass sie ein Wesen der Musiksprache ist. Und die ist vor allem exotisch, fern- und fremdländisch wie auf den Zuckerrohrplantagen Kubas etwa. Onomatologisch wird allerdings von Prosper Mérimée, der bereits 1847 seine Novelle Carmen veröffentlichte, mit der lateinischen Herkunft des Substantivs carmen als Liedgesang, Zauberdichtung, Orakelspruch eine Nähe zur Zauberei hergestellt. 

„… Als Carmen ihre Arie zu singen beginnt, achtet niemand mehr auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Alle Zuschauer geraten in den Sog der gewaltigen Melodieschraube.

Unter dieser Diktatur der Leidenschaft vermisse ich plötzlich den Archäologen, die Erzählerfigur in Prosper Mérimées Novelle „Carmen“. Georges Bizet benutzte sie als Grundlage für seine Oper, dabei ließ er den Archäologen verschwinden.“[3]    

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Die poetische Verdichtung von Carmen durch Yoko Tawada setzt beim Besuch einer Opernaufführung an der New Yorker Met an, in der die Titelfigur als „Zigeunerin aus einem Bilderbuch“ auftritt und dadurch keinerlei Ähnlichkeit einer „Roma-Frau“ im heutigen Europa mehr hat. Carmen an der Met ist Bilderbuch und Märchenstunde, was die hartnäckige Sprachwesenheit der Oper unterstreicht. Vielleicht ist in der regietheaterfreien Opernwelt Großbritanniens und Amerikas der Mythos Oper nachhaltiger als in Europa und Deutschland. Tawadas Dichtkunst zeitigt bei der Carmen-Lektüre ebenso genaue wie witzige Effekte. 

„Welche Frau außer Carmen ist schon fähig, Baskisch für ihre Verführungskunst einzusetzen, wenn es nicht zufällig ihre Muttersprache ist? Es gibt einen Witz, der zeigt, wie schwer erlernbar diese Sprache ist: Der Teufel versuchte Baskisch zu lernen, damit er den Basken Bescheid sagen kann, wer zur Hölle geht. Er versuchte es sieben Jahre lang und schaffte es nicht. Deshalb fährt kein Baske zur Hölle.“[4]

Erstaunlicher Weise ist Carmen heute so etwas wie eine globale Opernfigur von einem französischen Schriftsteller und einem französischen Komponisten, die eine Frau im andalusischen Sevilla, wo eigentlich der Flamenco herkommt, mit baskischem Akzent sprechen lassen und als Zigeunerin ausweisen, weil sie eine karibisch-spanische Melodie singt. Japanische, englische, tschechische, chinesische, koreanische, russische, amerikanische, französische, italienische und polnische etc. Opernsängerinnen, Mezzosopranistinnen, üben und singen heute leidenschaftlich die Rolle der Carmen, um ihre Karriere zu krönen. Yoko Tawada stellt überraschende literarische und sprachliche Bezüge der Opernfigur her: 

„Carmen ist nicht nur polyglott, sondern auch eine tüchtige Geschäftsfrau, die stets Informationen sammelt, günstige Kontakte herstellt, Mitarbeiter motiviert und die gelagerten Waren im richtigen Zeitpunkt an den richtigen Kunden verkauft. Wäre sie damals als Sohn der Familie Buddenbrook in Lübeck geboren, wäre sie sicher zu einem guten Kaufmann ausgebildet worden und niemand hätte ihre Geschäfte als illegal bezeichnet.

Außer Spanisch, Baskisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Arabisch spricht Carmen natürlich die Sprache der Roma, die mit dem Sanskrit verwandt ist, genau wie Deutsch. Wenn sie heute leben würde, wäre sie eine EU-Bürgerin.“[5]

Die Kreise, Geflechte und Schleppen, die die ebenfalls in Berlin lebende bildende Künstlerin Chiharu Shiota mit einer roten Plastikfolie geschnitten, gefaltet und gehängt hat, wird ebenso ästhetisch wie praktisch eingesetzt. Unversehens reißt Mayumi Nakamura als Carmen ein Stück Geflecht ab, um es wie einen Schal lässig in der Hand zu halten. Chiharu Shiota hat sich mit ihren Installationen auf der Opernbühne, im Konzertsaal oder in Ausstellungen international einen Namen gemacht. Sie arbeitet überwiegend mit großen Netzen, die ganze Räume wie in der Nikolaikirche Berlin 2017 mit Lost Words in tunnel- oder höhlenartige Gebilde verwandeln. Auf der Bühne des Japanisch-Deutschen Zentrums ist die Installation eher flächig. Besonders die unterschiedlichen Strukturen faszinieren und am Schluss werden nicht nur Tennisbälle von Yoko Tawada in den Konzertflügel geworfen, sondern das rote Geflecht flattert und bläht sich in einem Luftschwall aus einer unsichtbaren Windmaschine.

Die Poesie kommt nicht nur mit dem fast schon stürmisch bewegten Geflecht zum Zuge, sie wird von Aki Takase und Yoko Tawada mit John Cage in sekundenschnellen Wort- und Sprachkombinationen aus Englisch, Deutsch und Japanisch generiert. Die Geflechte von Chiharu Shiota sind ebenso existenziell wie die kurzen Sprach-Klang-Geflechte, die Takase und Tawada produzieren. John Cage wird der Meister der „Komposition als Prozess“.[6] Chiharu Shiota hat bei Rebecca Horn und Marina Abramovic studiert. Die Geflechte sind keinesfalls nur dekorativ, vielmehr haben sie die Kraft, die Bedeutung des Lebens und des Todes aufzurufen oder heraufzubeschwören, wie es die Künstlerin anlässlich ihrer Ausstellung im südaustralischen Adelaide formuliert hat.[7] Die Poesie stellt sich mit der Abweichung als ein unfassbares Mehr ein. – Oder auch mit einer witzigen Sprachoperation von Yoko Tawada: 

„Auf der Hand Stürmischer Beifall schreiben und dem Dirigenten zuwerfen.“


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Stürmischen Beifall gab es dann allerdings nicht nur in die Hand geschrieben und den Künstler*innen zugeworfen, sondern durch das rasante Klatschen der Publikumshände, nachdem sich auch noch die Jazz-Legende Alexander von Schlippenbach neben Aki Takase auf die Klavierbank gesetzt hatte, um das Tempo für Ein Gedicht mit Stoppuhr von Yoko Tawada zu beschleunigen, während Tennisbälle auf den Saiten des Flügels hüpften und das rote Geflecht an der Halterung zerrte. 

Torsten Flüh    

Aki Takase 

weitere Konzerte 

Yoko Tawada 

weitere Lesungen und Auftritte 

Chiharu Shiota 

nächste Ausstellung 

100 Jahre Revolution – Berlin 1918/19 

Februar 2019 – 2. März 2019

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[1] Vgl. dazu auch: Torsten Flüh: Berlins heimliche Free-Jazz-Königin sprengt Sendesaal. Aki Takases fulminantes Berliner Jazz-Preisträgerinkonzert im Kleinen Sendesaal des rbb. In: NIGHT OUT @ BERLIN 1. Juli 2018 16:35.

[2] Yoko Tawada: Über Carmen. (Unveröffentlichtes Manuskript 2019)

[3] Ebenda.

[4] Ebenda.

[5] Ebenda.

[6] Zu John Cage bei Yoko Tawada vgl. auch: Torsten Flüh: „Ich lasse mich gerne atmen durch eine andere Sprache“. Yoko Tawada liest neue „Überseezungen“ mit Naomi Sato an der 笙 (shō) im Haus für Poesie. In: NIGHT OUT @ BERLIN 18. Februar 2018 23:05.

[7] Patrick McDonald: Japanese installation artist Chiharu Shiota weaves a tangled web at Art Gallery of South Australia. In: The Advertiser August 23, 2018 6:48am.

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